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Humanistische Jugendverbandsarbeit wird digital

„Auf einmal lese ich E‑Mails …“

Jugendverbandsarbeit digital HVD Berlin-Brandenburg Juhu

Beitragsbild: Moritz Hopf

Wie verändert sich die humanistische Jugendarbeit, wenn physische Treffen und Angebote nicht mehr stattfinden können? Wie kann das Potenzial der Digitalisierung genutzt werden, wo tun sich Grenzen auf für die humanistische Bildung? Ein Erfahrungsbericht von Moritz Hopf und Juliane Kremberg von JuHu Berlin.

Ver­fasst in Zusam­men­ar­beit mit Moritz Hopf

„Ich lese auf ein­mal E‑Mails und beant­wor­te die sogar! Und das mehr­mals in der Woche …!“, mein­te Aaron, ein lang­jäh­ri­ger Ehren­amt­li­cher bei JuHu Ber­lin, Mit­te April auf die Fra­ge, wie es ihm denn mit dem gan­zen Coro­na-Mist und der Digi­ta­li­sie­rung so gehe. Aaron ist Mit­te 20, betreut seit vie­len Jah­ren unse­re Feri­en­rei­sen und hat sehr zum Leid­we­sen unse­rer haupt­amt­li­chen Bildungsreferent*innen noch nie auch nur eine Mail beant­wor­tet. Fra­gen wie „Kommst du zum Team­tref­fen? Wel­ches Camp willst du im Som­mer lei­ten?“ oder „Wann kön­nen wir uns zum Aus­wer­tungs­ge­spräch tref­fen?“ blie­ben ent­we­der unbe­ant­wor­tet oder wur­den über Mes­sen­ger, die Sozia­len Medi­en und tele­fo­nisch geklärt. Da das aber ganz und gar nicht unty­pisch war, füh­ren wir sogar eine extra Lis­te, wel­che Ehren­amt­li­chen wir über wel­chen Kanal errei­chen: Fran­zi reagiert nur auf Face­book, Lisa nur bei Whats­App, Karo erreicht man grund­sätz­lich nur über Tik­Tok …

Aaron war, wie vie­le unse­rer ehren­amt­lich enga­gier­ten jun­gen Leu­te im huma­nis­ti­schen Jugend­ver­band, haupt­säch­lich in den Sozia­len Medi­en oder per­sön­lich anzu­tref­fen. Das Medi­um E‑Mail hat­te für ihn als Stu­dent bis dato kei­ne Rele­vanz und war schlicht­weg etwas für „Alte Leu­te“ oder „das Prü­fungs­amt“. Puh … doch alles änder­te sich Anfang letz­ten Jah­res. Die dras­ti­schen Ver­än­de­run­gen und Anpas­sun­gen, die wie ein Brand­be­schleu­ni­ger die Digi­ta­li­sie­rung vor­an­ge­trie­ben haben, betra­fen und betref­fen vor allem auch Schüler*innen, Aus­zu­bil­den­de, Student*innen – also unse­re JuHus.

Vor Coro­na bedeu­te­te huma­nis­ti­sche Jugend­ver­bands­ar­beit für uns alle vor allem einen selbst­be­stimm­ten, frei­wil­li­gen und krea­ti­ven Lern­raum, um eige­ne Pro­jekt­ideen umzu­set­zen und mit dem Freun­des­kreis zusam­men etwas für Kin­der und Jugend­li­che in der Frei­zeit auf die Bei­ne zu stel­len. Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on, Ver­ant­wor­tung, Gemein­schaft – das war die Moti­va­ti­on für Kin­der­fe­ri­en­la­ger, Krea­tiv-Wochen­en­den, Mäd­chen­treffs und vie­les mehr. Doch inzwi­schen leben wir seit über einem Jahr mit Home­schoo­ling, Online-Uni, Zoom-Mee­tings, Spie­le­aben­den über Dis­cord und sogar gan­zen digi­ta­len Wochen­en­den. Und Aaron liest jetzt sogar Mails!

Dass in die­ser Zeit aber auch die soge­nann­ten Digi­tal Nati­ves irgend­wann „mütend“ wer­den, hät­te wohl nie­mand ver­mu­tet! Auch bei JuHu Ber­lin muss­ten wir im ver­gan­ge­nen Jahr vie­le Ange­bo­te absa­gen, umbu­chen oder eben in neue, digi­ta­le Räu­me ver­le­gen.

