diesseits.de: Frau Braß, Herr Kress – das Humanistische Hilfswerk Deutschland ruft in diesem Winter zu Spenden für Gaza auf. Warum ist gerade jetzt ein solcher Aufruf notwendig?
Annathea Braß: Weil die Lage in Gaza so dramatisch ist wie lange nicht mehr. Obwohl seit dem Herbst ein brüchiger Waffenstillstand besteht, sind weite Teile des Gebiets unbewohnbar, die Versorgungslage ist katastrophal, und der Winter verschärft die humanitäre Not massiv. Wir sprechen von Hunderttausenden Menschen, die in zerstörten Wohngebieten oder in völlig unzureichenden Notunterkünften ausharren – ohne ausreichend Nahrung, Wasser oder medizinische Versorgung. Die Frage ist daher nicht ob, sondern wie schnell wir handeln können. Die Menschen in Gaza brauchen uns – jetzt.
Erwin Kress: Gaza steht an der Schwelle zu einer Hungersnot. Auch wenn der Waffenstillstand punktuell Hilfslieferungen ermöglicht hat, sind Grenzübergänge weiterhin stark eingeschränkt. Internationale Organisationen berichten, dass tonnenweise Hilfsgüter feststecken, weil Registrierungs- und Sicherheitsverfahren sehr langsam abgewickelt werden. Gleichzeitig ist die sanitäre Infrastruktur nahezu kollabiert. Krankheiten breiten sich aus, und ein großer Teil der Bevölkerung ist gesundheitlich geschwächt. In dieser Situation sind selbst kleine Verzögerungen lebensgefährlich.

#MenschlichkeitVerpflichtet
Hier spenden:
https://humanistisches-hilfswerk.de/spenden/
diesseits.de: Frau Braß, Sie sprechen oft von einer spezifisch humanistischen Verantwortung. Was bedeutet das für Ihr Hilfswerk?
Annathea Braß: Humanismus heißt für uns vor allem, sich zuständig zu fühlen – nicht nur für die gesellschaftliche und politische Entwicklung im eigenen Land und in Europa, sondern auch für das Leid jenseits unserer politischen, kulturellen oder emotionalen Nähe. Es ist wissenschaftlich belegt, dass Menschen auf das Leid anderer unterschiedlich stark reagieren, je nachdem, wem sie sich ähnlich fühlen. Dieses Phänomen der Identifikationsnähe oder der Empathie-Verzerrung führt oft dazu, dass fernes Leid – oder Leid in komplexen Konflikten – weniger Resonanz findet. Genau an dieser Stelle beginnt eine besonders schwierige Aufgabe. Als humanistische Organisation widersprechen wir jeder Hierarchisierung von Leid. Wir helfen Menschen, weil sie Menschen sind. Nicht, weil sie „uns ähnlich“ sind oder weil ein Konflikt in ein einfaches moralisches Raster passt. Das ist für uns ein zentraler ethischer Maßstab – und gerade Gaza stellt uns unbedingt vor diese Bewährungsprobe.
diesseits.de: Herr Kress, wie beurteilen Sie die israelische Rolle bei der Organisation von Hilfe?
Erwin Kress: Es ist offensichtlich, dass Israel eine sehr restriktive Linie fährt – insbesondere, solange die Hamas weiterhin als militärischer Akteur präsent ist. Der Waffenstillstand wurde nur unter erheblichem internationalen Druck erreicht, und die israelische Regierung fürchtet nach wie vor, dass Hilfslieferungen missbraucht oder umgeleitet werden könnten. Zugleich ist die israelische Bevölkerung selbst durch den Terrorangriff vor zwei Jahren tief traumatisiert. Das erklärt, aber rechtfertigt nicht die anhaltenden Einschränkungen humanitärer Zugänge.
Wichtig ist: Die internationale Gemeinschaft erhöht den Druck, und es gibt Fortschritte. Aber solange fast zwei Millionen Menschen in Gaza von externer Hilfe abhängig sind, reicht das nicht. Die aktuelle Situation verlangt von allen Konfliktparteien eine klare Priorität auf das Überleben der Zivilbevölkerung.
diesseits.de: Wie stellt das Humanistische Hilfswerk Deutschland sicher, dass Spenden die Menschen erreichen, die sie am dringendsten benötigen?
Annathea Braß: Indem wir mit der Welthungerhilfe zusammenarbeiten, einer der renommiertesten und zuverlässigsten Hilfsorganisationen der Welt. Diese Entscheidung ist bewusst und sorgfältig abgewogen. Die Welthungerhilfe arbeitet seit Jahren mit erfahrenen, lokal verankerten Partnerorganisationen in Gaza – sie kennt die Strukturen, die Risiken und die Wege, wie Hilfe trotz Blockaden und Einschränkungen zuverlässig verteilt werden kann. Dazu ist sie maximal transparent.
Erwin Kress: Die Welthungerhilfe und ihre Partner wie Juzoor und CESVI betreiben Ernährungszentren, stellen Trinkwasser bereit, verteilen Hygiene- und Medizingüter und bauen sanitäre Einrichtungen wieder auf. Das sind keine kurzfristigen Aktionen, sondern strategisch angelegte Hilfsprogramme, die nach den humanitären Grundsätzen der Neutralität, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit arbeiten. Diese Professionalität ist entscheidend – gerade in einem höchst politisierten Umfeld wie Gaza.
diesseits.de: Welche Perspektiven soll das Projekt über die akute Nothilfe hinaus eröffnen?
Annathea Braß: 2026 wird für das Humanistische Hilfswerk Deutschland ein Schlüsseljahr. Wir sehen, dass die Welt von Krisen geprägt ist, die über nationale Grenzen hinweg wirken – und wir sind überzeugt, dass Humanismus heute auch heißt, auf globaler Ebene eine Stimme für Menschenrechtsschutz und soziale Gerechtigkeit zu sein. Wir wollen uns von der Rolle reiner Nothilfe hin zu einer Organisation entwickeln, die Missstände sichtbar macht und langfristige Partnerschaften aufbaut, die Menschen befähigen, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen.
Wir wollen nicht zulassen, dass Bedürftigkeit gegeneinander ausgespielt wird – weder zwischen Regionen noch zwischen Konflikten. Unrecht ist überall Unrecht, und Menschen in Not haben unabhängig von Identität oder politischem Kontext Anspruch auf Solidarität.
diesseits.de: Was wünschen Sie sich von den diesseits-Leser*innen?
Erwin Kress: Mut, sich nicht von der Komplexität des Konflikts lähmen zu lassen.
Annathea Braß: Und die Bereitschaft, Menschlichkeit zur Handlung zu machen. Gerade jetzt.

Annathea Braß studierte Philosophie, Politik und Journalismus und arbeitete in verschiedenen Management-Positionen in freier Wirtschaft und im NPO-Bereich. Seit 2020 ist sie im Leitungsteam des Humanistischen Verbandes Berlin-Brandenburg aktiv. Seit 2024 leitet sie das Humanistische Hilfswerk Deutschland als Präsidentin.

Erwin Kress studierte Physik und arbeitete in der Forschung sowie in leitenden Positionen der Metallindustrie. 1994 trat er in den Humanistischen Verband Deutschlands ein und war lange im Bundesvorstand aktiv. Seit 2014 ist er Vizepräsident des Humanistischen Hilfswerks Deutschland.



