Mobilität und Infrastruktur

Europa kann Bahn. Deutschland bastelt noch.

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Beitragsbild: iggii/Unsplash

Zwischen nostalgischem Zuggefühl und dem Frust über Verspätungen: Während Europa zeigt, wie es besser geht, wird hierzulande jede Bahnfahrt zum persönlichen Erlebnis und zum Prüfstein für die Mobilität von morgen. Ein persönlicher Bericht.

Es ist mal wie­der so weit: Ein Besuch bei mei­ner Mut­ter in Köln steht an. Sie ist hoch­alt­rig und selbst nicht mehr so mobil, also mache ich mich auf den Weg zu ihr – mög­lichst mit der Bahn. Denn: Ich lie­be Bahn­fah­ren. Es gibt für mich kaum etwas Schö­ne­res, als in einen Zug zu stei­gen, die Land­schaft vor­bei­zie­hen und die Gedan­ken schwei­fen zu las­sen. Die Bahn ist für mich nicht nur ein Fort­be­we­gungs­mit­tel, son­dern auch ein Denk­raum, ein mobi­les Büro, manch­mal sogar ein Stück kon­tem­pla­ti­ver Luxus zwi­schen Ter­mi­nen und All­tag. Ich gebe es offen zu: Ich bin Bahn-Fan. Ich lese die Zug­post, News­let­ter und Web­site mit ‚Geschich­ten (…) und Gedan­ken über das Zug­rei­sen‘ von Sebas­ti­an Wil­ken mit gro­ßem Inter­es­se – manch­mal mache ich Noti­zen, um mir die neu­es­ten Ver­bin­dun­gen und die schöns­ten Stre­cken zu mer­ken.

Ich fin­de kurz­fris­tig ein wirk­lich gutes Ange­bot: Hin- und Rück­fahrt mit dem Flix­train für 60 Euro. Also: Los geht’s!

Die Hin­fahrt ver­läuft bei­na­he mär­chen­haft: Der Zug ist offen­bar ein Relikt aus der Ära Kas­set­ten­re­kor­der und Klapp­fens­ter – irgend­wo zwi­schen Kind­heits­er­in­ne­rung und Bahn-Muse­um. Kei­ne Kli­ma­an­la­ge, aber dafür schön retro. Der Fahrt­wind weht Erin­ne­run­gen an Klas­sen­fahr­ten her­bei, und genau­so fühlt es sich auch an: net­te Leu­te, sogar eine Steck­do­se – fast zu schön, um wahr zu sein. Und die Ver­spä­tung? Mäßi­ge 25 Minu­ten. In Bahn­maß­stä­ben: nahe­zu pünkt­lich!

Doch dann die Rück­fahrt. Oder sagen wir: das, was davon übrig­blieb.

Mein gebuch­ter Flix­train wird ersatz­los gestri­chen – am Tag der Rück­fahrt, ohne akzep­ta­ble Alter­na­ti­ve. Der nächst­mög­li­che Weg zurück nach Ber­lin: ein Flix­bus. Abfahrt 17:45 Uhr, Ankunft: kurz vor 4 Uhr mor­gens. Wer auch nur ansatz­wei­se mit Mon­tag­mor­gen-Ter­mi­nen jon­gliert, weiß: Das ist kei­ne Opti­on, das ist ein schlech­ter Scherz.

Was bleibt? Die Deut­sche Bahn. Doch die ver­langt für die spon­ta­ne Rück­fahrt über 100 Euro mehr. Mich rui­niert das nicht. Aber was ist mit Men­schen, für die jeder Euro zählt? Für die ein sol­cher Preis­un­ter­schied kei­ne läs­ti­ge, son­dern eine exis­ten­zi­el­le Hür­de ist?

Der Weg zum Alter­na­tiv­zug beginnt in der Regio­nal­bahn nach Wup­per­tal. Dort soll mein neu­er Rück­zug star­ten. Soll­te. Die Regio­nal­bahn kommt mit 25 Minu­ten Ver­spä­tung. Dann 35. Dann 60. Eine zu repa­rie­ren­de Wei­che ist schuld. Ich habe zum Glück ein Flex­ti­cket – irgend­ein Zug wird schon fah­ren. Aber: Was bedeu­tet das für älte­re Men­schen? Für Allein­rei­sen­de mit Kin­dern? Für Men­schen mit schlech­ten Ner­ven oder Ter­mi­nen am Ziel­ort?

Und noch viel wich­ti­ger: Was bedeu­tet das für die Mobi­li­täts­wen­de? Für eine kli­ma­ge­rech­te Zukunft, in der der öffent­li­che Ver­kehr das Rück­grat nach­hal­ti­ger Mobi­li­tät sein soll?

Denn: Es geht anders. Es geht viel, viel bes­ser.

In Frank­reich etwa rauscht der TGV mit bis zu 320 km/h lei­se, pünkt­lich, sau­ber, mit WLAN, funk­tio­nie­ren­den Toi­let­ten und sogar bezahl­ba­rem Kaf­fee durch die Land­schaft. Von Paris nach Mar­seil­le in gut drei Stun­den – das ist kein Ver­kehrs­mit­tel mehr, das ist eine zivi­li­sa­to­ri­sche Ver­hei­ßung.

