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Freiheit, Chance oder Herausforderung?

Recht auf Selbstbestimmung des Lebensendes

Bundesverfassungsgericht
Im Februar 2020 kippte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den Paragraf 217 StGB („Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“). In der Begründung des wegweisenden Urteils ging es jedoch noch weit über den eigentlichen Auftrag, nämlich die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, hinaus. Gesellschaft und Gesetzgeber sind nunmehr herausgefordert, sich mit einer Thematik auseinanderzusetzen, mit denen sich beide schwertun: mit der eigenen Endlichkeit, einem kollektiv und individuell lange Zeit verdrängten, letztlich aber dann doch jeden Einzelnen betreffenden Ereignis.

In der Aus­ein­an­der­set­zung mit der Selbst­be­stim­mung des Lebens­en­des pral­len nicht nur kon­trä­re tra­di­tio­nel­le gesell­schaft­li­che Ein­stel­lun­gen, diver­gie­ren­de reli­giö­se Ansich­ten, phi­lo­so­phi­sche Fra­ge­stel­lun­gen sowie ethi­sche, medi­zi­ni­sche und vor allem natür­lich auch juris­ti­sche Ansich­ten auf­ein­an­der. Es geht hier­bei auch um Aspek­te wie Indi­vi­dua­li­tät und kol­lek­ti­ve Ver­ant­wor­tung, die die drin­gend not­wen­di­ge Dis­kus­si­on um den rich­ti­gen Umgang mit den Fra­gen nach Zeit­punkt und Art der eige­nen Sterb­lich­keit mit­un­ter der­art über­la­gern und emo­tio­na­li­sie­ren, dass vie­le Men­schen auch wei­ter­hin das tun, was sie schon immer getan haben: sich der not­wen­di­gen Teil­ha­be ver­wei­gern und hof­fen, dass die­ser Krug doch bit­te an ihnen vor­über­ge­hen möge.

Dies kommt nicht von unge­fähr und fällt letzt­lich auch leicht, weil sie dem Men­schen dabei hilft, das evo­lu­tio­nä­re Para­do­xon sei­ner indi­vi­du­el­len Exis­tenz – das Feh­len einer ratio­na­len Hand­lungs­stra­te­gie für den letz­ten Schritt im vol­len Bewusst­sein der eige­nen End­lich­keit – zu ver­drän­gen und die Ver­ant­wor­tung hier­über an den Zufall (das Schick­sal?) bzw. das gesell­schaft­li­che Kol­lek­tiv abzu­ge­ben.

Aber was, wenn auch das Kol­lek­tiv an die­ser Auf­ga­be schei­tert? Was, wenn die Gesell­schaft unter dem Ein­fluss reli­giö­ser, ethi­scher, medi­zi­ni­scher und juris­ti­scher Strö­mun­gen pro for­ma zwar ein­wand­freie Detail­lö­sun­gen anbie­tet und immer neue Stra­te­gien ent­wi­ckelt, um Erkran­kun­gen zu ver­hin­dern, vor­zu­beu­gen und zu behan­deln, nur um dann letz­ten Endes doch an der Unaus­weich­lich­keit des Todes und der mit der gefor­der­ten Selbst­be­stim­mung ver­bun­de­nen gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Her­aus­for­de­rung zu zer­bre­chen?

Fehlausrichtung der Medizin?

War­um pfu­schen wir der Natur tag­täg­lich mit allem, was wir kön­nen und haben, ins Hand­werk und beein­flus­sen künst­lich den natür­li­chen Ver­lauf von Krank­hei­ten und Unfäl­len, nur um am Ende – also dann, wenn es zu dem ent­schei­den­den Akt kommt, der einer medi­zi­ni­schen Hil­fe bedürf­te – die Hän­de in den Schoß zu legen und uns auf das Beglei­ten des unab­wend­bar schick­sal­haf­ten Ver­laufs zu beschrän­ken?

