Mensch sein

Warmes Nest, leerer Himmel. Ein Plädoyer für humanistische Weihnachten

| von
Die Hoffotografen

Beitragsbild: Linda Robert/unsplash

Auch ohne Glauben an Engel und Erlösung muss niemand auf Weihnachten verzichten, der das nicht will. In dieser humanistischen Deutung erzählt das Fest nicht von einem göttlichen Heilsgeschehen, sondern vom Menschsein selbst – von Verletzlichkeit, Verbundenheit und der tiefen Einsicht, dass niemand eine Insel ist und wir einander brauchen.

Es gibt die­sen Moment am Hei­lig­abend, kurz bevor alles beginnt. Die Tel­ler ste­hen bereit, lecke­re Gerü­che zie­hen durch den Raum. Die Stim­men wer­den lei­ser, als hät­te jemand unauf­fäl­lig an einem Reg­ler gedreht. Für einen Augen­blick ist alle Eile ver­flo­gen. Eine beson­de­re Prä­senz füllt den Raum. Eine posi­ti­ve Span­nung. Eine inten­si­ve Pau­se, die sich nur ein­mal im Jahr so anfühlt. Man muss nicht reli­gi­ös sein, um die­sen Moment zu ken­nen.

Ein Menschenkind im Mittelpunkt

Weih­nach­ten gilt als christ­li­ches Fest. Und doch wird die­ses Kul­tur­gut von vie­len gefei­ert, die mit alt­her­ge­brach­ten Glau­bens­sät­zen wenig anfan­gen kön­nen. Sie sin­gen kei­ne Cho­rä­le, erwar­ten kei­ne Erlö­sung, hof­fen nicht auf ein Jen­seits. Und trotz­dem zün­den sie Ker­zen an. Set­zen sich zusam­men und las­sen es sich gut­ge­hen. Das ist kein Wider­spruch. Eher ein Hin­weis.

Denn Weih­nach­ten erzählt – jen­seits sei­ner Theo­lo­gie – eine Geschich­te über den Men­schen. Über Ver­letz­lich­keit. Über Abhän­gig­keit. Über Nähe. Im Zen­trum steht ein Neu­ge­bo­re­nes. Ein Men­schen­jun­ges. Ein Wesen, das ohne ande­re nicht über­le­ben kann. Im Mit­tel­punkt steht kei­ne gött­li­che Offen­ba­rung, son­dern eine anthro­po­lo­gi­sche Wahr­heit. Eine, über die man lie­be­voll stau­nen und die man intui­tiv begrei­fen kann.

Autonomie braucht Verbundenheit

Der Mensch kommt nicht als fer­ti­ges Sub­jekt zur Welt. Er wird es erst – durch Bezie­hung. Durch Zuwen­dung. Durch Für­sor­ge. Aktu­el­le For­schung bestä­tigt: ohne sozia­le Reso­nanz ver­küm­mert nicht nur die Gefühls­welt, son­dern auch eine wesent­li­che Vor­aus­set­zung, das eige­ne Leben als sinn­erfüllt zu erle­ben. Mensch­lich­keit ist kein Zusatz, sie ist die Basis.

Genau dar­in könn­te die Kraft die­ses Fes­tes lie­gen. Es weiß um gras­sie­ren­de Ein­sam­keit und sozia­le Käl­te – und fei­ert die Hoff­nung, dass die Lösung die­ses Pro­blems in der Mög­lich­keit des Men­schen liegt.  So darf auch ver­nunft­mo­ti­vier­te Auto­no­mie ein­ge­bet­tet sein in Gemein­schaft und Ver­bun­den­heit, um ihre lebens­ori­en­tie­ren­de, men­schen­freund­li­che Kraft tei­len zu kön­nen. Auch Humanist*innen brau­chen Nest­wär­me. Und am Nest bau­en dür­fen alle.

Achtung, Weihnachtsfalle

Doch hat die­ses Fest auch eine fra­gi­le Sei­te, die vie­le von uns ken­nen. Weih­nach­ten kann zur Fal­le wer­den – dann, wenn es mehr ver­spricht, als es hal­ten kann. Wenn aus dem Wunsch nach Nähe eine Pflicht zur Har­mo­nie wird. Wenn Ein­sam­keit nicht gelin­dert, son­dern ver­stärkt wird, weil sie sich im Licht der Erwar­tun­gen noch schär­fer abzeich­net.

Gera­de wer kei­ne Fami­lie hat, wer trau­ert, wer aus­ge­schlos­sen ist oder inner­lich auf Distanz lebt, erlebt die­se Tage oft nicht als tröst­lich, son­dern als schmerz­haft. Die all­ge­gen­wär­ti­gen Bil­der von Glück und Zusam­men­halt haben eine Schat­ten­sei­te.

Zugleich ist die­se Erfah­rung kein Schei­tern. Sie ist ein Hin­weis dar­auf, dass Sinn nicht ver­ord­net, Nähe nicht erzwun­gen wer­den kann. Weih­nach­ten gewinnt an Mensch­lich­keit, wenn es ein offe­ner Raum sein darf – mit ritu­el­len Ele­men­ten, die man haben kann oder auch nicht. Ein Raum, der fami­liä­ren Bezie­hungs­rea­lis­mus atmet und aus­hält.

Also nüch­tern und zugleich lie­be­voll ver­bun­den, weih­nachts­baum­los und den­noch warm und fei­er­lich? Elek­tro­ni­sche Beats statt „Lei­se rie­selt der Schnee“? Das geht. Und viel­leicht liegt gera­de hier eine Mög­lich­keit, der Weih­nachts­fal­le zu ent­ge­hen – indem man Erwar­tun­gen zurück­nimmt. Das Fest anders denkt. Klei­ner. Und ehr­li­cher.

Weihnachten neu denken

Aber die Geschen­ke? Kön­nen blei­ben. Aller­dings nicht als öko­no­mi­scher Akt, son­dern mehr als bis­her eher als sym­bo­li­scher: „Ich habe dich gese­hen.“ „Du bist mir nicht egal.“ In einer Welt, die Men­schen oft nach Nut­zen sor­tiert, könn­te man im Fest­hal­ten an die­sem Brauch gera­de­zu eine lei­se Ges­te des Wider­stands aus­ma­chen.

Und die viel­be­schwo­re­ne „Nächs­ten­lie­be“? Ver­liert ihren mora­li­schen Zei­ge­fin­ger. Am Ende des Tages ist sie ist kein Gebot von oben, son­dern eine Ein­sicht von innen: Wenn wir ver­letz­lich sind, dann sind es die ande­ren auch. Wenn wir Wür­de brau­chen, haben ande­re sie eben­so nötig. Aus­nahms­los alle. Aus Nächs­ten­lie­be wird Men­schen­lie­be. Für sie ist wich­tig, wer da ist – und wer fehlt.

Viel­leicht ist das der huma­nis­ti­sche Kern von Weih­nach­ten: dass Sinn nicht von außen kommt. Dass Hoff­nung kei­ne Ver­hei­ßung braucht. Dass wir ver­letz­li­che Wesen sind und Mensch­lich­keit dort beginnt, wo wir ein­an­der respekt­voll, herz­lich und gast­freund­lich begeg­nen. Gelin­gen­des Leben spielt genau hier. Am bes­ten jeden Tag. Und wenn huma­nis­ti­sche Fest­freu­de dar­an erin­nert, dass das kei­ne Uto­pie ist, ist das schon mal ein guter Anfang.

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