Triggerwarnung
In diesem Artikel wird eine neuartige Bestattungsform explizit erörtert, die für Menschen, die darauf empfindlich reagieren, verstörend wirken kann.
Wie gehen wir als Gesellschaft mit dem Tod um? Welche Bestattungsformen sind ethisch vertretbar, nachhaltig und den individuellen Überzeugungen angemessen? In den letzten Jahren hat eine neue Bestattungsart an Bedeutung gewonnen: die Reerdigung, auch als natürliche organische Reduktion oder Kompostierung menschlicher Überreste bezeichnet. Dieser Artikel beleuchtet die Möglichkeiten der Reerdigung aus einer humanistischen Sicht.
Was ist Reerdigung?
Die Reerdigung ist ein Prozess, bei dem menschliche Überreste auf natürliche Weise in Erde umgewandelt werden. Dabei werden die Verstorbenen in einem speziellen Behältnis, dem Kokon, zusammen mit organischem Material wie Stroh oder Holzspänen, in einer kontrollierten Umgebung (Alvarium) kompostiert. Innerhalb von etwa sechs Wochen entsteht so nährstoffreiche Erde, die zur Begrünung genutzt werden kann. Über einen Zeitraum von 40 Tagen wandeln natürlich vorkommende Mikroorganismen sämtliche organische Materialien zu Humus um. In dieser Phase erwärmt sich der Kokon durch biologische Aktivität auf bis zu 70 °C. Der Prozess wird durch sanfte Bewegungen des Kokons unterstützt. Eine kontrollierte Sauerstoffzufuhr sorgt außerdem für optimale Bedingungen für die Mikroorganismen. Die Zeit der Transformation bietet Angehörigen Raum für ihre Trauer. Die Reerdigung ist damit eine Alternative zu traditionellen Bestattungsformen wie Erdbestattung, Feuerbestattung oder der Seebestattung.
Hintergründe und Entwicklungen
Die Idee der Reerdigung stammt ursprünglich aus den USA, wo sie unter dem Begriff „Natural Organic Reduction“ (NOR) bereits legalisiert und in mehreren Bundesstaaten praktiziert wird. In Deutschland wird das Thema zunehmend öffentlich diskutiert und erste Pilotprojekte zeigen das Interesse der Bevölkerung an umweltfreundlichen und ressourcenschonenden Formen des Abschieds. Die Reerdigung verbindet dabei moderne Technik mit einem uralten Kreislaufgedanken: Der Mensch wird wieder Teil der Natur.
Der Ablauf der Reerdigung
Vorbereitung und Einbettung
Der Verstorbene wird zunächst aufgebahrt und in eine spezielle, in der Regel biologisch abbaubare Hülle gelegt. Zur Förderung des Kompostierungsprozesses werden organische Materialien wie Holzspäne, Stroh und Blumen beigemischt. Dieser Mix schafft die optimalen Bedingungen für Mikroorganismen, die die organische Substanz zersetzen.
Kompostierungsphase
Im eigentlichen Kompostierungsprozess wird der Körper in einem geschlossenen Behälter aufbewahrt, in dem Temperatur, Feuchtigkeit und Sauerstoffzufuhr reguliert werden. Innerhalb von etwa 40 Tagen bauen Bakterien und andere Mikroorganismen das Gewebe vollständig ab. Zurück bleibt ein humusähnliches Substrat – Erde, die im Idealfall frei von Schadstoffen und Krankheitserregern ist.
Nachbereitung und Nutzung der Erde
Nach der Kompostierungsphase wird die entstandene Erde gesiebt, um eventuell verbliebene nicht-organische Bestandteile (wie Zahnfüllungen, künstliche Gelenke oder Implantate) zu entfernen. Die Familie kann entscheiden, wie die Erde genutzt wird: Sie kann beispielsweise auf einem Friedhof beigesetzt oder für die Pflanzung eines Baumes verwendet werden. Somit schließt sich sinnbildlich der Kreislauf des Lebens.
Würde und Respekt
Im Mittelpunkt der humanistischen Ethik steht die Würde des Menschen – auch über den Tod hinaus. Die Reerdigung bietet einen würdevollen, natürlichen und oft als tröstlich empfundenen Abschied. Die bewusste Rückkehr in den Kreislauf des Lebens ist für viele Menschen ein schöner Gedanke und kann den Hinterbliebenen Trost spenden.
Selbstbestimmung und Individualität
Der Humanismus betont das Recht des Einzelnen auf Selbstbestimmung. Reerdigung erlaubt es, individuelle Vorstellungen von Abschied und Erinnerung zu verwirklichen. Wer Wert auf ökologische Nachhaltigkeit legt, findet in dieser Methode eine Alternative, die den eigenen Überzeugungen entspricht.
Gemeinschaft und Verbundenheit
Der Prozess der Reerdigung kann auf Wunsch in das Abschiednehmen einbezogen werden. Angehörige können bei der Einbettung des Verstorbenen oder beim späteren Umgang mit der Erde aktiv werden. So schafft diese Form der Bestattung neue Rituale, die Gemeinschaft und Verbundenheit fördern.
