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Philosoph Nikil Mukerji im Interview

Kritisches Denken: „Wir sollten nicht die gleichen Denkfehler machen, die wir anderen vorwerfen“

Der medienwissenschaftliche Begriff „Filter Bubble“ wurde von dem Internetaktivisten Eli Pariser in seinem gleichnamigen Buch von 2011 geprägt.
Wie können wir Sinn von Unsinn unterscheiden? Kann man kritisches Denken lernen? Wie gelingt die Meinungsbildung trotz zunehmender Polarisierung? Mit dem Philosophen, Skeptiker und Risikoethiker Nikil Mukerji haben wir über diese wichtigen Fragen unserer Zeit gesprochen – und darüber, warum es wichtig ist, anderen Menschen zuzuhören (auch wenn sie Unsinn erzählen).

Nikil, du hast ein Buch über „Die 10 Gebote des gesunden Menschenverstands“ geschrieben. Kann kritisches Denken erlernt werden?

Ich glau­be, jeder besitzt die­se Fähig­keit bereits zu einem gewis­sen Grad. Man muss sie also nicht erst ler­nen, son­dern nur ent­wi­ckeln und dif­fe­ren­zie­ren. Und man muss es wol­len – es ist vor allem eine Moti­va­ti­ons­fra­ge.

Und wie lernt man kritisches Denken am besten?

Dafür gibt es eini­ge Vor­aus­set­zun­gen. Zum Bei­spiel soll­te die eige­ne Umge­bung so gestal­tet sein, dass sie logi­sches Den­ken för­dert. Wenn man viel mit Men­schen spricht, die ver­nünf­tig sind, dann wird einen das auto­ma­tisch in die­sel­be Rich­tung stup­sen. Ein beson­ders hoher Bil­dungs­grad ist übri­gens kei­ne Vor­aus­set­zung für Ver­nunft. Letzt­lich habe ich in mei­nem Buch Regeln auf­ge­schrie­ben, die hel­fen, grund­le­gen­de Denk­feh­ler zu erken­nen. In ihren Grund­zü­gen sind die­se Regeln sehr ein­fach. Jeder kom­pe­ten­te Zwölf­jäh­ri­ge kann sie mei­nes Erach­tens ver­ste­hen. Wenn Men­schen also gegen die­se Regeln ver­sto­ßen, dann liegt das schon­mal nicht dar­an, dass ihnen die Bil­dung oder die Rechen­ka­pa­zi­tät fehlt.

Bild: Lara Witos­sek

Dr. Nikil Muker­ji (*1981 in Mün­chen) ist aka­de­mi­scher Geschäfts­füh­rer des Stu­di­en­gangs Phi­lo­so­phie Poli­tik Wirt­schaft der Lud­wig-Maxi­mi­li­ans-Uni­ver­si­tät in Mün­chen. Er ist Vor­sit­zen­der des neu­ge­grün­de­ten HVD Bay­ern, Vor­sit­zen­der des Wis­sen­schafts­rats der GWUP und Mit­glied des wis­sen­schaft­li­chen Bei­rats des Hans-Albert-Insti­tuts.

Woran liegt das deiner Ansicht nach stattdessen?

Ich wür­de sagen, das Pro­ble­ma­tischs­te, wozu wir nei­gen, ist, dass wir Iden­ti­tä­ten ent­wi­ckeln und uns dann mit Leu­ten asso­zi­ie­ren, die die glei­chen Iden­ti­tä­ten haben. Sagen wir, ich bin poli­tisch pro­gres­siv und links und ein biss­chen grün. Jeman­den, der das auch ist, hal­te ich dann für intel­li­gent und ver­nünf­tig und wahr­schein­lich auch für einen guten Men­schen. Und alle ande­ren, die sagen: „Ich bin kon­ser­va­tiv und wirt­schafts­li­be­ral“, die sind dann für mich ent­we­der dumm oder furcht­ba­re Men­schen oder wis­sen nichts. Die­ses Denk­mo­dell kann uns extrem in die Irre füh­ren. Denn Men­schen sind extrem wider­sprüch­lich. Es gibt Leu­te, die auf der einen Sei­te ziem­lich pro­ble­ma­ti­sche The­sen ver­tre­ten, aber in ande­rer Hin­sicht sehr sinn­vol­le Sachen sagen.

Hast du ein Beispiel dafür?

