Die Wissenschaft und die Menschen

Die Unfähigkeit sich zu freuen

Flug des Mars-Roboters Ingenuity
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Ernst Peter Fischer hat zahlreiche Bücher verfasst, zum Beispiel zu Evolution, Genetik, Religion und Wissenschaft, Einstein und Hirnforschung. Der Wissenschaftshistoriker wundert sich über das Unvermögen vieler seiner Mitmenschen, sich für das wachsende Wissen und den wissenschaftlichen Fortschritt so zu begeistern, wie er es tut. Ein Postulat für Freude am Wissen, die laut Fischer zugleich Freude am Geheimnisvollen ist.

„Die Unfä­hig­keit zu trau­ern“. So lau­tet der Titel eines 1967 erschie­ne­nen Best­stel­lers, der vie­le Neu­auf­la­gen erlebt hat und immer noch im Druck ist. Die bei­den Psy­cho­ana­ly­ti­ker Alex­an­der und Mar­ga­re­te Mit­scher­lich woll­ten in die­sem Buch die „Grund­la­gen kol­lek­ti­ven Ver­hal­tens“ erkun­den, und es ging ihnen spe­zi­ell um die Bewäl­ti­gung der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­gan­gen­heit und all­ge­mein um den Umgang von Ein­zel­nen oder einer Gemein­schaft mit der Schuld oder Mit­schuld an Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit. Die Mit­scher­lichs sahen in der bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Gesell­schaft der 1960er Jah­re mehr Ver­drän­gungs- und Ver­leug­nungs­stra­te­gien am Werk und nur wenig Bereit­schaft, Trau­er zu emp­fin­den oder die Fähig­keit, Schmerz über die bei­spiel­lo­sen Ver­bre­chen der Hit­ler­jah­re zu ver­spü­ren, die um 1965 zum Bei­spiel im Frank­fur­ter Ausch­witz-Pro­zess vor Gericht ver­han­delt wur­den.

Der 1908 gebo­re­ne Alex­an­der Mit­scher­lich hat­te 1947 an den Nürn­ber­ger Ärz­te­pro­zes­sen teil­ge­nom­men und dar­über in einem Buch mit dem Titel „Medi­zin ohne Mensch­lich­keit“ berich­tet, ohne auf irgend­ei­ne Reso­nanz zu tref­fen, was ihn bit­ter ent­täusch­te. Die­se Erfah­rung ver­ar­bei­te­te er mit sei­ner Frau in Essays über „Die Unfä­hig­keit zu trau­ern“, wobei der damals 20-jäh­ri­ge Autor die­ses Bei­trags das Buch der Mit­scher­lichs zwar in der Hand gehal­ten, aber weder gekauft noch gele­sen hat. Ihn fas­zi­nier­te der Titel, des­sen For­mu­lie­rung ihn unmit­tel­bar an etwas ande­res den­ken ließ, näm­lich an die Unfä­hig­keit sei­ner Mit­men­schen sich zu freu­en, zum Bei­spiel über das Wis­sen, das ihnen zur Ver­fü­gung stand. Und die­ses Unver­mö­gen macht ihn bis heu­te trau­rig, anders als die Freud­lo­sen selbst.

Ich hat­te 1967 mit dem Stu­di­um der Phy­sik begon­nen und dabei unmit­tel­bar spü­ren kön­nen, was ich bereits 1962 noch als Schü­ler mit ange­hal­te­nem Atem bei Albert Ein­stein gele­sen hat­te, als der gro­ße Mann erklär­te, „Wie ich die Welt sehe“ und mein­te, „Das Schöns­te, das Men­schen erle­ben kön­nen, ist das Geheim­nis­vol­le“, und Schö­nes macht Freu­de, was denn sonst? Tat­säch­lich: In mir mach­te sich unter ande­rem beim Stu­di­um von Ein­steins geheim­nis­vol­len Theo­rien über einen mys­te­riö­sen Kos­mos ein unheim­li­ches Grund­ge­fühl der Freu­de breit, das sich im Lau­fe des Stu­di­ums – trotz aller Prü­fungs­ter­mi­ne – immer wei­ter stei­ger­te. Ich ersetz­te für mich das phi­lo­so­phi­sche Dik­tum „Ich weiß, dass ich nicht weiß“ durch das wis­sen­schaft­li­che Bekennt­nis „Ich weiß, dass die Welt geheim­nis­voll und damit schön ist“, was sich auch mit ande­ren Wor­ten sagen lässt, näm­lich, „Ich weiß, dass ich wis­sen will und Wis­sen lebens­lang Freu­de macht“. Was denn sonst?

