Mensch sein

Glückssache Gewissen? Was Milgrams Experiment über uns verrät

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Die Hoffotografen

Beitragsbild: Julia Taubitz/unsplash

Wie leicht lassen sich Menschen von Autorität beeinflussen – und wann kippt Vertrauen in blinden Gehorsam? Stanley Milgrams berühmtes Experiment zeigt, wie stark soziale Rollen unser moralisches Urteilsvermögen formen. Es erinnert daran, dass Verantwortung nie vollständig delegierbar ist

Ein klei­ner Raum irgend­wo in den Staa­ten, unschein­bar, kahl. Ein Tisch mit Schal­tern, ein Ver­suchs­lei­ter im wei­ßen Kit­tel. Ein Mann, der „Leh­rer“, nimmt Platz und nimmt sei­ne Anwei­sun­gen ent­ge­gen. Neben­an, durch eine Wand getrennt, sitzt ein „Schü­ler“. Für jede fal­sche Ant­wort, die die­ser gibt, soll der „Leh­rer“ ihm einen Strom­stoß ver­pas­sen – und des­sen Inten­si­tät nach jeder wei­te­ren fal­schen Ant­wort erhö­hen. Ver­suchs­lei­ter und Schü­ler sind Schau­spie­ler. Doch das weiß der Pro­band nicht, als er den pas­sen­den Knopf zur elek­tri­schen Span­nung drückt: 15 Volt, 30, 75, 150 … Schmer­zens­schreie ertö­nen aus dem Nach­bar­raum. Über dem letz­ten Knopf steht: „450 VOLT“. Der „Leh­rer“ zögert. Soll er das hier wirk­lich fort­set­zen? Der Mann im Kit­tel nickt. Fast bei­läu­fig sagt er: „Das Expe­ri­ment ver­langt, dass Sie wei­ter­ma­chen.“

Es war kein Fol­ter­kel­ler, son­dern ein nor­ma­les Uni­ver­si­täts­la­bor. Und doch drück­ten zwei Drit­tel der Ver­suchs­per­so­nen den fata­len Knopf bis zum Ende. Nicht aus Hass. Nicht aus Über­zeu­gung. Son­dern, weil jemand, der Auto­ri­tät aus­strahl­te, es von ihnen ver­lang­te. Stan­ley Mil­gram woll­te in den frü­hen 1960er-Jah­ren ver­ste­hen, wie gewöhn­li­che Men­schen in außer­ge­wöhn­li­chen Situa­tio­nen han­deln. Sein Expe­ri­ment, schlicht im Auf­bau, mas­siv in der Wir­kung, wur­de zu einem Sym­bol für die Fra­ge, war­um wir gehor­chen – und war­um wir nicht damit auf­hö­ren, wenn genau dies das ethi­sche Gebot der Stun­de sein soll­te.

Zwischen Vertrauen und Autorität

Ist Gehor­sam per se mora­lisch ver­werf­lich? Immer­hin, so könn­te man ein­wen­den, trägt er dazu bei, Gesell­schaf­ten zusam­men­zu­hal­ten, Ord­nung zu schaf­fen und Koope­ra­tio­nen zu ermög­li­chen. Ganz ohne wäre ein funk­tio­nie­ren­des Gemein­we­sen schwer­lich zu haben. Mil­gram ging es auch nicht dar­um, Folg­sam­keit per se zu des­avou­ie­ren. Statt­des­sen konn­te er zei­gen, wie dünn die Linie ist, die Ver­trau­en in Auto­ri­tä­ten von Unter­wer­fung trennt. Ein Ton­fall, ein Kit­tel, ein insti­tu­tio­nel­ler Rah­men – und schon setzt Rou­ti­ne ein und das eige­ne kri­ti­sche Den­ken aus – zusam­men mit der Fähig­keit, ent­spre­chen­de Kon­se­quen­zen für wer­te­ge­lei­te­tes Han­deln zu zie­hen.

Der Kontext entscheidet

Han­nah Are­ndt bezeich­ne­te es als „Bana­li­tät des Bösen“: die erschre­cken­de Nor­ma­li­tät, mit der Men­schen Unrecht tun kön­nen, sobald sie ihre Ver­ant­wor­tung dele­gie­ren. Mil­grams Labor­ver­such führ­te die­se Ein­sicht expe­ri­men­tell vor. Er mach­te sicht­bar, dass es weni­ger um „das Böse“ an sich geht, son­dern um all­täg­li­che Struk­tu­ren, die das Den­ken erset­zen und hin­ter­fra­gen­des oder gar wider­stän­di­ges Han­deln unwahr­schein­lich machen. Aller­dings konn­ten spä­te­re Stu­di­en zei­gen, dass sol­cher Gehor­sam gebro­chen wer­den kann, sobald a) der „Ler­nen­de“ sicht­bar wird, b) die Auto­ri­tät ihre Glaub­wür­dig­keit ver­liert oder c) jemand anders den Mut fin­det, sich zu wider­set­zen. Schon eine ein­zel­ne Per­son, die „Nein“ sagt, kann ande­re aus der Schock­star­re lösen.

Sech­zig Jah­re nach Mil­gram stre­ben auto­ri­tä­re Regime und Bewe­gun­gen, die anti­hu­ma­nis­tisch, anti­auf­klä­re­risch und allem Frem­den gegen­über feind­se­lig auf­ge­stellt sind, mas­siv an die Macht. Umso wich­ti­ger, dass Mil­grams Arbeit dar­an erin­nert: nicht die Natur des Men­schen ist gefähr­lich, son­dern die Kon­tex­te, in denen wir leben und die wir schaf­fen – nicht nur in extre­men Ver­hält­nis­sen, son­dern in der ganz nor­ma­len gewöhn­li­chen All­täg­lich­keit. Kre­ieren wir Situa­tio­nen und Sys­te­me, die Wider­spruch unter­drü­cken, oder sol­che, die Zwei­fel zulas­sen? Es ist an uns, uns immer wie­der neu für Letz­te­re zu ent­schei­den.

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