Wenn jemand aus dem homöo­pa­thi­schen Lager sagt: „Die Schul­me­di­zin sieht den Pati­en­ten nicht als voll­stän­di­gen Men­schen, son­dern als eine Art Ersatz­teil­la­ger“. Da wür­de ich sagen, da kann echt was dran sein, obwohl ich nicht glau­be, dass mit ver­hex­tem Zucker irgend­was geheilt wer­den kann.

Wenn jemand eine dumme These vertritt, dann sind nicht alle anderen Thesen dieser Person automatisch auch Quatsch.

Genau. Wenn ich mir eine Ein­schät­zung zu einem The­ma erar­bei­te, ver­su­che ich immer zu fra­gen: Was könn­te man gegen mei­ne Posi­ti­on sagen, was sind gute Argu­men­te, die man hier ein­wen­den könn­te? Das ver­su­che ich auch sehr kon­se­quent zu tun. Wir soll­ten nicht die glei­chen Denk­feh­ler machen, die wir ande­ren vor­wer­fen. Vie­le hören lei­der nur auf ihre eige­ne Bla­se. Nimm das Bei­spiel Mas­ken­trä­ger und Mas­ken­ver­wei­ge­rer. Das The­ma wird poli­ti­siert, obwohl es hier in ers­ter Linie um eine medi­zi­ni­sche Fra­ge geht. Eine Mas­ke zu tra­gen, ist eine medi­zi­ni­sche Ent­schei­dung und soll­te kein poli­ti­sches Zei­chen sein. Lei­der wird es aber in bestimm­ten Krei­sen genau­so ver­stan­den. Hier kommt man auch mit Ratio­na­li­tät nicht wei­ter. Denn den Leu­ten ist es wich­ti­ger, ein poli­ti­sches Zei­chen zu set­zen und kei­ne Mas­ke zu tra­gen, als ihre Gesund­heit und die Gesund­heit Ande­rer zu schüt­zen. Lei­der gibt es kei­ne schlau­en Argu­men­te, mit denen man hier wei­ter­kommt. Übri­gens – und nur am Ran­de – es gibt Leu­te, die mir vor­wer­fen, dass ich zum Bei­spiel in der Fra­ge von Mas­ken mei­ne Posi­ti­on auch nur des­we­gen habe, weil mei­ne rot-grü­ne Bubble mir das dik­tiert hat. Das ist aber nach­weis­lich falsch. Ich habe mich auf­grund von Evi­denz und risi­koe­thi­schen Erwä­gun­gen schon von Anfang an für Mas­ken aus­ge­spro­chen – auch da schon, wo Leu­te wie Chris­ti­an Dros­ten noch gegen Mas­ken waren.

Apropos Bubble: Wie kann man Menschen davor schützen, in problematische Bubbles zu geraten?

Men­schen zie­hen sich mei­nes Erach­tens in dem Maße in Bla­sen zurück, in dem sich die Gesell­schaft sozi­al und poli­tisch pola­ri­siert. Alles, was der Depo­la­ri­sie­rung dient, ist also hier hilf­reich. Ein Punkt, den ich hier beson­ders im Blick habe, ist, wie gesagt, das Den­ken in Iden­ti­tä­ten. Das ist auf allen Sei­ten des poli­ti­schen Spek­trums ein Pro­blem, weil man Men­schen, die eine ande­re Iden­ti­tät haben, aus­stößt und ablehnt. Wenn man zum Bei­spiel nicht mit jeman­dem reden will, weil er eine Sym­pa­thie für die AfD hat, dann bewirkt man damit etwas, das man eigent­lich ver­mei­den soll­te: näm­lich, dass die­se Per­son wohl nur noch mit ande­ren AfD-Sym­pa­thi­san­ten an einem Tisch sitzt und ver­mut­lich über­haupt kei­ne Gegen­ar­gu­men­te mehr hört. Ich wür­de des­we­gen wirk­lich dar­auf ach­ten, freund­lich und mensch­lich im Umgang zu blei­ben. Das heißt nicht, dass man in der Sache zustim­men muss – hier kann man, soweit es die Argu­men­te zulas­sen, hart blei­ben. Aber man soll­te Ande­ren signa­li­sie­ren, dass man sie als Mit­men­schen ach­tet und bereit ist, ver­nünf­tig zu reden – auch dann, wenn man ganz anders denkt als sie.

Ist denn jede Bubble schlecht?

