Rede zum Volkstrauertag 2025

Zerbrechlicher Frieden – wie halten wir zusammen?

| von

Beitragsbild: Humanistische Gemeinschaft Hessen

Die Gedenkfeier zum diesjährigen Volkstrauertag im hessischen Egelsbach gestalten Kinder, Jugendliche und Erwachsene gemeinsam und legen bemalte Steine als Zeichen von Hoffnung und Zusammenhalt nieder. In ihrer Rede erinnert Christiane Herrmann von der Humanistischen Gemeinschaft Hessen daran, dass Frieden im Kleinen beginnt: in unseren Worten, Gesten und im menschlichen Miteinander.

Lie­be Anwe­sen­de,
lie­be Kin­der, lie­be Jugend­li­che, lie­be Gäs­te,

wir sind heu­te hier, um der Opfer von Krieg, Gewalt und Ter­ror zu geden­ken.
Wir den­ken an die unzäh­li­gen Men­schen, die ihr Leben ver­lo­ren haben –
an die Sol­da­ten, an die Zivil­be­völ­ke­rung,
an die, die geflo­hen sind, und an die, die geblie­ben sind.

Und wir wis­sen: Frie­den ist nichts Selbst­ver­ständ­li­ches.
Er ist kein Besitz, den man ein­mal erringt und dann behält.
Frie­den ist zer­brech­lich.
Er braucht Pfle­ge, Auf­merk­sam­keit – und Men­schen, die sich für ihn ein­set­zen.

Der Titel die­ser Fei­er – „Zer­brech­li­cher Frie­den – wie hal­ten wir zusam­men?“ – stellt eine gro­ße Fra­ge.
Eine, die uns alle betrifft.
Denn auch wenn es in Deutsch­land seit vie­len Jahr­zehn­ten kei­nen Krieg mehr gege­ben hat,
so spü­ren wir doch: Der Frie­den, den wir ken­nen, wankt.

Wir erle­ben Hass und Het­ze,
Miss­trau­en und Spal­tung,
Angst vor dem, was anders ist.
Und gleich­zei­tig sehen wir die Nach­rich­ten aus der Welt –
aus der Ukrai­ne, aus dem Nahen Osten,
aus vie­len Regio­nen, in denen Men­schen ein­an­der bekämp­fen,
weil sie ver­ges­sen haben, was sie ver­bin­det.

Dar­um ist die­ser Tag nicht nur ein Tag des Erin­nerns,
son­dern auch ein Tag des Nach­den­kens:
Was kön­nen wir tun, um zusam­men­zu­hal­ten?
Wie kann jeder ein­zel­ne Mensch dazu bei­tra­gen,
dass der Frie­den nicht zer­bricht – nicht in der Welt,
nicht in unse­rer Gesell­schaft, nicht in uns selbst?

Viel­leicht kön­nen uns dabei die Stei­ne hel­fen,
die heu­te hier gestal­tet wur­den.
Kin­der, Jugend­li­che und Erwach­se­ne haben ihre Gedan­ken dar­auf geschrie­ben oder gemalt:
Wor­te, Sym­bo­le, Far­ben des Frie­dens.

Stei­ne sind ein star­kes, schö­nes Bild.
Ein ein­zel­ner Stein wirkt unschein­bar, fast unbe­deu­tend.
Aber vie­le Stei­ne zusam­men kön­nen etwas tra­gen.
Sie kön­nen eine Mau­er stüt­zen – oder einen Weg pflas­tern.
Sie kön­nen tren­nen – oder ver­bin­den.

Es liegt an uns, was wir mit unse­ren Stei­nen tun.
Ob wir sie gegen­ein­an­der wer­fen –
oder ob wir sie neben­ein­an­der legen,
als Zei­chen dafür, dass wir ein Fun­da­ment schaf­fen wol­len:
ein Fun­da­ment des Ver­trau­ens, der Soli­da­ri­tät,
der Mensch­lich­keit.

Frie­den beginnt im Klei­nen.
In unse­ren Wor­ten,
in unse­ren Ges­ten,
in der Art, wie wir ein­an­der begeg­nen.

