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Geschichtliche Wurzeln

Lebenskundeunterricht: Vom Jugendunterricht zur Lebenskunde

Postkarte einer Jugendweihe der Berliner Freireligiösen Gemeinde (Archivbild)
Postkarte einer Jugendweihe der Berliner Freireligiösen Gemeinde (Archivbild)

Beitragsbild: Archiv Freigeistige Gemeinschaft Berlin e.V. gegr. 1845 | Freireligiöse Gemeinde

Lebenskundeunterricht ist mittlerweile vor allem in Berlin ein Erfolgsmodell. Seine Wurzeln reichen bis ins Ende des 19. Jahrhunderts.

Eine der Wur­zeln der Lebens­kun­de bil­de­te der Jugend­un­ter­richt der Ber­li­ner Frei­re­li­giö­sen, ein frü­her Ver­such, eine welt­li­che Alter­na­ti­ve zum Reli­gi­ons­un­ter­richt zu ent­wi­ckeln. Wie spä­ter in den 1920er und auch noch in den 1950er Jah­ren stie­ßen damals die­se Bestre­bun­gen auf den erbit­ter­ten Wider­stand kirch­li­cher und kon­ser­va­ti­ver Krei­se.

Die­ser Kon­flikt begann in Deutsch­land im Gefol­ge der beschleu­nig­ten Indus­tria­li­sie­rung seit den sieb­zi­ger Jah­ren des 19. Jahr­hun­derts. Der Ein­fluss der Arbei­ter­be­we­gung wuchs, was auch dazu führ­te, dass die in ihrem Rah­men ent­wi­ckel­ten reli­gi­ons­kri­ti­schen Posi­tio­nen an Bedeu­tung gewan­nen. Weil das die Mög­lich­keit eröff­ne­te, ihre Kin­der vom Reli­gi­ons­un­ter­richt abzu­mel­den, schlos­sen sich vie­le athe­is­tisch ein­ge­stell­te Arbei­ter­fa­mi­li­en den Frei­re­li­giö­sen Gemein­den an, die sich zunächst als „undog­ma­tisch-christ­lich“ begrif­fen. Die Ber­li­ner Frei­re­li­giö­se Gemein­de geriet so nach und nach unter sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Ein­fluss und ent­wi­ckel­te sich in eine athe­is­ti­sche Rich­tung.

Ab 1859 hat­te die preu­ßi­sche Regie­rung den Frei­re­li­giö­sen Gemein­den die Reli­gi­ons­frei­heit zuge­stan­den und der Befrei­ung ihrer Kin­der vom Reli­gi­ons­un­ter­richt unter der Vor­aus­set­zung zuge­stimmt, dass sie ander­wei­ti­gen Unter­richt in reli­giö­sen Ange­le­gen­hei­ten erhiel­ten. Im Zuge des Kul­tur­kampfs, in dem der Staat eini­ge Pri­vi­le­gi­en der Kir­chen abbau­te, ergin­gen in den Jah­ren 1872, 1875 und 1877 drei Minis­te­ri­al­erlas­se, die eine bedin­gungs­lo­se Befrei­ung vom Reli­gi­ons­un­ter­richt für Kin­der ermög­lich­ten, deren Eltern in rechts­gül­ti­ger Form aus der Lan­des­kir­che aus­ge­tre­ten waren.

In dem Maße, in dem der sozi­al­de­mo­kra­tisch-athe­is­ti­sche Ein­fluss in der Ber­li­ner Gemein­de zunahm, ent­wi­ckel­te sich deren Jugend­un­ter­richt zu einem nicht-reli­giö­sen Welt­an­schau­ungs­un­ter­richt. Kin­der vom ach­ten bis zum 14. Lebens­jahr hat­ten die Mög­lich­keit, eine Stun­de in der Woche an die­sen Jugend­un­ter­wei­sun­gen teil­zu­neh­men. Die­ser Unter­richt bil­de­te die Vor­aus­set­zung zur Teil­nah­me an der von der Gemein­de durch­ge­führ­ten Jugend­wei­he.

Bild: Archiv Frei­geis­ti­ge Gemein­schaft Ber­lin e.V. gegr. 1845 | Frei­re­li­giö­se Gemein­de
Bru­no Wil­le (links im Bild, 1860–1928) war Jugend­leh­rer der Frei­re­li­giö­sen Gemein­de Ber­lin und phi­lo­so­phi­scher Schrift­stel­ler. Er war dem Dra­ma­ti­ker Ger­hart Haupt­mann (rechts) freund­schaft­lich ver­bun­den.