In Ita­li­en – ja, Ita­li­en! – fährt der Freccia­ros­sa der Tre­ni­ta­lia in Hoch­ge­schwin­dig­keit, kli­ma­ti­siert, ele­gant und auf die Minu­te genau von Mai­land nach Rom und wei­ter nach Süden, immer ent­lang der Küs­ten­li­nie. Ich hät­te es selbst nicht geglaubt, aber: Man kann dort Zug fah­ren wie ein Mensch. Und das zu wirk­lich güns­ti­gen Prei­sen.

Und in der Schweiz? Da ist Bahn­fah­ren bei­na­he Staats­kunst. Der ICN (Inter­Ci­ty-Nei­ge­zug) ver­bin­det Zürich, Lau­sanne und Genf geschmei­dig mit spek­ta­ku­lä­rem Aus­blick und minu­tiö­ser Tak­tung. Die SBB kom­mu­ni­ziert nicht nur, son­dern infor­miert in meh­re­ren Spra­chen, und die Anschlüs­se klap­pen so rei­bungs­los, dass man fast denkt, es sei geplant. Spoi­ler: Es ist geplant.

In mei­ner Funk­ti­on als Vor­stands­vor­sit­zen­de des Huma­nis­ti­schen Lan­des­ver­bands Ber­lin-Bran­den­burg wer­be ich bei Dienst­rei­sen für den Mobi­li­täts-Grund­satz „In Euro­pa nur Bahn­fah­ren“. Aus Über­zeu­gung. Und weil es so schön sein könn­te, sein Büro auf die Schie­ne zu ver­la­gern.

Aber wie lan­ge kann man die­sen Anspruch auf­recht­erhal­ten, wenn die Rea­li­tät aus maro­den Wei­chen, Kom­mu­ni­ka­ti­ons­cha­os, Ersatz­lo­sig­keit und absur­den Preis­un­ter­schie­den besteht?

Ich fra­ge mich, wie vie­le sol­cher Wochen­en­den es noch braucht, bis die Bahn auch die Idea­lis­ten ver­liert. Denn: Man kann viel ertra­gen. Aber was man nicht ertra­gen kann, ist, dass ver­läss­lich fast jede Rei­se im Cha­os endet.

Und hier ist die eigent­li­che Ver­wer­fung: Wenn Men­schen, frus­triert von einem Sys­tem, das im All­tag schei­tert, sich mit ihrer Wut popu­lis­ti­schen und rechts­extre­men Par­tei­en anver­trau­en, kön­nen wir ihnen in der Wahl die­ser Par­tei­en zwar auf kei­nen Fall recht geben – aber im Gefühl, dass Deutsch­land in man­chen Belan­gen eine ein­zi­ge Bau­stel­le ist, lei­der schon.

Bit­te – es muss etwas gesche­hen.

Ande­re Län­der zei­gen längst, dass Bahn­po­li­tik auch anders geht: In der Schweiz sorgt ein klar getrenn­tes, aber abge­stimm­tes Sys­tem zwi­schen Infra­struk­tur und Betrieb unter dem Dach der SBB für Ver­läss­lich­keit. Frank­reich hat mit der Auf­spal­tung von Netz (SNCF Réseau) und Betrieb (SNCF Voy­a­ge­urs) mehr Trans­pa­renz geschaf­fen und alte Schul­den sys­te­misch aus­ge­la­gert. Groß­bri­tan­ni­en wie­der­um führt mit „Gre­at Bri­tish Rail­ways“ eine öffent­li­che Steue­rung über das Netz ein, wäh­rend der Zug­be­trieb aus­ge­schrie­ben bleibt – eine Art regu­lier­ter Wett­be­werb. Und auf EU-Ebe­ne sol­len ver­bind­li­che Stan­dards für Net­z­of­fen­heit und Tech­nik (Stich­wort: Rail Packa­ge) hel­fen, end­lich grenz­über­schrei­tend pla­nen und fah­ren zu kön­nen. Deutsch­land? Ringt mit der neu­en Infra­struk­tur­ge­sell­schaft Infra­Go um ein gemein­wohl­ori­en­tier­tes Bahn­netz, schafft aber bis­her kei­ne wirk­lich kon­se­quen­te Tren­nung der Zustän­dig­kei­ten – geschwei­ge denn ein Sys­tem, das aus Sicht der Fahr­gäs­te funk­tio­niert. Ob staat­lich, euro­pä­isch oder gemischt: Ent­schei­dend ist nicht die Besitz­form, son­dern dass Struk­tur, Finan­zie­rung und Ver­ant­wor­tung so auf­ge­stellt sind, dass die Bahn ihr Ver­spre­chen ein­lö­sen kann.

Mein neu­er Anschluss­zug, der ICE nach Ber­lin, kommt pünkt­lich. Zeit für den neu­es­ten News­let­ter der Zug­post. Denn, allen Wid­rig­kei­ten zum Trotz: Die Zukunft gehört der Bahn – und hof­fent­lich dem­nächst einer, die auch ankommt.

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