Eine mögliche Verhütung von Selbsttötungen ist Kern jeder Krisenhilfe, psychiatrischer Behandlung und auch eines humanistischen Grundverständnisses, wenn wir Menschen in seelischer, körperlicher oder sozialer Not begegnen.
Unter dem Begriff Suizidprävention kann die Gesamtheit von Maßnahmen, sozialen Strategien, professionellen Hilfen und menschlichen Zuwendungen verstanden werden, um bei Suizidgedanken und ‑plänen – aufgrund etwa von persönlicher Krise, Depression oder schwerer körperlichen Erkrankung – zum Weiterleben zu motivieren. Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention nimmt sich seit Jahrzehnten der Verhinderung von Selbsttötungen an. Deren Zahl beim Statistischen Bundesamt unbedingt verringern zu wollen, gilt als ihr selbstverständliches und nicht hinterfragbares Ziel. Dabei hat sich inzwischen in den psychiatrischen Ansätzen zwar eine Grundhaltung zu den Patient*innen insofern gewandelt: Der Selbsttötung soll nicht mehr mit dem Stigma von Schuldhaftigkeit, Verdammnis und drohenden Zwangsmaßnahmen entgegengetreten werden. Angesagt ist vielmehr eine nur latente Beeinflussungsabsicht mit weitestgehender Akzeptanz – allerdings unter Ausschluss des Suizids als Handlungsoption. Fragwürdig bleibt das durchgängig anzutreffende therapeutische Professionalitätsverständnis, eine autonom mögliche Willensentscheidung zum Freitod grundsätzlich zu leugnen und auch ein bilanziert abgewogenes Suizidhilfebegehren aufgrund von Alter und Lebenssattheit abzuwehren.
Dabei stellen die Suizide von hochbetagten Senior*innen etwa durch überdosierte Medikamente oder durch oft brachiale Methoden wie Sich-Erhängen eine zunehmende Herausforderung dar. Die über 80-Jährigen machen mit erheblichem Abstand auch die größte Gruppe derjenigen aus, die auf Grund von Gebrechen oder „Lebenssattheit“ heute mit Suizidassistenz aus dem Leben scheiden. Von Sterbehilfeorganisationen werden die jährlich steigenden Zahlen ihrer entsprechenden Freitodbegleitungen öffentlich kundgetan. Sollte dabei nicht weder eine Verringerung noch eine Erhöhung von Selbsttötungsraten das abstrakte Ziel sein – sondern das Schicksal konkreter Individuen in den Blick genommen werden?
Forderung nach redlicher Ergebnisoffenheit
Präventionsmaßnahmen gehen in psychiatrisch dominierten Kreisen üblicherweise mit einer Ablehnung von ärztlich assistiertem Suizid und organisierter Sterbehilfe einher. Eine damit verbundene anti-emanzipatorische Tendenz wird inzwischen auch als solche benannt und zunehmend zurückgewiesen – so etwa im eben erschienenen Sammelband „Assistierter Suizid“ von fast allen der elf namhaften Autor*innen (Kohlhammer-Verlag, 2025, Hrsg. Matthias Thöns). Dort wird ein klientenorientiertes Beratungsmodell bei Sterbewunsch im Sinne des Humanistischen Verbandes Deutschlands im Kapitel 6 vorgestellt. Dieses endet mit dem Fazit:
„Suizidalität erstreckt sich von gelegentlicher Gestimmtheit, Lebenssattheit, Depression […] über Hoffnung auf ein baldiges Ende oder spontanen Suizidversuch aufgrund psychischer Erkrankung, bis hin zu begründbarem Ersuchen um Suizidassistenz oder planmäßiger Durchführung einer Selbsttötung […]. Eine redliche Ergebnisoffenheit kann sich nicht nur auf eine respektvolle Gesprächsebene beschränken, sondern hat auch die reale Handlungsebene mit einzubeziehen. Sie muss darauf hinwirken, dass ein vorrangiges oder gar ausschließliches Ziel zur Reduzierung aller Suizide hinter sich gelassen wird“.
