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Zur elementaren Verständigungspraxis

Für ein humanistisches Verständnis des Palavers

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Der Begriff "Palaver" stammt aus Afrika. Hier zu sehen: Fischer verkaufen am Strand von Nouakchott, Mauretanien, ihren Fang des Tages.
Der Begriff "Palaver" stammt aus Afrika. Hier zu sehen: Fischer verkaufen am Strand von Nouakchott, Mauretanien, ihren Fang des Tages.
Das Palaver wird in der deutschen Diskussion gewöhnlich abschätzig betrachtet: Ohne Methode, ohne System, ohne Wissenschaft reden da sogenannte "Primitive" daher und kommen niemals zu einem "vernünftigen" Ende. Als praktische Humanist*innen sollten wir, wie ich im Folgenden begründen möchte, energisch und tatkräftig dagegen halten: In der für alle Seiten und nach allen Richtungen offenen Kommunikationspraxis des Palavers muss immer dann verhandelt und um Verständigung gerungen werden, wenn den Streitenden keine gemeinsamen wissenschaftlichen "Grundlagen" oder auch kommunikativ unterstellte "Selbstverständlichkeiten" zur Verfügung stehen – und dies ist gerade für den praktischen Humanismus von zentraler Bedeutung.

Der Begriff des Pala­vers stammt aus Afri­ka. In einer kolo­nia­len Per­spek­ti­ve, aus der wir uns inzwi­schen auch in Deutsch­land befrei­en begon­nen haben, wur­de damit eine Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pra­xis indi­ge­ner Gemein­schaf­ten bezeich­net, deren Regeln sich den an ein „metho­di­sches Vor­ge­hen“ gewöhn­ten Euro­pä­ern nicht erschloss, sodass es ihnen als ein (ganz im Wort­sin­ne) „wil­des“ Durch­ein­an­der­re­den vor­kam. Inzwi­schen ist klar, dass auch das Pala­ver sei­ne Regeln hat – aller­dings sol­che, die dar­auf abzie­len, dass wirk­lich Jeder zu Wort kommt und alle Argu­men­te ein­ge­bracht wer­den und Berück­sich­ti­gung fin­den.

Ich habe in mei­nem Buch zur „Radi­ka­len Phi­lo­so­phie“ den Gedan­ken ver­tre­ten, dass der­ar­ti­gen ele­men­ta­ren For­men einer Ver­stän­di­gung in allen mensch­li­chen Grup­pen eine ent­schei­den­de Rol­le zukommt – gegen alle Ver­su­che, ratio­na­le Ver­stän­di­gung auf vor­ge­ge­be­ne Model­le von Ratio­na­li­tät zu beschrän­ken. Die­ser Grund­ge­dan­ke lässt sich so for­mu­lie­ren, dass eine wirk­li­che Ver­stän­di­gung zwi­schen Men­schen nicht mehr erfor­dert, als dass alle Betei­lig­ten das, was sie zu sagen haben, auch wirk­lich sagen, und das, was die ande­ren sagen, auch wirk­lich hören. Und die­se Art von ele­men­ta­rer Ver­stän­di­gungs­pra­xis habe ich mit einem erwei­ter­ten Begriff des „Pala­vers“ bezeich­net.

Frie­der Otto Wolf: „Radi­ka­le Phi­lo­so­phie. Auf­klä­rung und Befrei­ung in der neu­en Zeit”.

Ver­lag West­fä­li­sches Dampf­boot, Müns­ter 2009
292 Sei­ten
ISBN: 978–3‑89691–498‑9

Ich bin davon über­zeugt, dass die­se ele­men­ta­re Pra­xis eines Sich-Aus­spre­chens und Zuhö­rens, das vor allen vor Ver­ein­ba­run­gen über Regeln und Kon­ven­tio­nen immer schon begon­nen hat, jeden­falls für prak­ti­sche Huma­nis­tin­nen und Huma­nis­ten von gera­de­zu grund­le­gen­der Bedeu­tung ist – denn sie stellt eine immer wie­der prak­ti­ka­ble Alter­na­ti­ve dazu dar, sich für Hand­lungs­pro­ble­me erst ein­mal eine wis­sen­schaft­li­che Ori­en­tie­rungs­grund­la­ge zu suchen. Nicht etwa, weil dies schlecht oder grund­sätz­lich prak­tisch nicht mach­bar wäre. In vie­len, vor allem im wei­tes­ten Sin­ne tech­ni­schen Berei­chen machen wir das ja auch tag­täg­lich (auch wenn wir dabei nicht immer wie­der die jewei­li­gen wis­sen­schaft­li­chen Grund­la­gen reka­pi­tu­lie­ren).