Umweltfreundlich- und Nachhaltigkeit
Im Vergleich zu traditionellen Bestattungsformen ist die Reerdigung besonders ressourcenschonend. Während bei der Feuerbestattung große Mengen an Energie verbraucht und klimaschädliche Gase freigesetzt werden, oder bei der Erdbestattung Metalle und Chemikalien in den Boden gelangen können, bleibt bei der Reerdigung lediglich fruchtbare Erde zurück. Durch das optimierte Umfeld arbeiten die Mikroorganismen deutlich effizienter als bei einer traditionellen Erdbestattung und die gesamte Kompostierung verläuft deutlich schneller und komplikationsfreier. Während die Umwandlung eines Körpers auf dem Friedhof bis zu 30 Jahre dauern kann, vollzieht sich der Prozess bei der Reerdigung in nur wenigen Wochen. Dieser Ansatz entspricht dem Wunsch vieler Menschen, selbst im Tod einen positiven Beitrag zur Umwelt zu leisten.
Flächenersparnis und Flexibilität
Da bei der Reerdigung keine klassischen Grabstätten benötigt werden, lassen sich Flächen auf Friedhöfen anders nutzen. Das fördert eine naturnahe Entwicklung und gibt Raum für neue Formen des Gedenkens, etwa durch gemeinschaftliche Gärten oder Baumhaine.
Rechtliche Rahmenbedingungen
In Deutschland ist die Reerdigung bislang nicht flächendeckend erlaubt. Die Gesetzgebung variiert je nach Bundesland und oft sind Friedhofspflicht und Bestattungsgesetze zu beachten. Einige Gemeinden beschäftigen sich jedoch bereits mit Pilotprojekten und Ausnahmeregelungen. Die Reerdigung wird in Deutschland aktuell nur in Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern angeboten und praktiziert. Der gesellschaftliche und politische Diskurs ist im Gange, und es ist zu erwarten, dass sich die rechtlichen Rahmenbedingungen in den kommenden Jahren weiter öffnen werden.
Internationale Entwicklungen
In Ländern wie den USA und den Niederlanden hat sich die Reerdigung bereits etabliert. Die Erfahrungen zeigen, dass sowohl ökologische als auch soziale Vorteile entstehen und das Verfahren von der Bevölkerung gut angenommen wird. Diese Beispiele können als Vorbild für die Entwicklung in Deutschland dienen.
Grenzen und Herausforderungen
Trotz vieler Vorteile gibt es offene Fragen. Dazu zählen:
- Die Akzeptanz in der Gesellschaft und bei den Religionsgemeinschaften
- Die Kontrolle der hygienischen Unbedenklichkeit
- Einschränkung bei Größe (max. 1,90 m) und Gewicht (max. 100 kg) – größere Kokons gibt es derzeit noch nicht.
- Der Umgang mit eventuell verbleibenden Fremdmaterialien
- Die Schaffung klarer gesetzlicher Regelungen
Auch ethische Fragestellungen, etwa zur Verwendung der entstandenen Erde, sind Gegenstand öffentlicher Debatte.
Die Reerdigung als Chance
Die Möglichkeit der Reerdigung eröffnet neue Wege für den Umgang mit dem Tod – ökologisch, individuell und würdevoll. Für humanistische Überzeugungen, die das Leben, die Natur und die Autonomie des Einzelnen wertschätzen, ist diese Bestattungsform besonders attraktiv. Auch wenn noch rechtliche und gesellschaftliche Hürden bestehen, zeigt die Entwicklung, dass die Reerdigung das Potenzial hat, unsere Bestattungskultur nachhaltig zu bereichern. Sie schließt sinnbildlich den Kreis des Lebens – und gibt Hoffnung auf einen friedvollen, verantwortungsvollen Abschied im Einklang mit Menschlichkeit und Natur.
Dieser Beitrag erschien zuerst in Der Humanistische Landbote | November/Dezember 2025. Wir danken der Humanistischen Gemeinschaft Hessen für die freundliche Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
Reerdigung
Anbieter
- MEINE ERDE: Reerdigung – eine Bestattungsform im Kreislauf der Natur
- Lichtermeer: Lichtermeer – Bestattungen fürs Leben
- Stiftung Reerdigung: Gemeinnützige Stiftung für die Reerdigung
Durchführung
Die Reerdigung kann nur in einem speziell dafür vorgesehenen Alvarium durchgeführt werden. Diese gibt es deutschlandweit aktuell an zwei Standorten in Kiel und Mölln in Schleswig-Holstein. Ursache für die begrenzte Verfügbarkeit sind oft fehlende Gesetzgebungen in den Bundesländern.
Petition
Eine entsprechende Petition hat Dagmar Müller-Funk am 17.10.2025 für das Land Hessen eingereicht sowie auf OpenPetition eine Petition gestartet:
https://www.openpetition.de/petition/online/aenderung-der-friedhofspflicht-in-hessen-sowie-zulassung-der-reerdigung-als-bestatungsform