Würde der Präventionsbegriff „auch zur Verhütung von freiverantwortlichen und wohldurchdachten Suiziden missbraucht“, heißt es dort schließlich, „würde er ins Negative, Autonomieverletzende und Bedrohliche umkippen. Er verlöre damit seine ursprünglich so wohlklingende und rein menschenfreundliche Bedeutung.“
Traditionelles Suizidpräventionsprogramm
Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) war Anfang der 2000er Jahre Initiatorin und ist seitdem Förderin des Nationalen Suizidpräventionsprogramm (NaSPro). Ihrem Anliegen haben sich neben der bedeutenden Psychiatrie-Fachgesellschaft DGPPN viele verschiedene Projekte, Institutionen und Verbände angeschlossen. Auf der DGS-Internetseite Suizidprophylaxe sind hunderte nach Bundesländern sortierte Kontaktadressen gelistet. Auf der Startseite wird unter „Allgemeine Kontakte“ allerdings nur auf die bundesweite Telefonseelsorge sowie „Nummer gegen Kummer“ für Kinder, Jugendliche und deren Eltern verwiesen.
Das Thema Wenn das Altwerden zur Last wird hatte eine spezielle Arbeitsgruppe des NaSPro schon sehr früh sensibel und mitfühlend in einer gleichnamigen Broschüre aufgegriffen (3. Auflage 2006). Darin wurden damals als Möglichkeiten, einer Suizidgefährdung entgegenzuwirken, je nach Anlass und örtlicher Verfügbarkeit vor allem aufgeführt: Beratungsstellen und Hospizdienste, fachärztliche Therapie und seelsorgerischer Beistand, juristische Hilfe zu Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung – sowie allerdings auch: Polizeiruf und sozialpsychiatrischer Dienst (zu einer möglichen Zwangseinweisung). Bis auf die letzte Empfehlung gab es zu der Zeit einen ähnlichen Praxisansatz des HVD in Berlin, bestehend aus Angeboten in eigener verbandlicher Trägerschaft: Besuchs- und Hospizdienst, Lebenshilfe- und Patientenverfügungs-Stellen, rechtliche Betreuung gemäß Bürgerlichem Gesetzbuch, Trauer- und andere Selbsthilfegruppen – sowie letztlich angereichert auch durch mögliche Vermittlung von ärztlicher Hilfe zur Selbsttötung sowie Begleitung zum sog. Sterbefasten, einer spezifischen Form des Suizids.
Im Gespräch mit einem akut suizidalen alten Menschen ist zu beachten: Ihn in seiner Not annehmen; Ängste und Todeswünsche ansprechen und nicht werten; akute Auslöser, Umstände, soziales Umfeld erkunden; Lebensgeschichtliche Aspekte berücksichtigen; konkrete Hilfsmöglichkeiten erwägen; fortgesetzten Gesprächskontakt anbieten.
Dieser ergebnisoffene humanistische Ansatz musste von heute auf morgen eingestellt werden: Denn im Dezember 2015 wurden unter strafbarer „Suizidförderung“ auch entsprechend tabufreie Beratungs- und Informationsansätze (sogar zum Sterbefasten) kriminalisiert – durch einen neu eingeführten Strafrechtsparagrafen § 217. Er wurde dann erst gut vier Jahre später, im Februar 2020, vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) wieder gekippt.
Palliative Alternativangebote und psychiatrische Unnachgiebigkeit
An der Spitze der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention fungiert heute die Psychiaterin PD Dr. Ute Lewitzka als Vorstandsvorsitzende. Ihr Grundsatz lautet, dass jede (auch assistierte) Selbsttötung verhindert werden soll. In ähnlichem Sinn fordert die medizin-wissenschaftliche Psychiatrie-Fachgesellschaft DGPPN (2024): „Wir brauchen ein Gesetz zur Suizidassistenz.“ Diesem Ansinnen könnte zugestimmt werden, wenn es dabei um die Förderung von Rechtssicherheit für Ärzt*innen und Sterbewilligen ginge. Die Begründung der DGPPN lautet jedoch: „Denn die Zahl der assistierten Suizide steigt, ihre Durchführung ist aber unreguliert. […] Aktuell wird die Freiverantwortlichkeit einer Suizidentscheidung nicht fachgerecht geprüft.“ Die Verhütung von Suiziden durch verpflichtende psychiatrische Begutachtung hat dabei laut DGPPN wohl vorrangig dem Schutz von psychisch erkrankten Menschen zu dienen.
