Foto: Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung
Alle Beratungen, die wir sonst durchführen, finden immer „face-to-face“, also im direkten persönlichen Kontakt mit den Klient*innen statt. Die Corona-Maßnahmen waren hier ein echter Einschnitt. Wir mussten uns von Grund auf neu orientieren und organisieren, denn unsere oberste Priorität war, das Beratungsangebot für die Frauen auf und gleichzeitig die Gesundheit unserer Beraterinnen zu schützen. Die Pflichtberatungen, wie auch die psychologischen und sozialen Beratungen, wurden deshalb vorwiegend telefonisch durchgeführt. Aber wir bieten auch immer noch persönliche Treffen an, wenn es nötig und gewünscht ist – eine gehörlose Frau kann nicht am Telefon beraten werden. Gruppenveranstaltungen waren natürlich nicht mehr möglich. So mussten wir immer wieder auf neue Maßnahmen und Verordnungen reagieren – aber wir haben es geschafft: Unser Angebot war durchgängig zugänglich. Für uns stand nie zur Debatte, dass wir die Beratungsstelle schließen.
Hier wurde sehr schnell reagiert. Bereits am 26. März hatte die Bundesfamilienministerin Giffey verkündet, dass das Beratungsangebot für Frauen weiter zugänglich bleiben muss. Um gleichzeitig den Schutz der Frauen und der Beraterinnen zu gewährleisten, wurde die Umstellung auf Telefonberatung möglich gemacht. Gerade zu Beginn gab es noch viele Unsicherheiten, aber wir waren immer in sehr engem Austausch mit den anderen Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen des Paritätischen Dachverbandes und mit der Senatsverwaltung.
Dennoch denke ich, dass die Defizite, die es schon immer gibt, jetzt nochmal klarer und schärfer zu Tage gekommen sind. Wo bekommen denn Frauen Informationen über Ärzt*innen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen? Besonders in Gegenden, wo es ohnehin schon weniger Mediziner*innen gibt, die diese anbieten, hat sich die Versorgungslage durch Corona noch einmal verschlechtert: Fehlende Schutzkleidung hat zum Beispiel das Carl-von-Basedow-Klinikum im Saalekreis zu Beginn der Pandemie bewogen, keine Abbrüche mehr anzubieten. Wie Profamilia in Ostbayern berichtete, hat ein Mediziner aufgrund der Corona-Krisensituation jetzt seine Praxis schließen müssen. Er war einer der wenigen Ärzte, der in der Region noch Schwangerschaftsabbrüche angeboten hatte.
Viele waren natürlich verunsichert. Frauen, die sich in der Situation eines Schwangerschaftsabbruches befinden, müssen so viel Termine im Kopf haben. Jetzt war natürlich die Frage: Wie bekomme ich einen Beratungsschein? Hat die Arztpraxis überhaupt noch auf? Was ist mit der Kostenerstattung der Krankenkassen? Aber gerade hier in Berlin hat das alles gut funktioniert: Alle Beratungsstellen, mit denen wir in Kontakt sind, waren geöffnet und auch die Arztpraxen haben weitergearbeitet. Im ländlichen Raum ist die Situation, wie gesagt, oft schwieriger.
Im Gespräch mit den Frauen wurde nur sehr selten die aktuelle Situation um das Coronavirus oder überhaupt die globale oder politische Lage als Auslöser für einen Schwangerschaftsabbruch genannt. In den allermeisten Fällen sind es immer noch sehr individuelle Gründe, wie partnerschaftliche Probleme oder eine wirtschaftliche Schieflage – die natürlich in vielen Fällen durch die Krise verschärft wurden.
Ja, die Gefahr sehe ich. Viele wichtige Angebote können wir zurzeit einfach nicht anbieten. Zum Beispiel finden die sexualpädagogischen Präventionsveranstaltungen in Schulen seit Monaten nicht statt. Gleichzeitig bekämpfen auch in Zeiten von Corona fundamentalistisch-religiöse und reaktionäre Gruppen weiter die Rechte der Frauen. Wir müssen auch jetzt wachsam und solidarisch sein und diese Rechte verteidigen! Dazu gehört Aufklärung in Schulen von Anfang an, individuelle Stärkung der Frauen in den Beratungen, Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung und Aktionen wie zum Beispiel die #unteilbar-Demonstrationen.
Am 19. September 2020 steht der Aktionstag vom Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung an. Wir müssen uns einbringen, damit die Politik endlich aufmerksam wird auf diesen langen Kampf und unsere Forderungen hört: Streichung des Paragraphen 219 StGB und eine bessere Förderung und Entlastung von Familien. Es hat sich gezeigt, dass Frauen von dieser Krise viel stärker betroffen sind und die Belastungen viel mehr an ihnen hängen bleiben. Das muss sich ändern.
Das Interview führte Till Eichenauer.
Weiterlesen? Die vollständige Ausgabe gibt es (in geringer Auflösung) hier zum kostenlosen Download. Wer diesseits als Printmagazin oder im Abo lesen möchte, sendet einfach eine Anfrage an abo@diesseits.de.