Es ist mal wieder so weit: Ein Besuch bei meiner Mutter in Köln steht an. Sie ist hochaltrig und selbst nicht mehr so mobil, also mache ich mich auf den Weg zu ihr – möglichst mit der Bahn. Denn: Ich liebe Bahnfahren. Es gibt für mich kaum etwas Schöneres, als in einen Zug zu steigen, die Landschaft vorbeiziehen und die Gedanken schweifen zu lassen. Die Bahn ist für mich nicht nur ein Fortbewegungsmittel, sondern auch ein Denkraum, ein mobiles Büro, manchmal sogar ein Stück kontemplativer Luxus zwischen Terminen und Alltag. Ich gebe es offen zu: Ich bin Bahn-Fan. Ich lese die Zugpost, Newsletter und Website mit ‚Geschichten (…) und Gedanken über das Zugreisen‘ von Sebastian Wilken mit großem Interesse – manchmal mache ich Notizen, um mir die neuesten Verbindungen und die schönsten Strecken zu merken.
Ich finde kurzfristig ein wirklich gutes Angebot: Hin- und Rückfahrt mit dem Flixtrain für 60 Euro. Also: Los geht’s!
Die Hinfahrt verläuft beinahe märchenhaft: Der Zug ist offenbar ein Relikt aus der Ära Kassettenrekorder und Klappfenster – irgendwo zwischen Kindheitserinnerung und Bahn-Museum. Keine Klimaanlage, aber dafür schön retro. Der Fahrtwind weht Erinnerungen an Klassenfahrten herbei, und genauso fühlt es sich auch an: nette Leute, sogar eine Steckdose – fast zu schön, um wahr zu sein. Und die Verspätung? Mäßige 25 Minuten. In Bahnmaßstäben: nahezu pünktlich!
Doch dann die Rückfahrt. Oder sagen wir: das, was davon übrigblieb.
Mein gebuchter Flixtrain wird ersatzlos gestrichen – am Tag der Rückfahrt, ohne akzeptable Alternative. Der nächstmögliche Weg zurück nach Berlin: ein Flixbus. Abfahrt 17:45 Uhr, Ankunft: kurz vor 4 Uhr morgens. Wer auch nur ansatzweise mit Montagmorgen-Terminen jongliert, weiß: Das ist keine Option, das ist ein schlechter Scherz.
Was bleibt? Die Deutsche Bahn. Doch die verlangt für die spontane Rückfahrt über 100 Euro mehr. Mich ruiniert das nicht. Aber was ist mit Menschen, für die jeder Euro zählt? Für die ein solcher Preisunterschied keine lästige, sondern eine existenzielle Hürde ist?
Der Weg zum Alternativzug beginnt in der Regionalbahn nach Wuppertal. Dort soll mein neuer Rückzug starten. Sollte. Die Regionalbahn kommt mit 25 Minuten Verspätung. Dann 35. Dann 60. Eine zu reparierende Weiche ist schuld. Ich habe zum Glück ein Flexticket – irgendein Zug wird schon fahren. Aber: Was bedeutet das für ältere Menschen? Für Alleinreisende mit Kindern? Für Menschen mit schlechten Nerven oder Terminen am Zielort?
Und noch viel wichtiger: Was bedeutet das für die Mobilitätswende? Für eine klimagerechte Zukunft, in der der öffentliche Verkehr das Rückgrat nachhaltiger Mobilität sein soll?
Denn: Es geht anders. Es geht viel, viel besser.
In Frankreich etwa rauscht der TGV mit bis zu 320 km/h leise, pünktlich, sauber, mit WLAN, funktionierenden Toiletten und sogar bezahlbarem Kaffee durch die Landschaft. Von Paris nach Marseille in gut drei Stunden – das ist kein Verkehrsmittel mehr, das ist eine zivilisatorische Verheißung.
In Italien – ja, Italien! – fährt der Frecciarossa der Trenitalia in Hochgeschwindigkeit, klimatisiert, elegant und auf die Minute genau von Mailand nach Rom und weiter nach Süden, immer entlang der Küstenlinie. Ich hätte es selbst nicht geglaubt, aber: Man kann dort Zug fahren wie ein Mensch. Und das zu wirklich günstigen Preisen.
Und in der Schweiz? Da ist Bahnfahren beinahe Staatskunst. Der ICN (InterCity-Neigezug) verbindet Zürich, Lausanne und Genf geschmeidig mit spektakulärem Ausblick und minutiöser Taktung. Die SBB kommuniziert nicht nur, sondern informiert in mehreren Sprachen, und die Anschlüsse klappen so reibungslos, dass man fast denkt, es sei geplant. Spoiler: Es ist geplant.
In meiner Funktion als Vorstandsvorsitzende des Humanistischen Landesverbands Berlin-Brandenburg werbe ich bei Dienstreisen für den Mobilitäts-Grundsatz „In Europa nur Bahnfahren“. Aus Überzeugung. Und weil es so schön sein könnte, sein Büro auf die Schiene zu verlagern.
Aber wie lange kann man diesen Anspruch aufrechterhalten, wenn die Realität aus maroden Weichen, Kommunikationschaos, Ersatzlosigkeit und absurden Preisunterschieden besteht?
Ich frage mich, wie viele solcher Wochenenden es noch braucht, bis die Bahn auch die Idealisten verliert. Denn: Man kann viel ertragen. Aber was man nicht ertragen kann, ist, dass verlässlich fast jede Reise im Chaos endet.
Und hier ist die eigentliche Verwerfung: Wenn Menschen, frustriert von einem System, das im Alltag scheitert, sich mit ihrer Wut populistischen und rechtsextremen Parteien anvertrauen, können wir ihnen in der Wahl dieser Parteien zwar auf keinen Fall recht geben – aber im Gefühl, dass Deutschland in manchen Belangen eine einzige Baustelle ist, leider schon.
Bitte – es muss etwas geschehen.
Andere Länder zeigen längst, dass Bahnpolitik auch anders geht: In der Schweiz sorgt ein klar getrenntes, aber abgestimmtes System zwischen Infrastruktur und Betrieb unter dem Dach der SBB für Verlässlichkeit. Frankreich hat mit der Aufspaltung von Netz (SNCF Réseau) und Betrieb (SNCF Voyageurs) mehr Transparenz geschaffen und alte Schulden systemisch ausgelagert. Großbritannien wiederum führt mit „Great British Railways“ eine öffentliche Steuerung über das Netz ein, während der Zugbetrieb ausgeschrieben bleibt – eine Art regulierter Wettbewerb. Und auf EU-Ebene sollen verbindliche Standards für Netzoffenheit und Technik (Stichwort: Rail Package) helfen, endlich grenzüberschreitend planen und fahren zu können. Deutschland? Ringt mit der neuen Infrastrukturgesellschaft InfraGo um ein gemeinwohlorientiertes Bahnnetz, schafft aber bisher keine wirklich konsequente Trennung der Zuständigkeiten – geschweige denn ein System, das aus Sicht der Fahrgäste funktioniert. Ob staatlich, europäisch oder gemischt: Entscheidend ist nicht die Besitzform, sondern dass Struktur, Finanzierung und Verantwortung so aufgestellt sind, dass die Bahn ihr Versprechen einlösen kann.
Mein neuer Anschlusszug, der ICE nach Berlin, kommt pünktlich. Zeit für den neuesten Newsletter der Zugpost. Denn, allen Widrigkeiten zum Trotz: Die Zukunft gehört der Bahn – und hoffentlich demnächst einer, die auch ankommt.