Die sozi­al­de­mo­kra­tisch ori­en­tier­ten Jugendlehrer*innen der Gemein­de, Fritz Kun­ert, Ewald Vogt­herr, Bru­no Wil­le und Ida Alt­mann-Bronn trie­ben die inhalt­li­che Aus­ge­stal­tung des Jugend­un­ter­richts im Sin­ne eines umfas­sen­den welt­an­schau­li­chen Faches vor­an. Wil­les 1891/92 vor­ge­leg­tes drei­bän­di­ges Lehr­buch für den Jugend­un­ter­richt frei­er Gemein­den ent­hält reli­gi­ons­kund­li­che, kul­tur­ge­schicht­li­che, phi­lo­so­phi­sche, his­to­ri­sche und natur­wis­sen­schaft­li­che Tei­le. Wil­le bezeich­ne­te sein Werk als „Mate­ri­al zur Bil­dung eines selb­stän­di­gen Urteils”. Die Jugend­li­chen soll­ten zu eige­nem Nach­den­ken ange­regt und befä­higt wer­den, eige­ne Ent­schei­dun­gen und mora­li­sche Wer­tun­gen zu tref­fen sowie sozia­le Kom­pe­tenz zu ent­wi­ckeln. Ihren Jugend­un­ter­richt beschrieb die Gemein­de in einem Flug­blatt vom Novem­ber 1889 fol­gen­der­ma­ßen: „Befrei­ung von jeg­li­chem Wahn und Aber­glau­ben, Hebung des all­ge­mei­nen sitt­li­chen Bewusst­seins und des Pflicht­ge­fühls im Beson­de­ren, das sind die Zie­le – und frei­es ver­nünf­ti­ges Den­ken, die Geschich­te und die Bei­spie­le aller Edel­ta­ten der Mensch­heit und end­lich die Wer­ke aller For­scher und Den­ker, das sind die Lehr- und Hilfs­mit­tel!”

Bild: Archiv Frei­geis­ti­ge Gemein­schaft Ber­lin e.V. gegr. 1845 | Frei­re­li­giö­se Gemein­de
Ida Alt­mann-Bronn (1862–1935) war eine deut­sche Gewerk­schaf­te­rin, Akteu­rin der pro­le­ta­ri­schen Frau­en­be­we­gung und eine äußerst enga­gier­te und cha­ris­ma­ti­sche Jugend­leh­re­rin der Frei­re­li­giö­sen Gemein­de.

In die­sem Sin­ne agier­te auch Ida Alt­mann-Bronn mit ihren 1895 ent­stan­de­nen „15 Leit­sät­zen für einen Jugend­un­ter­richt in Frei­re­li­giö­sen Gemein­den“. Immer kla­rer ent­wi­ckel­te sich im Rah­men der Jugend­un­ter­wei­sun­gen der Frei­re­li­giö­sen Gemein­de das Kon­zept für einen welt­lich ori­en­tier­ten Ethik­un­ter­richt, wie er dann spä­ter in Form des Lebens­kun­de­un­ter­richts prak­ti­ziert wur­de. Es ziel­te dar­auf, die Kin­der und Jugend­li­chen wirk­lich­keits­nah ins Leben ein­zu­füh­ren und dabei die Moral­pre­digt zu ver­mei­den. Statt­des­sen soll­ten ethi­sche Pro­ble­me anhand von Geschich­ten aus dem All­tag erläu­tert und dis­ku­tiert wer­den. Nicht Ide­al­bil­der soll­ten gezeich­net oder Patent­lö­sun­gen ver­mit­telt wer­den, son­dern die Viel­fäl­tig­keit und Wider­sprüch­lich­keit des Lebens begreif­lich gemacht wer­den. Glau­ben durch Den­ken zu erset­zen, bil­de­te den Grund­satz. Die Kin­der zum selb­stän­di­gen Den­ken anzu­re­gen und ihnen zu ver­mit­teln, wie man Pro­ble­me und Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten mit Hil­fe von Dis­kus­sio­nen löst, stand im Mit­tel­punkt die­ser Bestre­bun­gen.