Viel­leicht erklärt sich die­ses Dilem­ma durch eine der grund­sätz­li­chen (Fehl-)Ausrichtungen der moder­nen Medi­zin: Die­se defi­niert sich vor allem dar­über, was sie alles gegen Din­ge tun kann, die das Leben eines Men­schen qua­li­ta­tiv beein­träch­ti­gen oder quan­ti­ta­tiv bedro­hen – doch nur sehr wenig für die Din­ge, die ein gutes Leben aus­ma­chen. Die Absur­di­tät einer auf die Behand­lung des fak­tisch ein­ge­tre­te­nen Scha­dens fokus­sie­ren­den Medi­zin wird den Her­aus­for­de­run­gen des 21. Jahr­hun­derts schon lan­ge nicht mehr gerecht. Gesetz­li­che Kran­ken­ver­si­che­run­gen, die die Über­nah­me prä­ven­tiv wir­ken­der Gesund­heits­maß­nah­men ver­wei­gern und sich dies­be­züg­lich hin­ter pseu­do­ra­tio­na­li­sie­ren­den Nut­zen­ana­ly­sen ver­ste­cken, ver­ken­nen die ent­schei­den­den Auf­ga­ben der Gesund­heits­für­sor­ge unse­rer Zeit.

Ein gutes, ein gehalt­vol­les, ein lust­vol­les und beja­hen­des Leben ist eben sehr viel mehr als nur die Abwe­sen­heit von kör­per­li­cher Krank­heit und see­li­schem Leid; es ist nicht nur die objek­ti­vier­ba­re Anein­an­der­rei­hung und Samm­lung von Lebens­zeit, krank­heits- und beschwer­de­frei­en Tagen und die Erfül­lung indi­vi­du­el­ler, fami­liä­rer, beruf­li­cher oder gesell­schaft­li­cher Erwar­tun­gen, son­dern ergibt sich ein­zig und allein als das sub­jek­ti­ve Ergeb­nis einer indi­vi­du­el­len Bilan­zie­rung.

In den Aus­füh­run­gen zum Urteil gegen den § 217 hat das BVerfG genau die­ses Recht auf Indi­vi­dua­li­tät unter­stri­chen und ver­deut­licht, dass das Ergeb­nis einer der­ar­ti­gen Bilan­zie­rung von Drit­ten auch dann zu akzep­tie­ren ist, wenn es nega­tiv aus­fällt und (ratio­nal bzw. objek­tiv) nicht nach­voll­zo­gen wer­den kann. Das, was das Leben in der Sum­me all sei­ner Kom­po­nen­ten letzt­lich aus­macht, das, was wir als lebens­wert emp­fin­den, all das defi­niert sich aus­schließ­lich aus der jewei­li­gen sub­jek­ti­ven Sicht des Ein­zel­nen. Es bedarf kei­ner kri­ti­schen Begut­ach­tung, kei­ner gesell­schaft­li­chen, reli­giö­sen oder wie auch immer sonst gear­te­ten Bil­li­gung, son­dern aus­schließ­lich der Tole­ranz und der Ach­tung der Ent­schei­dun­gen Ein­zel­ner.

Eine Entscheidung trifft man immer

Gesell­schaft und Gesetz­ge­ber sind also gefor­dert, die für sol­che indi­vi­du­el­len Ent­schei­dun­gen not­wen­di­gen Rah­men­be­din­gun­gen zu schaf­fen. Und jeder ein­zel­ne Mensch ist gefor­dert, für sich zu klä­ren, wel­chen Weg er wie und wann gehen bzw. ob er die Gestal­tung sei­nes Lebens­en­des aktiv mit­ge­stal­ten oder pas­siv erdul­den möch­te. Der indi­vi­du­el­len Aus­ein­an­der­set­zung mit die­ser Fra­ge kann (und darf) man sich, mehr oder weni­ger lan­ge ent­zie­hen. Letzt­end­lich trifft man jedoch auch mit die­ser pas­si­ven Hal­tung eine Ent­schei­dung, die genau­so zu akzep­tie­ren ist, wie die hin­sicht­lich des Wun­sches nach einer aktiv(er)en Ein­fluss­nah­me auf Zeit­punkt und Umstand des eige­nen Able­bens.