»Die ande­re Bil­dung: Was man von den Natur­wis­sen­schaf­ten wis­sen soll­te« von Ernst Peter Fischer erschien 2001 als Reak­ti­on auf »Bil­dung. Alles, was man wis­sen muss« (1999). Dar­in hat­te der Lite­ra­tur­pro­fes­sor Diet­rich Schwa­nitz einen Bil­dungs­ka­non mit Fokus auf Geschich­te, Lite­ra­tur, Phi­lo­so­phie, Musik und Bil­den­de Kunst auf­ge­stellt, die Natur­wis­sen­schaf­ten kom­men jedoch nur als Rand­the­ma vor. Ent­spre­chend arbei­tet Ernst Peter Fischer in sei­nem Buch die Natur­wis­sen­schaf­ten und deren Erkennt­nis­se als wich­tig für die All­ge­mein­bil­dung her­aus.

Aller­dings ver­miss­te ich die­se Hal­tung in mei­ner Umge­bung, in der man sogar anfing, die Sokra­ti­sche Skep­sis um ihr Gegen­teil zu erwei­tern, als die Fra­ge gestellt wur­de, ob die Men­schen nicht inzwi­schen zu viel wüss­ten, etwa über Ato­me und Gene. Als ob die­se Grund­ele­men­te sowohl des Den­kens als auch der mate­ri­el­len wie der leben­den Welt jemals ihre Geheim­nis­se preis­ge­ben wür­den. Mit jedem Fort­schritt der Wis­sen­schaft nahm doch das Mys­te­riö­se der Din­ge zu, es wur­de immer bes­ser mög­lich, das von Ein­stein beschwo­re­ne Grund­ge­fühl zu spü­ren, das mit dem Erle­ben des Schö­nen in Natur und Wis­sen­schaft ein­her­geht. Wer sich etwa in die Phy­sik ver­tieft, kann zwar ler­nen, „Wis­sen ist Macht“, doch er kann eben­falls ent­zückt aus­ru­fen, „Wis­sen macht Freu­de“, und das treibt die Men­schen an. Plötz­lich kam mir der Mit­scher­lich-Titel nicht mehr stim­mig vor. Was die Deut­schen aus­zeich­ne­te, was nicht ihre „Unfä­hig­keit zu trau­ern“, son­dern ihre „Unfä­hig­keit sich zu freu­en“, und dar­an hal­ten sie bis in die Gegen­wart ver­bis­sen fest, wenn sie sich nicht über die rasche Ver­füg­bar­keit vom Impf­stof­fen freu­en, son­dern lie­ber deren Risi­ken fürch­ten. Lei­der hat bis­lang nie­mand ein Buch mit die­sem Titel geschrie­ben, das weder von Jecken han­delt noch am Bal­ler­mann spielt und auch kein Pro­sit der Gemüt­lich­keit ver­kün­det. Freu­de durch Wis­sen zu ver­brei­ten, wäre wich­tig. Kei­ne Angst vor dem Wis­sen erzeu­gen, wie es Ethik­rä­te unter­neh­men, ohne selbst zu wis­sen, wel­ches es zu erwer­ben gilt.

Natür­lich galt es, die gesell­schafts­po­li­ti­sche Mah­nung der Mit­scher­lichs zu beher­zi­gen und sich mit dem Holo­caust zu beschäf­ti­gen, wes­halb ich auch 1965 für zwei Tage zum Ausch­witz-Pro­zess gefah­ren war und dar­über für eine Schul­zei­tung unter der Über­schrift „Hit­ler ist kein Ali­bi“ berich­tet habe. Aber ich woll­te nicht nur trau­ern über die Poli­tik­ge­schich­te, son­dern mich auch und letzt­lich vor allem freu­en über die Wis­sen­schafts­ge­schich­te und mei­ne aus ihr erwach­sen­de Mög­lich­keit, von den Geheim­nis­sen der Phy­sik zu erfah­ren. Ich woll­te über die in ihren Büchern ver­sam­mel­ten Ein­sich­ten stau­nen, die sie auf der einen Sei­te immer wei­ter ver­tief­ten, wäh­rend sie zugleich auf der ande­ren Sei­te den Inge­nieu­ren wei­te­re Mög­lich­kei­ten lie­fer­ten, durch tech­ni­sche Umset­zun­gen die Exis­tenz­be­din­gun­gen auf der Erde zu erleich­tern und der Medi­zin bes­se­re Werk­zeu­ge in die Hän­de zu geben, um mit ihrer Hil­fe den Krank­hei­ten der Pati­en­ten Paro­li zu bie­ten.