Frie­den beginnt dort,
wo jemand zuhört,
wo jemand teilt,
wo jemand sagt: „Ich ver­ste­he dich – auch wenn ich anders den­ke.“

Huma­nis­tisch zu leben heißt,
die Wür­de jedes Men­schen zu ach­ten,
Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men –
für mich selbst, für ande­re, für das gemein­sa­me Leben auf die­ser Erde.
Es heißt, sich nicht abzu­fin­den mit Unge­rech­tig­keit,
nicht weg­zu­se­hen, wenn jemand lei­det,
und nicht auf­zu­ge­ben, auch wenn die Welt manch­mal hart und kalt erscheint.

Denn Huma­nis­mus ist – so schlicht es klingt –
die Hal­tung, Mensch zu sein.
Mensch­lich zu den­ken.
Mensch­lich zu han­deln.

John Len­non hat die­sen Gedan­ken vor über 50 Jah­ren in Musik ver­wan­delt.
Er hat geträumt – von einer Welt ohne Gren­zen,
ohne Hun­ger, ohne Besitz­gier,
in der die Men­schen in Frie­den zusam­men­le­ben.
„Ima­gi­ne all the peo­p­le, living life in peace.“

Er wuss­te: Frie­den beginnt in der Vor­stel­lungs­kraft.
In der Fähig­keit, sich etwas Bes­se­res vor­zu­stel­len,
und den Mut zu haben, dar­an zu glau­ben.

Viel­leicht braucht es genau das wie­der –
die Fan­ta­sie, dass es auch anders gehen kann.
Dass wir uns die Welt vor­stel­len,
wie sie sein könn­te –
und dann anfan­gen, sie Schritt für Schritt dort­hin zu bewe­gen.

Manch­mal scheint der Frie­den fern.
Aber er ist nie ver­lo­ren, solan­ge Men­schen sich umein­an­der küm­mern.
Solan­ge Kin­der ler­nen, dass jedes Leben gleich wert­voll ist.
Solan­ge Jugend­li­che den Mut haben, Fra­gen zu stel­len und Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men.
Solan­ge Erwach­se­ne sich nicht in Gleich­gül­tig­keit zurück­zie­hen,
son­dern bereit sind, ihre Stei­ne in das gemein­sa­me Bau­werk ein­zu­fü­gen.

Jeder Stein zählt.
Jedes Wort.
Jede Ges­te.

Heu­te erin­nern wir – und wir hof­fen.
Wir trau­ern – und wir han­deln.
Wir wis­sen, dass Frie­den zer­brech­lich ist –
und genau des­halb schüt­zens­wert.

Viel­leicht kön­nen wir heu­te, hier,
ein klei­nes Stück Frie­den in uns bewah­ren –
und es hin­aus­tra­gen, in unse­re Fami­li­en, in unse­re Freun­des­krei­se,
in unse­re Nach­bar­schaf­ten.

Damit der Frie­den nicht nur ein Wort bleibt,
son­dern eine Hal­tung.
Damit die Stei­ne, die wir bemalt haben,
nicht ein­fach lie­gen blei­ben,
son­dern wei­ter wir­ken –
als Zei­chen dafür, dass wir glau­ben an das,
was uns ver­bin­det:
an Mit­mensch­lich­keit, an Hoff­nung, an die Kraft des Zusam­men­halts.

Und so, wie die Schü­le­rin­nen und Schü­ler der Adolf-Reich­wein-Schu­le
mit ihrem Dar­stel­len­den Spiel zei­gen,
dass Frie­den sicht­bar wer­den kann –
und wie die Bahai-Gemein­de uns dar­an erin­nert,
dass Frie­den immer auch im Inne­ren eines jeden Men­schen beginnt –
so wol­len wir gemein­sam den Blick nach vorn rich­ten.

Lasst uns also erin­nern –
aber auch vor­stel­len.
Lasst uns trau­ern –
und zugleich träu­men.

Lasst uns, wie John Len­non es singt,
die Welt „ima­gi­ne“ –
und sie ein klei­nes Stück fried­li­cher machen,
heu­te, hier, mit­ein­an­der.

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