Inter­es­san­te Fra­ge. Nicht jede. Das Pro­blem für unse­re Lebens­pra­xis ist ja: Wie gehen wir eigent­lich als Lai­en mit schwie­ri­gen Fra­gen um, bei denen wir kei­ne Exper­ti­se haben? Wir kön­nen ja nicht Exper­tin­nen und Exper­ten in allen mög­li­chen Berei­chen sein, müs­sen aber trotz­dem Ent­schei­dun­gen tref­fen. Sich hier auf eine Exper­ten-Com­mu­ni­ty zu stüt­zen, ist natür­lich sinn­voll. Bei Licht betrach­tet ist das aber auch nur eine Art Fil­ter­bla­se, denn es wer­den ja auch hier Infor­ma­tio­nen gefil­tert. Nur eben nicht auf eine pro­ble­ma­ti­sche, son­dern auf eine hilf­rei­che, kon­struk­ti­ve Wei­se.

Und wie gehen wir dann mit Expertise um? Einfach auf die Mehrheit hören?

Das kommt dar­auf an, um wel­che Fra­ge es geht. Ange­nom­men, ein Exper­te sagt, „das Coro­na­vi­rus stammt aus einem For­schungs­la­bor“ auf der ande­ren Sei­te gibt es neun Exper­tin­nen und Exper­ten, die das anders sehen. Soll­ten die­se Per­so­nen gleich kom­pe­tent und unab­hän­gig von­ein­an­der zu ihren Ein­schät­zun­gen gekom­men sein, dann ist es deut­lich wahr­schein­li­cher, dass das Virus nicht aus einem For­schungs­la­bor kam. Damit kommt man schon mal ein biss­chen wei­ter, wenn es dar­um geht, sich eine Ein­schät­zung zu erar­bei­ten. Aber es ist wich­tig, dass man die Fra­ge, um die es geht, genau im Blick hat. Die Fra­ge könn­te ja auch eine prak­ti­sche sein: Soll­ten wir uns gegen Leaks aus For­schungs­la­bo­ren absi­chern? Hier könn­te man sagen: Auch wenn nur eine von zehn Exper­ten glaubt, dass sol­che Leaks vor­kom­men, ist das Risi­ko, dass hier – wie im Fall des neu­ar­ti­gen Coro­na­vi­rus – eine Kata­stro­phe pas­siert, so hoch, dass wir über Absi­che­rungs­maß­nah­men reden müs­sen. Wohl gemerkt, obwohl wir eigent­lich nicht wirk­lich glau­ben, dass hier ein Pro­blem besteht. Das ist kein Wider­spruch, son­dern eine ver­nünf­ti­ge Pra­xis im Umgang mit Risi­ken.

Genauso müsste man doch sagen: Wenn sich neun von zehn Expert*innen sicher wären, dass es keine pandemische Bedrohung gäbe, dass wir alles im Griff haben – aber eine Person sagt: „Achtung, wir sollten hier präventiv tätig werden“, dann wäre es sinnvoll, auf diese eine Person zu hören.

Exakt. Das folgt auch. Wenn es stimmt, was die­se eine Per­son sagt, dann wäre der Scha­den immens. Das ist eine risi­koe­thi­sche Abwä­gung, die man machen muss. Hät­ten wir in Deutsch­land das glei­che Modell ver­folgt wie zum Bei­spiel Tai­wan, also die Gren­zen wei­test­ge­hend dicht­ge­macht, sehr sys­te­ma­tisch Tests ein­ge­führt, immer alle Fäl­le nach­ver­folgt – dann wären wir jetzt in einer sehr guten Situa­ti­on. Wir hät­ten alle Frei­hei­ten, vie­le Unter­neh­men wür­den nicht Plei­te gehen müs­sen, der gan­ze bil­dungs­öko­no­mi­sche Scha­den wäre nicht ein­ge­tre­ten, denn wir hät­ten die Schu­len offen­hal­ten kön­nen. Auch die­ses Vor­ge­hen hät­te natür­lich Kos­ten erzeugt, aber eben sehr viel gerin­ge­re Kos­ten im Ver­gleich zum jet­zi­gen Scha­den.

Du selbst hattest ja vor Beginn der Coronakrise entsprechende Empfehlungen in Richtung der Politik ausgesprochen.

