Mensch sein

Mogelpackung Menschenwürde?

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Die Hoffotografen
In der neuen Rubrik Mensch sein schreibt Christian Lisker monatlich über das ganze bunte Leben als Mensch unter Menschen in all seinen Facetten. Diesmal wehrt er sich, auf dem Ticket der christlichen Menschenliebe als Ursprung des Rechtsstaats zu fahren. Menschenliebe ist für ihn eine Grundausstattung des Menschseins.

Irgend­wo in Ber­lin. Zwei Men­schen unter­hal­ten sich. Der eine von ihnen erläu­tert, wel­chen Bei­trag Humanist*innen für Gleich­heit und Frei­heit in einer Demo­kra­tie leis­ten kön­nen – etwa durch den enga­gier­ten Ein­satz für die Men­schen­rech­te. Das scheint den ande­ren nach­hal­tig zu irri­tie­ren, kon­tert er doch mit der Aus­sa­ge: „Am Anfang kam die Kir­che. Dann erst kam der Rechts­staat!“ Ungläu­big hört der Huma­nist näher hin. Offen­kun­dig ist ihm da was ent­gan­gen, denkt er noch, als sein christ­li­ches Gegen­über unge­rührt hin­zu­fügt, die Unan­tast­bar­keit der Wür­de des Men­schen erklä­re sich direkt aus dem Lie­bes­ge­bot des Jesus von Naza­reth. Und das sei eben vor der Erklä­rung der Unan­tast­bar­keit der Men­schen­wür­de dage­we­sen. Alles spä­ter in die­ser Rich­tung Ent­stan­de­ne sei „nur eine Säku­la­ri­sie­rung“ des schon seit Urzei­ten der Mensch­heit mit­ge­teil­ten Gebots der christ­li­chen Nächs­ten­lie­be.

Das sitzt. Kurz­zei­tig betäubt von der Kühn­heit die­ser The­se braucht unser Huma­nist eine Wei­le, um sich zu berap­peln und zu rea­li­sie­ren, dass sein Gesprächs­part­ner gera­de kur­zer­hand alle Humanist*innen und auch alle ande­ren, die sich mit Mut und Lei­den­schaft für die Men­schen­rech­te enga­gie­ren, zu blo­ßen Tritt­brett­fah­rern des Chris­ten­tums degra­dier­te.

Liebe als christliche Erfindung – eine Gleichung, die nicht aufgeht

Die immer noch gele­gent­lich anzu­tref­fen­de „Jesus-war-zuerst“-These zeigt ein selt­sam aus der Zeit gefal­le­nes Sen­dungs­be­wusst­sein, des­sen Halt­bar­keits­da­tum längst über­schrit­ten ist. Das kul­tur­über­grei­fen­de Pot­pour­ri pro­so­zia­len Han­delns, das am Ende einer lan­gen Ent­wick­lung zur aus­for­mu­lier­ten Idee der Unan­tast­bar­keit der Wür­de des Men­schen geführt hat, fußt kei­nes­wegs aus­schließ­lich auf christ­li­chen Wur­zeln. Bei­spie­le gibt es genug: Bereits in meso­po­ta­mi­schen Rechts­samm­lun­gen taucht die Vor­stel­lung auf, dass Men­schen durch ein all­ge­mei­nes Rechts­sys­tem vor Will­kür geschützt wer­den sol­len. Die anti­ken Sophis­ten beton­ten, dass alle Men­schen durch die Natur gleich sei­en. Gemäß der Schu­le der Stoi­ker besitzt jeder Mensch Ver­nunft, die ihn zur Welt­ge­mein­schaft befä­higt – eine ent­schei­den­de Vor­form des Wür­de­ge­dan­kens. Und der chi­ne­si­sche Phi­lo­soph Mo Ti for­der­te fünf Jahr­hun­der­te vor der Ent­ste­hung des Chris­ten­tums „jian ai“, all­um­fas­sen­de Lie­be: Jeder Mensch soll­te gleich geach­tet wer­den, nicht nur Ver­wand­te oder Lands­leu­te. Das sind zwar noch kei­ne auf­ge­klär­ten Kon­zep­te, zie­len aber in die­se Rich­tung – gänz­lich unbe­rührt vom Chris­ten­tum.

Mit der Auf­klä­rung wur­de Men­schen­wür­de lang­sam uni­ver­sell: Heu­te gilt sie jedem Men­schen, unab­hän­gig von Leis­tung, Stand, Geschlecht, Her­kunft oder Reli­gi­on. Es bedarf fast kei­ner Erwäh­nung, dass man seit­dem beim Ver­such, die Wür­de des Men­schen zu fas­sen und umzu­set­zen, oft genug mit teils erbit­ter­tem Wider­stand sei­tens der Kir­chen rech­nen konn­te, gegen den zahl­rei­che Errun­gen­schaf­ten des moder­nen Rechts- und Sozi­al­staats durch­ge­setzt wer­den muss­ten.

Humanismus als Weltanschauung der Menschenliebe

Dass vie­le enga­gier­te und welt­of­fe­ne Christ*innen heu­te einen zen­tra­len Bei­trag zur Huma­ni­sie­rung unse­rer Gesell­schaft leis­ten und wir gut dar­an tun, dem Respekt zu zol­len, steht außer Fra­ge. Es gibt zudem ein hohes Maß an Not­wen­dig­keit für gemein­sa­mes Enga­ge­ment wie der Kampf gegen den Kli­ma­wan­del und für den Frie­den. Hier ist Koope­ra­ti­on Gebot der Stun­de, wo immer mög­lich und sinn­voll.

Bei alle­dem gilt jedoch: die mensch­li­che Mög­lich­keit der „Nächs­ten­lie­be“ – bes­ser: Men­schen­lie­be – ist etwas Uni­ver­sa­les. Sie gehört zur evo­lu­tio­när beding­ten Grund­aus­stat­tung des Mensch­seins. Es ist kei­nes­wegs Hybris, wenn Humanist*innen selbst­be­wusst behaup­ten, eine Welt­an­schau­ung der Men­schen­lie­be zu ver­tre­ten und aus die­ser Moti­va­ti­on her­aus an einer bes­se­ren Welt zu arbei­ten. Ihr zur Ent­fal­tung zu ver­hel­fen, ist unse­re Auf­ga­be. Aus eige­ner Kraft. Denn erst war der Mensch. Dann war das Chris­ten­tum. Dann kam die Auf­klä­rung. Und dann kam der Rechts­staat.

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