Demgegenüber soll der Umgang mit Sterbewünschen bei sehr schwerer, zum Tode führender Erkrankung der Palliativmedizin überlassen werden. Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin sieht Suizidhilfe zwar als legitim an (vor allem nach dem BVerfG-Urteil von 2020), aber nicht als ihre Aufgabe, sondern allenfalls als Gewissensentscheidung einzelner Ärzt*innen. Sie hat ihre Präventiv-Angebote inzwischen in Broschüren zur möglichen Verhinderung von leidvollem Sterben veröffentlicht: Begleitung beim freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken (sog. Sterbefasten), Stand 2025, 1. Aufl. 2022 und zum Thema Palliative Sedierung am Lebensende – Möglichkeiten und Grenzen (d. h. medikamentöse Bewusstseinseinschränkung oder auch ‑ausschaltung ggf. bis zum Tod), 2021 und 2024.
Unterdessen zeigt sich die Psychiaterin Ute Lewitzka von der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention als unnachgiebige Gegnerin des BVerfG-Urteils von 2020. Noch fünf Jahre später, nachdem in diesem der § 217 StGB für nichtig, da nicht verfassungskonform erklärt worden war, empört sie sich öffentlich darüber: Man mache sich keine Vorstellung über die Folgen eines damit verbundenen neuen Autonomieverständnisses für die Menschen, wenn der Staat bezüglich erlaubter Selbsttötung nun an jeden Einzelnen das Signal gesendet hat, sagen zu können: „Ich darf das – und ich darf dabei sogar andere um Hilfe bitten“ (Lewitzka am 23. Februar 2025 laut Zeit und dpa).
Neue nationale Strategie des Bundes
Die bisherigen „Anti-Suizid-Strategien“ galten allgemein als unbefriedigend bzw. sogar als gescheitert. Gemäß des Entschließungsantrags „Suizidprävention stärken“ im Bundestag vom Juli 2023 stellte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach dann im Mai 2024 eine neue Nationale Strategie vor. Dazu gehören v. a. die Schaffung von Hindernissen zur erschwerten Selbsttötung etwa durch Verkleinerung von Verpackungen mit suizidtauglichen Medikamenten, Begrenzung von verfügbaren Pestiziden o.ä. und die Errichtung von (Fenster-)Gittern oder Zäunen an häufig für Suizide genutzten Orten. Zudem sollte eine zentrale Krisendienst-Notrufnummer – etwa die 113 – eingeführt werden.
In diesem Strategiepapier heißt es: „Jährlich sind in Deutschland mehr als 9000, im Jahr 2022 sogar mehr als 10.000 Suizide zu beklagen … Noch häufiger als vollendete Suizide sind Suizidversuche – Schätzungen gehen von mindestens 100 000 pro Jahr aus.“ Jeder einzelne Fall beträfe viele weitere Menschen: „Kinder, Eltern, Verwandte, (Ehe)Partnerinnen und (Ehe)Partner und weitere An- und Zugehörige.“ Um diesem Trend entgegenzuwirken, bedürfe es „einer differenzierten Identifikation relevanter Zielgruppen“. Aufgrund der geschlechts- und altersspezifischen Statistikdaten sei klar ersichtlich, dass Männer mit persönlichen Krisen dabei in den Fokus gerückt werden müssten und zudem „Suizid zunehmend ein Phänomen des höheren Lebensalters ist“.