Im Lau­fe des Stu­di­ums habe ich mich des­halb immer mehr über das eige­ne Leben und das der ande­ren freu­en kön­nen, da die Wis­sen­schaft über tech­ni­sche Ent­wick­lun­gen oder che­mi­sche Anwen­dun­gen den Ein­zel­nen vie­les ermög­lich­te – damals kam die Anti­ba­by­pil­le auf, man konn­te güns­tig in die Feri­en flie­gen, am Him­mel lie­ßen sich nachts Satel­li­ten ver­fol­gen, im Fern­se­hen konn­te man Direkt­über­tra­gun­gen von der Mond­lan­dung ver­fol­gen, es gab bald ers­te Taschen­rech­ner und immer bes­se­re und bil­li­ge­re Tran­sis­tor­ra­di­os zu kau­fen, die Trans­plan­ta­ti­on eines Her­zens gelang, die Bahn bot einen Trans-Euro­pa-Express an und so wei­ter und so fort. In mei­nen Stu­den­ten­ta­gen ent­war­fen küh­ne Futu­ro­lo­gen die „Die Zukunft des Men­schen“ und „Wege in das Jahr 2000“, an deren Ende den Leben­den so etwas wie para­die­si­sche Zustän­de ver­spro­chen wur­den, und wenn das damals auch nie­mand wört­lich gemeint hat, so schien man doch allen Grund zu haben, opti­mis­tisch zu sein und sich auf die nur auf Fort­schrit­te bedach­te Ent­wick­lung von Wis­sen­schaft und Tech­nik zu freu­en. In der Bio­lo­gie trumpf­te die Mole­ku­lar­ge­ne­tik auf, die Infor­ma­tik wur­de begrün­det, die bald Mikro­pro­zes­so­ren lie­fer­te, Laser­licht kam im Ope­ra­ti­ons­saal und im CD-Play­er zum Ein­satz, der Lap­top wur­de kon­zi­piert und PCs tauch­ten in den Läden auf. Man soll sich ruhig dar­an erin­nern, was so alles noch auf den Weg gebracht wor­den ist: Das Zeit­al­ter der Kunst­stof­fe begann, die heu­te auf bes­ser umwelt­ver­träg­li­che Wei­se pro­du­ziert wer­den, Viren wur­den als Erre­ger von Tumo­ren erkannt und für den Pro­sta­ta­krebs wur­de eine Hor­mon­be­hand­lung ent­wi­ckelt, die Holo­gra­phie kam auf, Supra­lei­ter wur­den ver­stan­den und nutz­bar gemacht, die Radio­as­tro­no­mie kam in Gang, mit der das Uni­ver­sum reich­hal­ti­ger und grö­ßer wur­de – und das ist nur eine klei­ne Aus­wahl aus einer über­bor­den­den Men­ge von wis­sen­schaft­li­chen Fort­schrit­ten, über die ich mich sehr gefreut und gestaunt habe und von denen ich mein Leben lang nicht las­sen woll­te und immer noch begeis­tert erzäh­len möch­te.

