Aziz Nesin (20. Dezember 1915 – 6. Juli 1995)

„So wie es gekommen ist, geht es nicht weiter”

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Foto: privat
Aziz Nesin am 25. März 1995 in Heidenheim

Beitragsbild: Heiner Jestrabek

Vor 110 Jahren, am 20. Dezember 1915, wurde Aziz Nesin geboren. Zeitlebens erhob der Satiriker und unbeirrbare Kritiker des religiösen Fundamentalismus und staatlicher Willkür seine Stimme gegen politische Missstände und wurde zu einem der wichtigsten Autoren der modernen Türkei.

Aziz Nesin wur­de auf der Prin­zen­in­sel Heybe­lia­da gebo­ren und ging dort zur Schu­le. Sein Vater war Gärt­ner, sehr reli­gi­ös, kon­ser­va­tiv und ein Geg­ner von Kemal Ata­türk. Ein Freund des Vaters erteil­te Meh­met Koran­un­ter­richt. Nesin beschrieb spä­ter in sei­ner zwei­bän­di­gen Auto­bio­gra­phie Böyle Gel­miş Böyle Git­mez („So wie es gekom­men ist, geht es nicht wei­ter“, deut­scher Buch­ti­tel: So geht’s nicht wei­ter. Der Weg beginnt, 2 Bde. Ber­lin 1986/1989, eng­li­sche Buch­ti­tel: Istan­bul Boy: The Path: The Auto­bio­gra­phy of Aziz Nesin, 1979) sei­ne Kind­heit und Jugend in Istan­bul in gro­ßer Armut und mit gesell­schafts­kri­ti­schem Blick bis zum Beginn sei­ner Tätig­keit als Autor und Sati­ri­ker. Vom Islam hat­te er sich abge­wandt und die Fun­da­men­ta­lis­ten mit sei­ner fein­sin­ni­gen Sati­re ent­larvt. Als beken­nen­der Athe­ist und Sozia­list wur­de er somit zu einem beson­de­ren Hass­ob­jekt von reli­giö­sen Fun­da­men­ta­lis­ten und mili­tan­ten Natio­na­lis­ten.

Ab dem Jahr 1935 hat­te Nesin Mili­tär­aka­de­mien in Istan­bul und Anka­ra besucht und brach­te es als Offi­zier bis zum Ober­leut­nant. Wäh­rend sei­ner Aus­bil­dungs­zeit besuch­te Nesin zusätz­lich die Staat­li­che Aka­de­mie der Schö­nen Küns­te in Istan­bul. Im Welt­krieg war er u.a. in Thra­ki­en und bei Flug­ab­wehr­ein­hei­ten ein­ge­setzt. 1944 wur­de er aus dem Mili­tär­dienst wegen angeb­li­chem „Amts­miss­brauchs“ ent­las­sen, in Wirk­lich­keit aber, weil er Mili­tär­brot an hun­gern­de Dorf­be­woh­ner ver­teilt hat­te. Unter ver­schie­de­nen Pseud­ony­men hat­te er schon vor­her Gedich­te und Bei­trä­ge ver­öf­fent­licht. Im Lauf sei­ner schrift­stel­le­ri­schen Lauf­bahn soll­te er ins­ge­samt – auch um die Zen­sur zu umge­hen – noch rund  200 Pseud­ony­me ver­wen­den.

Zwi­schen­zeit­lich ernähr­te er sei­ne Fami­lie durch Arbeit als Lebens­mit­tel­händ­ler und Buch­hal­ter. Ab 1945 wur­de er Mit­ar­bei­ter ver­schie­de­ner Zeit­schrif­ten, u.a. der links­ge­rich­te­ten Zeit­schrift Tan, deren Räu­me 1946 von natio­na­lis­ti­schen und isla­mis­ti­schen Stu­den­ten ver­wüs­tet wur­den. Nesin wur­de Mit­her­aus­ge­ber der kri­ti­schen Sati­re­zeit­schrift Mar­ko­paşa, was ihm 20 Tage Haft ein­brach­te. 1947 gab es 13 Mona­te Gefäng­nis. 1948 wur­de einer sei­ner Mit­her­aus­ge­ber ermor­det. Um die Zen­sur zu umge­hen, wur­de die Zeit­schrift mehr­mals umbe­nannt und erschien noch bis 1951. 1949 wur­de Nesin wegen „Majes­täts­be­lei­di­gung“ der bri­ti­schen Köni­gin Eli­sa­beth II., Schah Moham­mad Reza Pahl­avi und dem ägyp­ti­schen König Faruq zu sechs Mona­ten Gefäng­nis ver­ur­teilt. In den Fol­ge­jah­ren arbei­te­te Nesin für ver­schie­de­ne Zei­tun­gen und eige­ne Publi­ka­tio­nen. Sei­ne Wer­ke fie­len immer wie­der unter Zen­sur. Er wur­de zen­siert und mit Gerichts­ver­fah­ren schi­ka­niert, muss­te ins­ge­samt fünf Jah­re in Unter­su­chungs­haft ver­brin­gen und Brand­an­schlä­ge erfah­ren. Ins­ge­samt muss­te er bei 200 poli­ti­schen Pro­zes­sen vor Gericht erschei­nen.