Wäh­rend die meis­ten Berei­che der Gesell­schaft wie Wirt­schaft, Bil­dung oder Ver­wal­tung teil­wei­se mit star­ken Schwie­rig­kei­ten bei ihrer Ver­la­ge­rung ins Digi­ta­le zu kämp­fen hat­ten, soll­te man mei­nen, dass es der Jugend(verbands)arbeit da leich­ter fiel? – „Die jun­ge Gene­ra­ti­on sitzt doch eh den gan­zen Tag vor Screens!“, so wird es immer gern behaup­tet. Wäh­rend die­se Annah­me unter nor­ma­len Umstän­den nicht nur grob ver­all­ge­mei­nernd und falsch wäre, trägt sie in den aktu­el­len Zei­ten lei­der einen wah­ren Kern in sich und ist für vie­le Kin­der, Jugend­li­che und jun­ge Erwach­se­ne zur mitt­ler­wei­le eher fremd­be­stimm­ten, trau­ri­gen und erzwun­ge­nen Rea­li­tät gewor­den.

Nach einem gan­zen Schul- oder Uni-Tag mit digi­ta­ler Bestrah­lung fehlt im Anschluss ein­fach die Ener­gie, auch noch die Frei­zeit mit digi­ta­len Ange­bo­ten zu ver­brin­gen. Und wie soll denn eine digi­ta­le Feri­en­rei­se aus­se­hen? Wie soll man ein Hof­fest bei Lager­feu­er und Musik digi­ta­li­sie­ren? Oder erleb­nis­päd­ago­gisch gepräg­te For­ma­te wie Klet­ter­par­cours, Nacht­wan­de­run­gen oder Kanu-Tou­ren?

Selbst als Freiwillige*r bei den Ber­li­ner JuHus ist nach einem lan­gen Home­of­fice-Tag die Lust auf ein „digi­ta­les Team­tref­fen“ im Anschluss eher gering. Wenn das Frei­zeit­an­ge­bot im glei­chen For­mat wie die Büro-Mee­tings statt­fin­det, geht auch der Anspruch, den Jugend­ver­band als Lern­ort und Frei­raum jen­seits von Uni, Eltern­haus oder Schu­le zu gestal­ten, ver­lo­ren. Sei­ne päd­ago­gi­sche Grund­ori­en­tie­rung als Ort für Peer­group-Erleb­nis­se und eine Wer­te­ver­mitt­lung durch gemein­sa­me Erfah­run­gen wird somit dras­tisch ein­ge­schränkt. Huma­nis­ti­sche Bil­dung bedeu­te­te für uns vor allem Ler­nen mit Kopf, Hand und Herz – in der Grup­pe und zusam­men, drau­ßen in der Natur und im sozia­len Mit­ein­an­der. Das wird uns nun mehr denn je, durch das Feh­len eben die­ser selbst­be­stimm­ten Räu­me, schmerz­lich bewusst. Kon­takt­be­schrän­kun­gen und Rei­se­ver­bo­te haben unse­ren Ver­band und sei­ne Mit­glie­der hart getrof­fen.

Doch wer wären wir, wenn wir nicht krea­ti­ve Alter­na­ti­ven ent­wer­fen und neue Wege gehen wür­den? Durch die kon­ti­nu­ier­li­che Zusam­men­ar­beit zwi­schen unse­ren enga­gier­ten Frei­wil­li­gen und unse­ren Bildungsreferent*innen ist es uns gelun­gen, nicht nur bereits bestehen­de For­ma­te in digi­ta­le umzu­wan­deln, son­dern sogar ganz neue For­ma­te zu ent­wer­fen. So konn­ten wir unser belieb­tes Stop-Moti­on-Wochen­en­de kom­plett digi­tal durch­füh­ren, indem sich das Team den Umstand zunut­ze gemacht hat, dass nahe­zu alle Kin­der und Jugend­li­chen mitt­ler­wei­le über ein Smart­phone oder Tablet ver­fü­gen. Über eine Stop-Moti­on-App, konn­ten jeweils indi­vi­du­el­le Sze­nen, dann digi­tal zu einem gemein­sa­men Film zusam­men­ge­baut wer­den. Ohne, dass wir uns jemals live begeg­net sind, haben wir mit zehn Jugend­li­chen zusam­men einen Film gedreht: Eine Sze­ne pro Jugend­zim­mer und am Ende stand der gemein­sa­me und koope­ra­tiv ent­wi­ckel­te Film.