NaSPro-Vertreter*innen des bestehenden Suizidprävention-Netzwerks forderten dazu im Bundeshaushalt einen Fonds in Höhe von mindestens 20 Millionen Euro. Dafür könne jedoch allein eine gesetzliche Verankerung sorgen – die bis heute nicht erfolgt ist. Von der Finanzierung ausgeschlossen wären eh Humanistische Modell-Projekte, die von tiefem Verständnis geprägt sind und von einer vorurteilsfreien Kommunikation, welche auch die Handlungsoption zu Suizidhilfe und Freitod akzeptiert. Gerade sie könnten Klientengruppen ansprechen, die durch klassische Präventionsstrategien sonst nicht erreichbar sind.
Betroffener: „So dermaßen am Leben vorbei“
Wie werden (beabsichtigte) Maßnahmen und deren Erfolgsaussichten von denjenigen eingeschätzt, die selbst am Ende ihre Suizidgedanken und ‑absichten überwinden konnten? Dazu zählt Georg Rösl, Jahrgang 1976, der nach einem Psychiatrieaufenthalt eine Methode zur Selbsttherapie veröffentlicht und eine Stiftung für mentale Gesundheit gegründet hat. Denn er weiß nicht nur aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist, in unserem Land in derartigen Krisen Unterstützung zu erhalten. Seine Idee: Stellen einrichten, die mehrmals pro Woche geöffnet sind, wo Menschen offen und ganz ehrlich über Suizidgedanken sprechen können und es gut ausgebildetes Personal gibt, das auch Selbsthilfegruppen anleiten kann. Im focus-Interview (vom 9.8.2024) bewertet er die „Anti-Suizid-Strategien“ von Lauterbach und den bisherigen Präventionskonzepten wie folgt: „Das ist so dermaßen am Leben vorbei“. Das Problem sei, dass sich von oben herab die Wissenschaft und Expert*innen „in ihren weißen Kitteln“ Maßnahmen ausdenken ohne Vorstellungsvermögen oder Einfühlung, was eigentlich in Menschen vorgeht, die nicht mehr leben wollen oder können.
Für das Persönlichkeitsrecht auf die Option zum bilanzierten Alterssuizid wiederum tritt der Autor (und selbst Psychotherapeut) Hans-Joachim Schwarz, Jahrgang 1939, ein. Im o.g. Kohlhammerband (S. 106) wird er zitiert mit den Worten: „Wenn ein namhafter Suizidfachmann zu erkennen gibt, er sei im Rahmen seiner Tätigkeit noch keinem begegnet“, der in freier Entscheidung diesbezüglich seine Suizidabsichten entwickelt, „so zeigt er mit seiner Aussage auch das systematische Manko dieser Experten“: Sie bekämen nämlich niemanden mit – etwa altersbedingt – bilanzierenden Suizid-Gedanken je zu Gesicht. Schwarz fragt rhetorisch: Denn warum sollte auch ein hinreichend psychisch gesunder, selbstbewusster und ‑verantwortlicher Mensch diesbezüglich ausgerechnet eine Beratungsstelle zur Suizidprävention oder „einen Psychiater aufsuchen, von dem er ja weiß oder vermuten muss, dass dieser … eine völlig konträre Auffassung zu seiner eigenen hat?“
Das oben erwähnte Fazit im Kohlhammer-Kapitel wägt dazu ab: Gebotene Suizidprävention hat „unfreie und meist eher brutale Selbsttötungen im Affekt oder in vorübergehender Krisensituation zu vermeiden sowie akute Suizidversuche bei schwerer psychischer Störung zu verhindern.“ Das könne, anders als Pro-Freitod-Aktivist*innen oder Vertreter*innen von Sterbehilfevereinen teils anführen, durch diese kaum geleistet werden. Allerdings bestehe demgegenüber unstrittig ein „überlebensfördernder Aspekt“ darin, unentschlossenen, zögerlichen und/oder qualifizierten Rat suchenden „Menschen mit Suizidvorhaben entlastende Gespräche anzubieten oder den Raum für noch mögliche alternative Optionen zu eröffnen.“