Als Reak­ti­on auf die­se Ent­wick­lung mehr­ten sich For­de­run­gen von kon­ser­va­ti­ver Sei­te, die­sen aus ihrer Sicht gott­lo­sen und staats­feind­li­chen Umtrie­ben den Boden zu ent­zie­hen. Als ers­ten Schritt wider­rie­fen die preu­ßi­schen Behör­den im Novem­ber 1888 die der Gemein­de 1874 erteil­te Erlaub­nis, Schul­räu­me für ihren Unter­richt zu nut­zen. Da der Jugend­un­ter­richt der Frei­re­li­giö­sen Gemein­de den staat­li­chen Kri­te­ri­en, die ver­lang­ten, dass neben der Got­ter­kennt­nis auch die Lie­be zu Kai­ser und Vater­land zu ver­mit­teln sei, nicht ent­sprach, lehn­ten es die Schul­auf­sichts­be­hör­den außer­dem nun­mehr ab, Befrei­un­gen vom Reli­gi­ons­un­ter­richt zu ertei­len. Gegen Eltern, die ihre Kin­der des­sen unge­ach­tet nicht in den Reli­gi­ons­un­ter­richt schick­ten, ergin­gen in der Fol­ge Straf­be­feh­le. Den­noch erleb­te der Jugend­un­ter­richt der Ber­li­ner Gemein­de in die­ser Zeit einen gro­ßen Auf­schwung. 1887 hat­ten ihn rund 150 Kin­der und Jugend­li­che besucht. Sechs Jah­re spä­ter waren es bereits über 500. Ver­mut­lich hat­te der Zwang, den Reli­gi­ons­un­ter­richt besu­chen zu müs­sen, zu die­ser Stei­ge­rung bei­getra­gen. Offen­bar betrach­te­ten vie­le Eltern den Jugend­un­ter­richt der Gemein­de als not­wen­di­ges Gegen­stück zur christ­lich-reli­giö­sen Beein­flus­sung ihrer Kin­der in der Schu­le. Jedoch gerie­ten sowohl die dis­si­den­ti­schen Eltern als auch die frei­re­li­giö­se Gemein­de wei­ter unter den Druck des preu­ßi­schen Staa­tes.

Ab 1893 setz­te die Schul­auf­sichts­be­hör­de immer wie­der Unter­richts­ver­bo­te gegen die Jugendlehrer*innen durch. Wegen Zuwi­der­hand­lun­gen ver­häng­te die Jus­tiz Geld­stra­fen und Haft. Schließ­lich sah sich die Gemein­de gezwun­gen, den Jugend­un­ter­richt ein­zu­stel­len. Erst im Mai 1918 erhielt die Ber­li­ner Frei­re­li­giö­se Gemein­de wie­der die Erlaub­nis, ihren „Unter­richt in Lebens- und Gemein­schafts­kun­de sowie Reli­gi­ons­ge­schich­te” für kon­fes­si­ons­lo­se Kin­der zu ertei­len. Als der Unter­richt schließ­lich im Janu­ar 1919 wie­der begann, war die­se Geneh­mi­gung durch die Novem­ber­re­vo­lu­ti­on bereits obso­let gewor­den.

Mit der Novem­ber­re­vo­lu­ti­on hoff­ten die an gesell­schaft­li­chen Refor­men Inter­es­sier­ten, dass nun auch im Schul­we­sen durch­grei­fen­de Ände­run­gen ein­tre­ten wür­den. Jedoch zeig­te sich schnell, dass Macht und Ein­fluss der kon­ser­va­ti­ven und kle­ri­ka­len Kräf­te viel stär­ker waren, als es in der revo­lu­tio­nä­ren Situa­ti­on des Novem­ber 1918 den Anschein hat­te. Dass die SPD auf ihre ursprüng­li­che For­de­rung nach der Tren­nung von Schu­le und Kir­che ver­zich­te­te, war das Ergeb­nis der poli­ti­schen Kon­stel­la­tio­nen in Preu­ßen und im Reich nach den Wah­len vom Janu­ar 1919. Die SPD war auf Koali­ti­ons­part­ner ange­wie­sen und ohne­hin auf brei­ten gesell­schaft­li­chen Kon­sens ori­en­tiert. Ent­spre­chend gelang es der an der Regie­rung betei­lig­ten katho­li­schen Zen­trums­par­tei sich mit Erfolg für den Erhalt der kon­fes­sio­nel­len Schu­len ein­zu­set­zen.

Damit blieb der Reli­gi­ons­un­ter­richt ordent­li­ches Lehr­fach und unter der Kon­trol­le der Kir­chen. Umso dring­li­cher erschien es nun, eine welt­lich aus­ge­rich­te­te Alter­na­ti­ve ein­zu­füh­ren. Die frei­re­li­giö­sen Gemein­den gehör­ten zu jenen Kräf­ten, die sich ener­gisch für eine sol­che Lösung ein­setz­ten. Sie argu­men­tier­ten, dass die bestehen­den christ­li­chen Kon­fes­si­ons­schu­len den Anfor­de­run­gen einer moder­nen ethi­schen Erzie­hung nicht genüg­ten. In einer Ein­ga­be an den preu­ßi­schen Kul­tus­mi­nis­ter schrieb der Vor­stand der Arbeits­ge­mein­schaft der frei­geis­ti­gen Ver­bän­de Düs­sel­dorfs am 31. März 1919: „Die Not­wen­dig­keit eines beson­de­ren Moral­un­ter­rich­tes scheint uns unbe­streit­bar, solan­ge nicht der Gesamt­un­ter­richt auf die sitt­li­che Wil­lens­bil­dung und Schaf­fung ethi­scher Gesin­nung bei Kin­dern auf der Grund­la­ge einer all­ge­mein aner­kann­ten, natür­li­chen Moral ein­ge­stellt ist.“ 