Die Bedeutung des Palavers an den Grenzen einer wissenschaftlichen Orientierung in der Lebenspraxis

Die­se Pra­xis, die ich mit dem Begriff des „Pala­vers” bezeich­ne, macht es mög­lich, auch über­all dort zu trag­fä­hi­gen gemein­sa­men prak­ti­schen Ori­en­tie­run­gen zu fin­den, wo es etwa schwie­rig ist, die kon­kre­te Situa­ti­on, in der nach einer kon­kre­ten prak­ti­schen Ori­en­tie­rung gesucht wird, als sol­che wis­sen­schaft­lich zu erfas­sen.

Das kann ein­fach dar­an lie­gen, dass die Situa­ti­on, in der zu han­deln ist, über­mä­ßig kom­plex ist – hier muss mensch dann im Pala­ver kon­sen­sua­le und mög­lichst ange­mes­se­ne For­men einer Kom­ple­xi­täts­re­duk­ti­on fin­den. Es kann aber auch dar­an lie­gen, dass ein ernst­haf­ter Grund­la­gen­streit in den betei­lig­ten bzw. rele­van­ten Wis­sen­schaf­ten dau­er­haft die Umset­zung wis­sen­schaft­li­cher Ein­sich­ten ver­hin­dert, weil gar nicht klar ist, wel­che der mit­ein­an­der völ­lig unver­ein­ba­ren Aus­sa­gen über die gegen­wär­ti­ge Situa­ti­on als Grund­la­ge für das gemein­sa­me Han­deln akzep­tiert wer­den sol­len. Und dies ist prak­tisch in allen Wis­sen­schaf­ten der Fall, die sich auf mensch­li­che Ver­hält­nis­se und Ange­le­gen­hei­ten bezie­hen. Als Bei­spiel kön­nen hier die regel­mä­ßi­gen Debat­ten über die öko­no­mi­sche Lage und ihre abseh­ba­ren Ent­wick­lungs­ten­den­zen die­nen – die von Dia­gno­sen grund­le­gen­der Kri­sen bis zu bloß kon­junk­tur­be­zo­ge­nen Emp­feh­lun­gen rei­chen, über die offen­bar in abseh­ba­rer Frist kei­ne Ver­stän­di­gung unter den betei­lig­ten Wissenschaftler*innen erzielt wer­den kann. Auch hier müs­sen wirt­schafts­po­li­ti­sche Ent­schei­dun­gen in einem offe­nen poli­ti­schen Pro­zess getrof­fen wer­den, der struk­tu­rell alle Merk­ma­le des Pala­vers trägt (mit dem ein­zi­gen, aber wich­ti­gen Unter­schied, dass hier und heu­te, selbst in demo­kra­tisch ver­fass­ten Gemein­we­sen, nicht jede und jeder zu Wort kommt und auch das Gewicht der dann über­haupt Betei­lig­ten bei der Ent­schei­dungs­fin­dung dann kei­nes­wegs gleich, son­dern durch­aus ungleich ist – wie dies etwa jede Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Gewerk­schaf­ten und Unter­neh­men sinn­fäl­lig vor Augen führt). Auf­fäl­lig ist hier der Unter­schied zu den Debat­ten über die Kli­ma­kri­se oder die Coro­na-Pan­de­mie, in denen es zwar auch Streit gibt, aber doch – von „freaks” abge­se­hen, die in der ernst­haf­ten Debat­te nicht ernst genom­men wer­den – kei­nen Grund­satz­streit über die wis­sen­schaft­li­chen Metho­den und die mit ihnen gewon­ne­nen Erkennt­nis­se.

Für eine offene Verständigung unter praktischen Humanist*innen

Der prak­ti­sche Huma­nis­mus besteht ange­sichts die­ser Debat­ten­la­ge auf der schlich­ten Fra­ge, wie in Bezug auf die­se unüber­seh­ba­ren Kri­sen­pro­zes­se erst ein­mal prak­ti­sche Lösun­gen gefun­den wer­den kön­nen, durch die zumin­dest die Aus­wir­kun­gen der lau­fen­den destruk­ti­ven Ent­wick­lun­gen auf die Schwächs­ten abge­wehrt oder abge­mil­dert wer­den kön­nen – und vor allem auch Zeit gewon­nen wer­den kann, um sich über adäqua­te­re und gründ­li­che­re Lösungs­an­sät­ze für die­se Pro­ble­me ver­stän­di­gen zu kön­nen. Das bedeu­tet für alle Men­schen, die im Sin­ne des „prak­ti­schen Huma­nis­mus” agie­ren, dass jeden­falls in den­je­ni­gen Berei­chen der Wis­sen­schaf­ten von Geschich­te und Gesell­schaft, wel­che sich auf die gro­ßen Kri­sen bezie­hen, in wel­che die Mensch­heit offen­bar gera­de hin­ein­steu­ert – in den Berei­chen also, in wel­chen es dar­um geht, zu klä­ren, wel­che tie­fer­ge­hen­den, „struk­tu­rel­len” Ver­än­de­run­gen nötig sind, um die­se Kri­sen nach­hal­tig zu über­win­den, eine ganz rea­le Schwie­rig­keit: Einer­seits wis­sen sie – und wer­den dar­in auch durch­aus zu Recht durch die Erfah­run­gen im Umgang mit der Kli­ma­kri­se oder mit Covid-19 bestärkt –, dass es nötig wäre, für die lang­fris­ti­gen Hand­lungs­per­spek­ti­ven aller aktiv Betei­lig­ten trag­fä­hi­ge wis­sen­schaft­li­che Grund­la­gen zu gewin­nen; ande­rer­seits wis­sen sie aber auch, dass die ein­schlä­gi­gen Wis­sen­schaf­ten so tief zer­strit­ten, ja sogar gespal­ten sind, dass von ihnen kei­ne gemein­sam zu tra­gen­de Hand­lungs­per­spek­ti­ve zu erwar­ten ist.