Den­noch wur­de Aziz Nesin immer popu­lä­rer. Er ver­öf­fent­lich­te 137 Bücher, die teil­wei­se in über 40 Spra­chen über­setzt wur­den. Heu­te gilt er zusam­men mit Orhan Pamuk, Yaşar Kemal und Nâzım Hik­met als bekann­tes­ter und mei­st­über­setz­ter Autor der moder­nen Tür­kei. Den­noch erhielt er erst im Jahr 1965 einen Rei­se­pass, wor­auf er dann an vie­len inter­na­tio­na­len Schrift­stel­ler­tref­fen teil­neh­men konn­te. 1977 wur­de Nesin zum Prä­si­den­ten des Tür­ki­schen Schrift­stel­ler­ver­ban­des gewählt. Es schlos­sen sich vie­le auch inter­na­tio­na­le Preis­ver­lei­hun­gen an.

Im Jahr 1972 grün­de­te er eine lai­zis­ti­sche Stif­tung für Kin­der aus Fami­li­en, die ihnen den Zugang zu Bil­dung nicht finan­zie­ren kön­nen. Die Nesin-Stif­tung bei Çatal­ca in der Nähe von Istan­bul soll Kin­dern und Jugend­li­chen den Besuch staat­li­cher Schu­len oder Hoch­schu­len ermög­li­chen, auch um Alter­na­ti­ven gegen auto­ri­tä­re Struk­tu­ren im tür­ki­schen Bil­dungs­sys­tem zu ermög­li­chen. Unter der Lei­tung von Azis Nesims Sohn Prof. Dr. Ali Nesin ent­stand auch eine pri­va­te Hoch­schu­le.

Als Her­aus­ge­ber der Tages­zei­tung Aydın­lık soli­da­ri­sier­te sich Nesin 1993 mit dem ver­folg­ten Sal­man Rush­die und gab Aus­zü­gen der tür­ki­schen Über­set­zung aus den Sata­ni­schen Ver­sen her­aus, was ihm wie Rush­die eine Fat­wa als „Abtrün­ni­gen des Islams“ mit einer Todes­dro­hung ein­brach­te. Am 2. Juli 1993 zogen fana­ti­sier­te isla­mi­sche Fun­da­men­ta­lis­ten nach ihrem Frei­tags­ge­bet zu einem Tagungs­ho­tel in Siv­as und zün­de­ten es an. Die­ser pogrom­ar­ti­ge Brand­an­schlag von Siv­as gegen ein dort statt­fin­den­des ale­vi­ti­schen Fes­ti­val durch eine reli­gi­ös auf­ge­peitsch­te Men­ge kos­te­te 35 Men­schen das Leben. Der teil­neh­men­de Aziz Nesin, gegen den sich der haupt­säch­li­che Hass der Fana­ti­ker rich­te­te, konn­te durch eine Feu­er­wehr­lei­ter und leicht ver­letzt geret­tet wer­den. Der Ort die­ses Siv­as-Mas­sa­ker ist heu­te ein Frie­dens­mu­se­um. Nesin ließ sich aber nicht ein­schüch­tern und erhob wei­ter sei­ne Stim­me gegen jeden poli­ti­schen Miss­stand. Weil er die tür­ki­sche Regie­rung wegen ihrer Kur­den­po­li­tik kri­ti­sier­te, droh­te ihm die Staats­an­walt­schaft im August 1994 sogar mit der Todes­stra­fe. Ein damals noch weni­ger bekann­ter reli­gi­ös-fun­da­men­ta­lis­ti­scher Poli­ti­ker, Recep Tayyip Erdoğan, der die Wahl zum Ober­bür­ger­meis­ter von Istan­bul gewon­nen hat­te, ent­blö­de­te sich sogar mit den Wor­ten: „Wir wer­den den Namen von Aziz Nesin aus Istan­bul til­gen“, was zu hef­ti­gen Pro­test­er­klä­run­gen des tür­ki­schen Schrift­stel­ler­ver­ban­des führ­te.

Aziz Nesin war bis zu sei­nem Lebens­en­de von der Fat­wa bedroht und muss­te sei­en Auf­ent­halt geheim hal­ten, so auch bei sei­ner letz­ten Vor­trags­rei­se im März 1995 nach Deutsch­land (bei der der Autor Nesin ken­nen­ler­nen und vom geheim gehal­te­nen Hotel zum Lesungs­ort fah­ren durf­te). Bereits am 6. Juli 1995 starb Aziz Nesin 80-jäh­rig nach einer Lesung in Ala­ça­tı bei İzm­ir an einem Herz­in­farkt. In sei­nem Tes­ta­ment hat­te der Athe­ist ver­fügt, dass kei­ne isla­mi­sche Trau­er­fei­er abge­hal­ten wer­de. Er wur­de im Gar­ten der Nesin-Stif­tung in Çatal­ca bei­gesetzt.

Aziz Nesin hin­ter­ließ ein sehr umfang­rei­ches Werk, neben sei­nen poli­ti­schen Sati­ren auch Thea­ter­stü­cke, Gedich­te und Kin­der­li­te­ra­tur.

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