Ent­spre­chend star­te­ten die frei­den­ke­risch ori­en­tier­ten Kräf­te über­all dort, wo sie in den Arbei­ter­par­tei­en über Ein­fluss ver­füg­ten, eine Kam­pa­gne für eine Alter­na­ti­ve zum Reli­gi­ons­un­ter­richt. Bereits ab dem Som­mer 1919 hat­te in Adlers­hof (damals noch Vor­ort von Ber­lin) eine von SPD, USPD und KPD gemein­sam getra­ge­ne Initia­ti­ve unent­gelt­li­chen „Unter­richt in Reli­gi­ons­ge­schich­te und Lebens­kun­de (Moral­un­ter­richt)“ ange­bo­ten. Gleich­zei­tig warb sie mas­siv für die Abmel­dung der Kin­der vom Reli­gi­ons­un­ter­richt. Damit war sie bei den Eltern von über 500 Kin­dern erfolg­reich. Die­se hohe Anzahl von Kin­dern, die dem Reli­gi­ons­un­ter­richt fern­blie­ben, der damals vier Wochen­stun­den umfass­te, führ­te dazu, dass im Mai 1920 in Adlers­hof eine eige­ne Schu­le für die­se Kin­der ein­ge­rich­tet wer­den muss­te. So ent­stand aus eher prag­ma­ti­schen Grün­den die ers­te, offi­zi­ell Sam­mel­schu­le genann­te, welt­li­che Schu­le.

Den Plä­nen, Reli­gi­on auf Wunsch der Eltern durch Lebens­kun­de zu erset­zen, öff­ne­te sich der preu­ßi­sche Kul­tus­mi­nis­ter Kon­rad Hae­nisch (SPD) im Janu­ar 1920. Sein Minis­te­ri­um erteil­te den Gemein­den, die ent­spre­chen­de Anträ­ge gestellt hat­ten, die Geneh­mi­gung, einen sol­chen Unter­richt zu orga­ni­sie­ren, sofern die­ser für alle Betei­lig­ten auf frei­wil­li­ger Grund­la­ge statt­fin­de. Dar­auf­hin beschloss der Magis­trat der damals noch selb­stän­di­gen Stadt Ber­lin-Lich­ten­berg, zum neu­en Schul­jah­res­be­ginn einen Unter­richt in „sitt­li­cher Lebens­kun­de” ein­zu­rich­ten. Die­ser fand par­al­lel zu den Reli­gi­ons­stun­den statt. Die Mit­tel, um die Leh­rer zu bezah­len, die die­sen Unter­richt zusätz­lich zu ihrem Stun­den­de­pu­tat erteil­ten, stell­te die Stadt­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung zur Ver­fü­gung. Als des­sen Zie­le benann­te der Magis­trat: „In die­sem Unter­richt soll die Erzie­hung zur sitt­li­chen Per­sön­lich­keit, deren Pfle­ge eigent­lich Gegen­stand jedes Unter­richts­ge­bie­tes sein muss, im Mit­tel­punkt ste­hen, Fra­gen des reli­giö­sen Lebens und der Reli­gi­ons­ge­schich­te sol­len von einem frei­en, beson­ders von kon­fes­sio­nel­len Anschau­ungs­wei­sen völ­lig unbe­ein­fluss­ten Gesichts­punk­te behan­delt wer­den.”

Damit begann im April 1920 in Lich­ten­berg und wohl auch noch in eini­gen ande­ren dama­li­gen Vor­ort­ge­mein­den, die Geschich­te von Lebens­kun­de als Schul­fach in Ber­lin. Der poli­ti­sche Kampf der Frei­re­li­giö­sen Gemein­de für die Mög­lich­keit, nicht am Reli­gi­ons­un­ter­richt teil­zu­neh­men, hat­te dafür wesent­li­che Vor­aus­set­zun­gen geschaf­fen. Und nicht zuletzt bil­de­ten die von der Gemein­de erar­bei­te­ten Cur­ri­cu­la für die­se Neu­kon­struk­ti­on eines Schul­fachs eine wich­ti­ge Grund­la­ge.

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