Dame Cice­ly Saun­ders, die „Gran­de Dame der Pal­lia­tiv­me­di­zin“, hat mit Ihrer For­de­rung „dem Leben nicht mehr Tage, son­dern den Tagen mehr Leben zu geben“ für die­se sub­jek­ti­ve Bilan­zie­rung eine ent­schei­den­de Hil­fe­stel­lung gege­ben. Lei­der wird die­ser Anspruch gera­de in der moder­nen Pal­lia­tiv­me­di­zin auf die Lin­de­rung von krank­heits­be­ding­tem kör­per­li­chem Leid und objek­ti­vier­ba­rem Siech­tum redu­ziert, wohin­ge­gen Wür­de, Selbst­be­stim­mung und Auto­no­mie als indi­vi­du­ell ent­schei­den­de Fak­to­ren von kör­per­li­cher und see­li­scher Lebens­qua­li­tät ver­nach­läs­sigt bzw. im pal­lia­tiv­me­di­zi­ni­schen Kon­text ger­ne rela­ti­viert wer­den.

Vie­le der mit der Lebens­end­pha­se ver­bun­de­nen Sym­pto­me und Beschwer­den kön­nen heu­te schmerz- und pal­lia­tiv­me­di­zi­nisch gelin­dert und die mit der Lebens­end­lich­keit ver­bun­de­nen Ängs­te ratio­na­li­siert bzw. spi­ri­tu­ell beglei­tet wer­den. Doch wür­de­voll ist das Ster­ben nur in den wenigs­ten Fäl­len – zumin­dest aus Sicht Betrof­fe­ner. War­um der Mensch sich anmaßt, das mit fort­ge­schrit­te­ner Krank­heit ver­bun­de­ne Leid bei sei­nen tie­ri­schen Weg­ge­fähr­ten durch die Gna­de eines medi­ka­men­tös indu­zier­ten „Ein­schlä­ferns“ zu lin­dern, sich selbst aber dem lau­ni­schen Schick­sal des natür­li­chen Ver­laufs aus­setzt, lässt sich in unse­rem sonst recht libe­ral auf­ge­stell­ten Land nur durch die tra­di­tio­nell star­ke Ein­fluss­nah­me christ­li­cher Reli­gio­nen erklä­ren.

Selbst- vs. Fremdbestimmung

Zuneh­mend wird in Deutsch­land der Wunsch nach einem selbst­be­stimm­ten Lebens­en­de bei Pal­lia­tiv­pa­ti­en­ten in der unmit­tel­ba­ren Lebens­end­pha­se und zum Teil auch bei Men­schen mit einer abseh­bar lebens­li­mi­tie­ren­den, aber akut noch nicht lebens­be­droh­li­chen Erkran­kung, gesell­schaft­lich dis­ku­tiert. Doch ent­spre­chen­de Über­le­gun­gen von ander­wei­tig nicht lebens­be­droh­lich (aber eben auch unbe­han­del­bar) chro­nisch kran­ken oder gar gesun­den Men­schen wer­den in der Gesell­schaft unver­än­dert nicht akzep­tiert, im Gegen­teil: Betrof­fe­nen wird ange­sichts der­ar­ti­ger Vor­stel­lun­gen ger­ne eine psych­ia­tri­sche Stö­rung mit ent­spre­chen­der Ein­schrän­kung der frei­en Ver­ant­wort­lich­keit und unzu­rei­chen­der Ein­sicht in die Trag­wei­te ihrer Ent­schei­dung unter­stellt.

