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Erklärung von Andrew Copson

Zu den Morden in Nizza am 29. Oktober 2020: „Wir dürfen niemals die Opfer beschuldigen”

Französische Flagge
Erklärung von Andrew Copson, dem Geschäftsführer von Humanists UK und Präsident von Humanists International, zu den Morden in Nizza am 29. Oktober 2020. Die Erklärung erschien auf Englisch auf der Seite unserer Partnerorganisation Humanists UK und wurde von uns leicht überarbeitet ins Deutsche übersetzt.

Am 29. Okto­ber wur­den in Frank­reich drei Zivi­lis­ten von einem isla­mi­schen Extre­mis­ten ermor­det – ersto­chen und ent­haup­tet. Es war eine scho­ckie­ren­de und ver­ab­scheu­ungs­wür­di­ge Tat, aber kei­ne iso­lier­te. Die Tat wur­de ver­übt, nur vier­zehn Tage nach­dem der Leh­rer Samu­el Paty ermor­det wur­de, weil er sei­ner Klas­se die Mei­nungs­frei­heit und die Angrif­fe auf Char­lie Heb­do erklärt hat­te. Frank­reich reagier­te dann so, wie es eine men­schen­rechts­lie­ben­de Repu­blik tun soll­te. Es ver­tei­dig­te das Recht auf freie Mei­nungs­äu­ße­rung, ein­schließ­lich der Ver­öf­fent­li­chung von Mate­ria­li­en, die Anstoß erre­gen könn­ten.

Es ist abscheu­lich, dass die Mor­de in Niz­za nun­mehr als Ver­gel­tung für die Ver­tei­di­gung der Rede­frei­heit und der welt­li­chen Bil­dung dar­ge­stellt wur­den, und es scheint, dass dies eine Situa­ti­on ist, die außer Kon­trol­le gerät. In die­sem Fall müs­sen wir uns dar­an erin­nern, dass hier nur auf einer Sei­te ein Feh­ler vor­liegt. Mei­nungs- und Glau­bens­frei­heit sind kei­ne Ver­bre­chen. Aber Mord ist defi­ni­tiv eines. Gefüh­le von Belei­di­gung kön­nen nie­mals Gewalt recht­fer­ti­gen, eben­so wenig, wie sie eine Zen­sur recht­fer­ti­gen kön­nen. Ver­su­che, irgend­ei­ne mora­li­sche Äqui­va­lenz zwi­schen dem Zeich­nen von Car­toons oder der Ver­tei­di­gung der künst­le­ri­schen Frei­heit einer­seits und gewalt­sa­mem Mord und Ent­haup­tung ande­rer­seits her­zu­stel­len, sind abscheu­lich.

Sol­che Ver­su­che sind in vie­len Fäl­len auch unauf­rich­tig. Die Regie­rungs­chefs in der Tür­kei und in Paki­stan stel­len sich mit ihrem gan­zen diplo­ma­ti­schen Gewicht gegen Frank­reich und hin­ter die Mör­der, indem sie die Repu­blik auf­ge­for­dert haben, gegen „Isla­mo­pho­bie“ vor­zu­ge­hen, womit sie nicht Dis­kri­mi­nie­rung und Vor­ur­tei­le mei­nen, son­dern die Ver­let­zung reli­giö­ser Gefüh­le, was jedoch kein Ver­bre­chen dar­stellt.

Dies ist eine alte Lei­er. Bei den Ver­ein­ten Natio­nen hat Paki­stan wie­der­holt ver­sucht, Anträ­ge für glo­ba­le Blas­phe­mie­ge­set­ze genau mit die­sen Begrif­fen ein­zu­rei­chen – Humanist*innen haben das mit Nach­druck abge­lehnt. Die paki­sta­ni­sche Regie­rung nutzt Mord und Gewalt aus, um die glei­che Trom­mel wie immer zu rüh­ren. Aber dies­mal stellt das Drän­gen ihrer zen­so­ri­schen Argu­men­ta­ti­on auf inter­na­tio­na­ler Ebe­ne eine Schuld­zu­wei­sung gegen­über den Opfern dar. Nach der Aus­sa­ge „Wir unter­stüt­zen Mord nicht“ soll­te es kein „Aber“ geben.

Jeden­falls haben wir kei­nen Grund, denen zu ver­trau­en, die sagen, dass Geset­ze gegen das Belei­di­gen von Reli­gio­nen die Gewalt stop­pen wer­den. Län­der wie Paki­stan, Sau­di-Ara­bi­en, Nige­ria und Ban­gla­desch sind das gan­ze Jahr über die Hei­mat die­ser Art von Gewalt. Jeder Bür­ger­wehr, die sich gegen Huma­nis­ten, Chris­ten, Ahma­dis oder ande­re Min­der­hei­ten rich­tet, ver­lei­hen Blas­phe­mie­ge­set­ze Legi­ti­mi­tät und Sicher­heit der Straf­lo­sig­keit, in dem Wis­sen, dass genug Men­schen glau­ben, Gewalt sei eine akzep­ta­ble Reak­ti­on auf die­je­ni­gen, die sie belei­di­gen.