Mein Kol­le­ge Adria­no Man­ni­no und ich haben vor Beginn der Kri­se ein klei­nes Team gegrün­det, Ana­ly­sen durch­ge­führt und Emp­feh­lun­gen erar­bei­tet. Unter ande­rem haben wir uns dafür aus­ge­spro­chen, die Gren­zen tem­po­rär dicht­zu­ma­chen und kei­ne Men­schen aus Chi­na mehr ins Land zu las­sen oder erst nach 14-tägi­ger Qua­ran­tä­ne. Eini­ge haben uns des­halb für Rechts­ideo­lo­gen gehal­ten. Denn die For­de­rung, die Gren­zen zu schlie­ßen – das kennt man ja auch von der AfD und der Iden­ti­tä­ren Bewe­gung. Wir haben gedacht: das kann doch nicht sein, die Argu­men­te müss­ten doch eigent­lich für sich spre­chen! Aber eini­ge unse­rer Aus­sa­gen wur­den eben als Mar­ker für Din­ge genom­men, mit denen wir uns über­haupt nicht asso­zi­ie­ren woll­ten, hier zum Bei­spiel Ras­sis­mus oder Frem­den­feind­lich­keit.

Da sind wir wieder beim Anfangsproblem: Ihr wurdet in eine Schublade gesteckt. Wie stellt man fest, ob man es gerade mit einer problematischen Lagerbildung zu tun hat?

Ein Test, den man machen kann, sieht – etwas holz­schnitt­ar­tig – so aus: Wenn du weißt, dass eine Per­son eine bestimm­te Auf­fas­sung zu einem kon­tro­ver­sen The­ma hat, zum Bei­spiel zum Kli­ma­wan­del – kannst du dann auch mit einer hohen Wahr­schein­lich­keit vor­her­sa­gen, wel­che Auf­fas­sung sie zu einer kom­plett ande­ren Fra­ge ver­tritt, die nichts damit zu tun hat? Zum Bei­spiel zu Fra­gen der Migra­ti­ons­po­li­tik? Oder zur Gen­tech­nik? Wenn das so ist, läuft even­tu­ell etwas schief. Es kann schon Mei­nungs­clus­ter geben. Aber das soll­te nicht so weit gehen, dass gro­ße Grup­pen der Gesell­schaft kom­plett uni­for­me Ein­stel­lun­gen haben – vor allem dann nicht, wenn es um strit­ti­ge The­men geht, die sach­lich von­ein­an­der unab­hän­gig sind. Hier ist unter Umstän­den die bes­te Erklä­rung: Men­schen rech­nen sich einer Sei­te zu, weil ihnen bestimm­te Stand­punk­te sym­pa­thisch sind. Dann über­neh­men sie auch noch ande­re Stand­punk­te der eige­nen Sei­te, weil „Leu­te wie wir“ das eben glau­ben. Mit ande­ren Wor­ten: Viel­leicht hat man sich zu The­ma A Gedan­ken gemacht. Aber bei The­ma B kopiert man ein­fach die Ein­stel­lung der Grup­pe, der man sich zurech­net. Das wäre ratio­nal, wenn eine Sei­te tat­säch­lich alle Ant­wor­ten und immer Recht hät­te. Lei­der ist das aber nicht so. Des­we­gen soll­te man auch der ande­ren Sei­te zuhö­ren.

Auch wenn von dieser Seite viel Stuss kommt?

Auch wenn man sich viel Unsinn anhö­ren muss, muss man offen dafür blei­ben. Mist ist halt auch ein guter Dün­ger, und dar­aus kann irgend­wann ein schö­nes Pflänz­chen wach­sen. Wir müs­sen in der Lage sein, uns gegen­tei­li­ge Stand­punk­te anzu­hö­ren. Mich nervt es zum Bei­spiel auch, mir Quer­den­ker-Argu­men­te anhö­ren zu müs­sen. Aber wenn bei hun­dert pro­ble­ma­ti­schen Argu­men­ten auch nur ein Aspekt dabei ist, den ich viel­leicht über­se­hen habe, dann hat sich das doch gelohnt. Wir soll­ten also etwas gegen die­se Pola­ri­sie­rung tun. Das Huma­nis­mus-Lager hat hier mei­nes Erach­tens einen gro­ßen Hebel, weil wir eine Grup­pe von Men­schen sind, die ver­nünf­ti­ge Stand­punk­te haben und die an der Wahr­heit inter­es­siert sind. Unser Ziel soll­te es sein, die­se Ein­stel­lung und eine ratio­na­le Dis­kus­si­ons­kul­tur auch in den Rest der Gesell­schaft zu tra­gen.

Danke für das Gespräch!

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