Dabei hat das BVerfG in sei­nem weg­wei­sen­den Urteil vom Febru­ar 2020 auch exakt zu die­sem Punkt Stel­lung bezo­gen und for­mu­liert, „dass ein umfas­sen­des Recht auf selbst­be­stimm­tes Ster­ben […] in jeder Pha­se der mensch­li­chen Exis­tenz“ besteht und „die­ses Recht nicht auf fremd­de­fi­nier­te Situa­tio­nen, wie schwe­re und unheil­ba­re Krank­heits­zu­stän­de oder bestimm­te Lebens- und Krank­heits­pha­sen, beschränkt sein“ darf.

In die­sem Kon­text ist das Wort „selbst­be­stimmt“ zen­tral, denn der Gesetz­ge­ber wird vom BVerfG „berech­tigt sicher­zu­stel­len, dass die Ent­schei­dung zum Sui­zid ernst­haft und dau­er­haft ist sowie frei und auto­nom getrof­fen wird“, um Fremd­ein­wir­kung aus­zu­schlie­ßen und der Gefahr der Fremd­be­stim­mung des Wer­tes eines Lebens (ins­be­son­de­re hin­sicht­lich der hier beson­de­ren geschicht­li­chen Ver­ant­wor­tung Deutsch­lands) einen not­wen­di­gen Rie­gel vor­zu­schie­ben.

Vor die­sem Hin­ter­grund eröff­nen sich durch das Urteil des BVerfG für vie­le Men­schen mit schwer­wie­gen­den, kura­tiv nicht behan­del­ba­ren chro­ni­schen Erkran­kun­gen und ent­spre­chen­den Ein­schrän­kun­gen der kör­per­li­chen wie see­li­schen Lebens­qua­li­tät sowie schwe­ren Ein­schrän­kun­gen der akti­ven Teil­ha­be am pri­va­ten, beruf­li­chen, gesell­schaft­li­chen und sozia­len Leben nun durch­aus neue Per­spek­ti­ven auf das Ergeb­nis ihrer indi­vi­du­el­len Lebens­bi­lan­zie­rung zu ant­wor­ten.

Debatte um Selbstbestimmung erfordert breite(re) Teilhabe

Ange­sichts der fun­da­men­ta­len Bedeu­tung der durch das Urteil des BVerfG so pro­mi­nent ins Bewusst­sein gerück­ten Selbst­be­stim­mungs­de­bat­te ver­wun­dert die gerin­ge akti­ve Teil­ha­be der­je­ni­gen, die es betrifft: der all­ge­mei­nen Öffent­lich­keit. Statt brei­ter, offe­ner gesell­schaft­li­cher Dis­kus­sio­nen erle­ben wir Stell­ver­tre­ter­de­bat­ten zwi­schen Ange­hö­ri­gen ver­schie­de­ner Pro­fes­sio­nen. Juris­ten, Ethi­ker, Medi­zi­ner, Poli­ti­ker, Geist­li­che, Poli­zis­ten und vie­le ande­re mehr mel­den sich zu Wort und geben kund, wie aus die­ser oder jener Sicht die vom BVerfG gefor­der­te Ver­pflich­tung aller staat­li­chen Gewalt zu Ach­tung und Schutz der Selbst­be­stim­mung (auch über den Tod hin­aus) als Aus­druck der unan­tast­ba­ren Men­schen­wür­de ent­spre­chend §1 des Grund­ge­set­zes ver­stan­den und for­mal aus­ge­stal­tet wer­den müs­se.

Ver­schie­de­ne Ent­wür­fe und Vor­schlä­ge wer­den der­zeit als Grund­la­ge für ein neu­es Gesetz­ge­bungs­ver­fah­ren dis­ku­tiert. Kei­ner von ihnen wird die not­wen­di­ge akti­ve Teil­ha­be aller Tei­le der Gesell­schaft und den wich­ti­gen Dis­kurs erset­zen, den es in Fami­li­en und Bezie­hun­gen mit Ver­wand­ten, Freun­den und Bekann­ten offen zu füh­ren gilt – wenn wir die sich aus dem Urteil des BVerfG erge­ben­den For­de­run­gen ernst neh­men wol­len.

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