Hier hat der prak­ti­sche Huma­nis­mus eine trag­fä­hi­ge Alter­na­ti­ve anzu­bie­ten – und zwar ohne dabei die Fort­füh­rung der grund­sätz­li­chen wis­sen­schaft­li­chen Aus­ein­an­der­set­zun­gen behin­dern zu müs­sen, die viel­leicht doch noch zu Klä­run­gen füh­ren wer­den. Die­se Alter­na­ti­ve besteht ein­fach dar­in – was in der Pra­xis jeden­falls in Ansät­zen ohne­hin pas­siert, wenn es „gut läuft” – „auf Sicht zu fah­ren”, d.h. erst ein­mal Schä­den und Pro­ble­me anzu­ge­hen, die sich offen­sicht­lich stel­len. Und zwar durch­aus in huma­nis­ti­scher Zuspit­zung, indem mensch damit beginnt, die Pro­blem der Ärms­ten und am meis­ten Bedroh­ten vor­ran­gig zu lösen, oder wo dies nicht unmit­tel­bar mög­lich ist, jeden­falls ernst­haft zu „mil­dern”.

Ein sol­cher Ansatz bleibt grund­sätz­lich offen für zusätz­li­che Erkennt­nis­se über aku­te Pro­blem­la­gen, ihre Hin­ter­grün­de und deren Ent­wick­lungs­ten­den­zen – bleibt also ratio­nal offen für die Ergeb­nis­se der wis­sen­schaft­li­chen Debat­ten eben­so wie für den poli­ti­schen Aus­tausch über prak­ti­sche Erfah­run­gen.

Damit wir als Humanist*innen dazu in der Lage sind – bzw. uns immer wie­der die Fähig­keit dazu aneig­nen kön­nen –, ist es die aller­ers­te Bedin­gung, dass wir uns auf die Plu­ra­li­tät der Per­spek­ti­ven und Stim­men ein­las­sen, mit wel­chen gegen­wär­tig Men­schen auf die Her­aus­for­de­rung der gro­ßen Kri­sen ant­wor­ten, vor denen die Mensch­heit heu­te steht. Damit dies aber nicht in einer blo­ßen Kako­fo­nie viel­fäl­tig unter­schied­li­cher Stim­men endet, müs­sen wir gleich­zei­tig von Anfang an eine Arbeit der Unter­schei­dung leis­ten – ich den­ke, zwi­schen den­je­ni­gen Stim­men, die sich in der Tat auf eine sol­che offe­ne Debat­te ein­las­sen und den­je­ni­gen, wel­che von vor­ne­her­ein auf Über­wäl­ti­gung und Mani­pu­la­ti­on zie­len. Dabei wird es nicht rei­chen – wie das Bei­spiel der Coro­na-Debat­te schmerz­haft lehrt –, den Bei­trä­gen „von oben” schlicht die­je­ni­gen „von unten” ent­ge­gen­zu­set­zen, son­dern alle Bei­trä­ge sind immer auch dar­an zu prü­fen, ob sie sich ernst­haft auf den Stand der ver­füg­ba­ren wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­se bezie­hen. Das ist selbst­ver­ständ­lich ange­sichts der gegen­wär­ti­gen öko­no­mi­schen und öko­lo­gi­schen Kri­sen ein schwie­ri­ges und gera­de­zu heik­les Unter­fan­gen – eben­so ange­sichts der erneut wach­sen­den Gefahr einer mili­tä­ri­schen Aus­tra­gung von Kon­flik­ten. Aber ein­fa­cher las­sen sich trag­fä­hi­ge prak­ti­sche Ori­en­tie­run­gen auch für prak­ti­sche Humanist*innen in der viel­fach kri­ti­schen Lage der Gegen­wart nicht gewin­nen

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