Der Weg zum Ver­bot von „Belei­di­gun­gen“ ist ein Weg zu noch grö­ße­rem Blut­ver­gie­ßen und Elend. Er wird beglei­tet von der Aus­höh­lung unse­rer Frei­heit zur Äuße­rung der Wahr­heit gegen­über der Macht und von einer Ver­rin­ge­rung der Far­be und Viel­falt der mensch­li­chen Kul­tur und des mensch­li­chen Lebens.

Was bleibt zurück? Blut auf den Bür­ger­stei­gen, zer­stör­te Fami­li­en. Leben, die aus der Bahn gewor­fen sind und Leben, die nie mehr so sein wer­den wie frü­her. Der wah­re Preis, den Mord an Men­schen kos­tet, wird oft ver­ges­sen, wenn Ereig­nis­se natio­na­le und inter­na­tio­na­le Bedeu­tung erlan­gen. Aber es sind die Opfer die­ser Anschlä­ge, die ich jetzt beson­ders in den Mit­tel­punkt unse­res Den­kens rücken möch­te. Ihr Leben. Ihre Mensch­lich­keit. Ihre Hoff­nun­gen, Poten­zia­le und Träu­me.

Tra­gö­di­en wie heu­te erin­nern uns dar­an, wie klein, kurz und zer­brech­lich das Leben ist. Das Leben ist kurz. Des­halb ist es das schreck­lichs­te Ver­bre­chen von allen, es durch Mord zu been­den. Was kön­nen wir in die­sem kur­zen Leben denn tun, als unser Bes­tes zu geben, um die Zeit zu genie­ßen, die wir haben, und sie zu schät­zen, aber wie kön­nen wir das? Wir als Humanist*innen müs­sen Maß­nah­men ergrei­fen, um das Leben für ande­re zu ver­bes­sern, die zukünf­ti­gen Gene­ra­tio­nen ein­ge­schlos­sen, von denen wir hof­fen, dass sie in Frei­heit und Frie­den leben. Maß­nah­men für die­se bes­se­re Zukunft zu ergrei­fen, ist die bes­te Ant­wort für alle, die sich nur mit dem Tod befas­sen und nichts zu bie­ten haben als die Stil­le der Angst und des Elends.

Was tun wir also, wenn wir von einer sol­chen Unmensch­lich­keit und Bar­ba­rei her­aus­ge­for­dert wer­den – und zuneh­mend auch von ver­rück­ten Ver­su­chen, dies zu recht­fer­ti­gen, von ande­ren, die wir lie­ben, respek­tie­ren oder sonst ken­nen? Hier müs­sen wir üben, was wir pre­di­gen: mit unse­ren Wor­ten ant­wor­ten. Mit Fak­ten. Mit Argu­men­ten. Und dann zuhö­ren und wie­der ant­wor­ten. Dabei zie­len wir nicht dar­auf ab, Punk­te zu sam­meln – das Leben ist kei­ne You­Tube-Debat­te –, son­dern Mei­nun­gen und Ein­stel­lun­gen zu ändern. Denn etwas sehr Wich­ti­ges hängt davon ab: die Zukunft einer libe­ra­len, frei­heits­lie­ben­den Welt­ord­nung.

Wir alle müs­sen für unse­re am meis­ten geschätz­ten Rech­te ein­tre­ten: Gedan­ken­frei­heit, Mei­nungs­frei­heit … das Recht auf Leben selbst. Das heißt, dass wir alle uns gegen die Schuld­zu­wei­sung gegen­über den Opfern aus­spre­chen müs­sen, wenn sie geschieht. Dies kann bedeu­ten, sich mit Freun­den zu strei­ten, die sich sol­chen fal­schen Gleich­set­zun­gen hin­ge­ben. Es kann bedeu­ten, Beschwer­den ein­zu­rei­chen, wenn Jour­na­lis­ten die fau­le Opti­on wäh­len, „bei­de Sei­ten“ als schul­dig dar­zu­stel­len: ver­rück­te Mör­der und Füh­rer von Halb­theo­kra­tien einer­seits, Füh­rer, Bür­ger und Leh­rer von Repu­bli­ken ande­rer­seits, die auf Rechts­staat­lich­keit und Men­schen­rech­ten beru­hen. So kön­nen wir heu­te und künf­tig auf das reagie­ren, was heu­te pas­siert ist.

In Soli­da­ri­tät
Andrew Cop­son

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