Es gibt diesen Moment am Heiligabend, kurz bevor alles beginnt. Die Teller stehen bereit, leckere Gerüche ziehen durch den Raum. Die Stimmen werden leiser, als hätte jemand unauffällig an einem Regler gedreht. Für einen Augenblick ist alle Eile verflogen. Eine besondere Präsenz füllt den Raum. Eine positive Spannung. Eine intensive Pause, die sich nur einmal im Jahr so anfühlt. Man muss nicht religiös sein, um diesen Moment zu kennen.
Ein Menschenkind im Mittelpunkt
Weihnachten gilt als christliches Fest. Und doch wird dieses Kulturgut von vielen gefeiert, die mit althergebrachten Glaubenssätzen wenig anfangen können. Sie singen keine Choräle, erwarten keine Erlösung, hoffen nicht auf ein Jenseits. Und trotzdem zünden sie Kerzen an. Setzen sich zusammen und lassen es sich gutgehen. Das ist kein Widerspruch. Eher ein Hinweis.
Denn Weihnachten erzählt – jenseits seiner Theologie – eine Geschichte über den Menschen. Über Verletzlichkeit. Über Abhängigkeit. Über Nähe. Im Zentrum steht ein Neugeborenes. Ein Menschenjunges. Ein Wesen, das ohne andere nicht überleben kann. Im Mittelpunkt steht keine göttliche Offenbarung, sondern eine anthropologische Wahrheit. Eine, über die man liebevoll staunen und die man intuitiv begreifen kann.
Autonomie braucht Verbundenheit
Der Mensch kommt nicht als fertiges Subjekt zur Welt. Er wird es erst – durch Beziehung. Durch Zuwendung. Durch Fürsorge. Aktuelle Forschung bestätigt: ohne soziale Resonanz verkümmert nicht nur die Gefühlswelt, sondern auch eine wesentliche Voraussetzung, das eigene Leben als sinnerfüllt zu erleben. Menschlichkeit ist kein Zusatz, sie ist die Basis.
Genau darin könnte die Kraft dieses Festes liegen. Es weiß um grassierende Einsamkeit und soziale Kälte – und feiert die Hoffnung, dass die Lösung dieses Problems in der Möglichkeit des Menschen liegt. So darf auch vernunftmotivierte Autonomie eingebettet sein in Gemeinschaft und Verbundenheit, um ihre lebensorientierende, menschenfreundliche Kraft teilen zu können. Auch Humanist*innen brauchen Nestwärme. Und am Nest bauen dürfen alle.
Achtung, Weihnachtsfalle
Doch hat dieses Fest auch eine fragile Seite, die viele von uns kennen. Weihnachten kann zur Falle werden – dann, wenn es mehr verspricht, als es halten kann. Wenn aus dem Wunsch nach Nähe eine Pflicht zur Harmonie wird. Wenn Einsamkeit nicht gelindert, sondern verstärkt wird, weil sie sich im Licht der Erwartungen noch schärfer abzeichnet.
Gerade wer keine Familie hat, wer trauert, wer ausgeschlossen ist oder innerlich auf Distanz lebt, erlebt diese Tage oft nicht als tröstlich, sondern als schmerzhaft. Die allgegenwärtigen Bilder von Glück und Zusammenhalt haben eine Schattenseite.
Zugleich ist diese Erfahrung kein Scheitern. Sie ist ein Hinweis darauf, dass Sinn nicht verordnet, Nähe nicht erzwungen werden kann. Weihnachten gewinnt an Menschlichkeit, wenn es ein offener Raum sein darf – mit rituellen Elementen, die man haben kann oder auch nicht. Ein Raum, der familiären Beziehungsrealismus atmet und aushält.
Also nüchtern und zugleich liebevoll verbunden, weihnachtsbaumlos und dennoch warm und feierlich? Elektronische Beats statt „Leise rieselt der Schnee“? Das geht. Und vielleicht liegt gerade hier eine Möglichkeit, der Weihnachtsfalle zu entgehen – indem man Erwartungen zurücknimmt. Das Fest anders denkt. Kleiner. Und ehrlicher.
Weihnachten neu denken
Aber die Geschenke? Können bleiben. Allerdings nicht als ökonomischer Akt, sondern mehr als bisher eher als symbolischer: „Ich habe dich gesehen.“ „Du bist mir nicht egal.“ In einer Welt, die Menschen oft nach Nutzen sortiert, könnte man im Festhalten an diesem Brauch geradezu eine leise Geste des Widerstands ausmachen.
Und die vielbeschworene „Nächstenliebe“? Verliert ihren moralischen Zeigefinger. Am Ende des Tages ist sie ist kein Gebot von oben, sondern eine Einsicht von innen: Wenn wir verletzlich sind, dann sind es die anderen auch. Wenn wir Würde brauchen, haben andere sie ebenso nötig. Ausnahmslos alle. Aus Nächstenliebe wird Menschenliebe. Für sie ist wichtig, wer da ist – und wer fehlt.
Vielleicht ist das der humanistische Kern von Weihnachten: dass Sinn nicht von außen kommt. Dass Hoffnung keine Verheißung braucht. Dass wir verletzliche Wesen sind und Menschlichkeit dort beginnt, wo wir einander respektvoll, herzlich und gastfreundlich begegnen. Gelingendes Leben spielt genau hier. Am besten jeden Tag. Und wenn humanistische Festfreude daran erinnert, dass das keine Utopie ist, ist das schon mal ein guter Anfang.