Bei die­sem Pro­jekt haben wir erneut sehen kön­nen, wie anpas­sungs­fä­hig jun­ge Men­schen auch im digi­ta­len Raum sind. Hier herrscht zudem eine ganz ande­re Bar­rie­re­frei­heit als im Ana­lo­gen, da sich nun Jugend­li­che aus ganz Ber­lin sofort an einem Ort tref­fen kön­nen, ohne einen lan­gen Fahrt­weg in Kauf neh­men zu müs­sen. Auch wenn die ana­lo­ge Arbeit natür­lich noch immer die spa­ßigs­te und schöns­te Vari­an­te des sozia­len Mit­ein­an­ders ist, eröff­net der aktu­el­le digi­ta­le Kon­text doch ganz neue und ande­re Arten, unse­ren Teil­neh­men­den eine ange­neh­me Zeit zu ermög­li­chen.

Ande­rer­seits sind Teil­neh­men­de ohne sta­bi­le Inter­net­ver­bin­dung oder ein Smart­phone von die­sen Ange­bo­ten lei­der sofort kom­plett aus­ge­schlos­sen. Zwar kann Kin­dern und Jugend­li­chen hier außer­schu­li­sche Bil­dungs­ar­beit dank Digi­ta­li­sie­rung nahe­ge­bracht und digi­ta­le Kom­pe­tenz­för­de­rung ermög­licht wer­den, jedoch wer­den auf der ande­ren Sei­te sozia­le Kom­pe­ten­zen oder sportliche/ kör­per­li­che Akti­vi­tä­ten und Ent­wick­lun­gen stark ein­ge­schränkt. Gleich­zei­tig kom­men mit der Digi­ta­li­sie­rung der außer­schu­li­schen Bil­dung auch neue Gefah­ren der Aus­gren­zung hin­zu. Wenn wir eben jene Gefah­ren im Kopf behal­ten und uns damit auf die Mög­lich­kei­ten besin­nen und die digi­ta­len Tools reflek­tiert und kri­tisch zu nut­zen, kann auch die Kin­der- und Jugend­ar­beit in Zei­ten der Digi­ta­li­sie­rung ihre Rol­le neu defi­nie­ren.

Aaron liest nun ganz „old­school“ E‑Mails – ein Schritt zu mehr inter­ge­ne­ra­tio­nel­ler Ver­stän­di­gung, denn die Haupt­amt­li­chen freut’s. Und auch die haben mitt­ler­wei­le end­lich (nach über einem Jahr der Pan­de­mie) gelernt, was ein Share­Pic und wer ein Influen­cer ist und emp­fin­den nicht mehr alles als „Ver­blö­dung“, was in den digi­ta­len Medi­en so getrie­ben wird. Die „Alten“ kön­nen sich nun nicht mehr aus dem „Neu­land“ der digi­ta­len Welt her­aus­hal­ten!

Schließ­lich aber, dar­auf ver­weist nicht zuletzt die huma­nis­ti­sche Bil­dung, sind wir alle sozia­le Wesen und brau­chen auch den direk­ten sozia­len Kon­takt, um unser gesam­tes Poten­zi­al gemein­sam ent­fal­ten zu kön­nen. Daher soll­te uns allen klar sein, dass der gemein­sa­me Raum, unse­re huma­nis­ti­schen Wer­te und unser geleb­tes Mit­ein­an­der der Kern unse­rer Jugend­ver­bands­ar­beit sind. Die­ser kann auch digi­tal ergänzt wer­den. Als Brü­cke oder als Ver­bin­dungs­weg am Über­gang zum rea­len Wie­der­se­hen in der außer­schu­li­schen Bil­dung. Wirk­lich ganz­heit­lich jedoch, im Sin­ne der his­to­ri­schen Tra­di­ti­on der Jugend­be­we­gun­gen, aus denen auch die frei­den­ke­risch-huma­nis­ti­sche Jugend­ver­bands­ar­beit ent­stan­den ist, ist sie nur in live und zusam­men, sowie drau­ßen, in der Natur.

Huma­nis­ti­sche Jugend­ver­band­ar­beit funk­tio­niert auch digi­tal. Rich­tig Spaß jedoch macht sie eben live.

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