Aber die Men­schen um mich her­um haben anders reagiert, vor allem, als in den 1970er Jah­ren die Gen­tech­nik vor­ge­stellt wur­de und sich der Gedan­ke an den Umwelt­schutz mel­de­te, der das Ein­hal­ten von „Limits to Growth“, also von „Gren­zen beim Wachs­tum“ anmahn­te, wie es ein damals erschie­ne­nes Buch nann­te, des­sen Titel in Deutsch­land falsch über­setzt wur­de, um als „Gren­zen des Wachs­tums“ mehr Angst zu schü­ren. Ins­ge­samt wan­del­ten die Men­schen damals ihre alte Angst vor den Natur­er­schei­nun­gen – wie Wir­bel­stür­men, Über­schwem­mun­gen, Miss­ern­ten oder Pla­gen – in eine neue Angst vor den Natur­wis­sen­schaf­ten um. Sie woll­ten nichts mehr von Fort­schrit­ten hören, die immer mit einer Zunah­me an Ein­fluss auf die Natur ver­bun­den sind, und ver­wie­sen von nun an vor allem auf die Risi­ken, die mit den wis­sen­schaft­li­chen Ent­wick­lun­gen in die Welt kom­men. Sie waren und sind wirk­lich unfä­hig, sich über das erwor­be­ne Wis­sen zu freu­en, und wer das bezwei­felt, darf an den viel zitier­ten Sig­mund Freud erin­nert wer­den, der sowohl die Ein­sicht des Koper­ni­kus über eine im Kos­mos beweg­te Erde als auch das Ver­ständ­nis von Charles Dar­win über die evo­lu­tio­nä­re Geschich­te des Men­schen als Krän­kung bezeich­net hat und dabei bis heu­te auf den Jubel des Feuil­le­tons trifft. Zwar ist Unsinn, was Freud da behaup­tet – Koper­ni­kus hat die Men­schen tat­säch­lich auf eine himm­li­sche Umlauf­bahn und damit näher zu den Göt­tern gebracht, und Dar­win zufol­ge kann der Mensch sei­ne Spit­zen­stel­lung in der Natur behal­ten, nur dass er sie nicht mehr einem Gott, son­dern sei­nem eige­nen Tun ver­dankt –, aber um sich nicht über die wis­sen­schaft­li­chen Ein­sich­ten über Ort und Rol­le des Men­schen in der Welt freu­en zu müs­sen, lässt man sie als Krän­kun­gen erschei­nen. Und dane­ben hört und liest man immer wie­der das Ver­dikt des gro­ßen Sozio­lo­gen Max Weber, der den Unsinn von einer wis­sen­schaft­li­chen Ent­zau­be­rung der Welt in die­sel­be gesetzt hat, wobei die beju­bel­te Frech­heit der in Webers Fahr­was­ser segeln­den Intel­lek­tu­el­len dar­in besteht, die angeb­li­che Ent­zau­be­rung der Welt als Pro­gramm der Auf­klä­rung zu dif­fa­mie­ren.

Es ist ein Trau­er­spiel, wie wenig Freu­de die kri­ti­sche Intel­lek­tu­el­len­schar am eige­nen Wis­sen emp­fin­det und wie wenig sie von dem Glücks­ge­fühl ver­steht, die Natur­for­scher dank ihrer Ein­sich­ten erle­ben. Ein­stein hat ger­ne von der inne­ren Erre­gung erzählt, die sich sei­ner bemäch­tig­te, als Expe­ri­men­te sei­ne Theo­rien über den Kos­mos bestä­tig­ten. Aus der jüngs­ten Geschich­te der Mole­ku­lar­bio­lo­gie sind Ver­hal­tens­wei­sen von Akteu­ren bekannt, die man als „hei­li­ge Eksta­se“ bezeich­nen kann, wobei die­ser Aus­druck von Johan­nes Kep­ler stammt, der in den damit gemein­ten Jubel aus­brach, als er sei­ne Pla­ne­ten­ge­set­ze for­mu­lie­ren konn­te. All die­se Erkennt­nis­se ver­zau­bern die Welt, die Wis­sen­schaf­ten ver­tie­fen mit ihren Ein­sich­ten das Geheim­nis­vol­le der Exis­tenz und könn­ten die Men­schen mit Freu­de erfül­len, wenn sie nicht eine hart­nä­cki­ge Freud­lo­sig­keit an den Tag legen wür­den, die aller­dings sinn­voll wäre, bezö­ge sich die ers­te Sil­be von Freud­lo­sig­keit auf den Psy­cho­ana­ly­ti­ker selbst. Es ist erstaun­lich – Dok­tor Freud erzählt davon, dass die Zunah­me des Wis­sens Men­schen kränkt, und man wun­dert sich, dass er sich als See­len­arzt über sei­ne Dia­gno­se freu­en kann. Wenn man Men­schen hel­fen will – und was soll­te ein Arzt sonst wol­len? –, muss man ihnen erklä­ren, dass Wis­sen Freu­de macht. Ein­sicht – so sagt man – ist der ers­te Weg zur Bes­se­rung. In dem Fal­le geht es um die Ein­sicht, dass die Öffent­lich­keit der „Unfä­hig­keit zu trau­ern“ mehr Auf­merk­sam­keit zukom­men lässt als der eige­nen „Unfä­hig­keit sich zu freu­en“, was zu ändern ist. Wo der Deut­sche hin­grü­belt, wächst bekannt­lich kein Gras mehr, und das Pflänz­lein der Wis­sen­schaft stirbt ab. Das wäre tat­säch­lich ein Grund zur Trau­er. Sie lässt sich mit der Freu­de am Geheim­nis­vol­len ver­mei­den. Die Ver­zau­be­rung der Welt gelingt durch die Ver­su­che ihrer Erklä­rung. Das ist das Schöns­te, das Men­schen pas­sie­ren kann, und die­ses Erle­ben lässt ihnen kei­ne Zeit für etwas ande­res. 

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