Martin Hikel (SPD) hat sich nicht etwa von gefährlichen Feinden der demokratischen Grundordnung einschüchtern lassen. Er hat vielmehr deshalb nicht erneut für das Neuköllner Bürgermeisteramt kandidieren wollen, weil bei der Aufstellungswahl ein Anteil von mehr als 25 % der eigenen Genossen gegen ihn war. Vorgeworfen wurde ihm ein – in einigen Kreisen verpönter – Law and Order-Kurs, mit der er gegen die „Clan-Kriminalität“ vorging, was als sogenannter „antimuslimischer Rassismus“ angesehen wird.
Für die in Neukölln geborene, aufgewachsene und lebende Güner Balci (50), Kind türkischstämmiger Eltern und Integrationsbeauftragte in ihrem Heimatbezirk, ist SPD-Bürgermeister Martin Hikel (39) der mutigste und aufrechteste Politiker, den sie kenne. Er habe sich, erläutert sie im Tagesspiegel, dabei viele unterschiedliche Feinde gemacht: Die extremistische Muslimbruderschaft mit ihren Verbündeten – und jenen, welche eine islamistische Bedrohungslage verharmlosen oder verschweigen – sowie als politisch links geltende Delegierte in der Neuköllner SPD. (Zu den Hintergründen siehe im hpd den ausführlichen Bericht der Autorin „Martin Hikels Kampf gegen Bedrohung und Gewalt“.)
Außer Bürgermeister Hikel, erklärt Balci weiter, habe niemand Hamas-Netzwerken und Clan-Kriminalität so „angstfrei und entschlossen den Kampf angesagt“ und sich gemeinsam mit säkularen Muslimen gegen den Islamismus im Bezirk gestellt. Ausgerechnet die Bewohner, die sich dagegen zur Wehr setzten, wären besonders Gewaltvorfällen und Einschüchterungen ausgesetzt. Das sind etwa „Gewerbetreibende, die nicht die Hamas als Freiheitskämpfer betiteln wollen“ und muslimische Ladenbesitzer, die unter Schutzgelderpressungen der von Hikel ins Visier genommenen Banden leiden.
Arabisch-deutsche Schule unter ständiger Bedrohung
Ein Ort, wo sowohl die arabische Sprache gelehrt als auch eine Haltung für Demokratie und Toleranz vertieft wird, ist die arabisch-deutsche Sprachschule Ibn Khaldun. Sie versteht sich als säkulare Einrichtung für Schüler und Schülerinnen jeglicher Glaubensrichtung und beruft sich auf humanistische Ideale für Demokratie, Toleranz und interkulturelle Verständigung. In einem zentral gelegenen Gebäude in Berlin-Neukölln werden jeden Samstag und Sonntag für insgesamt ca. 700 Schulkinder (von 5 bis 16 Jahren) jeweils Sprach- und Bildungskurse angeboten. Die Schule ist durch ihre Gegnerschaft zum Antisemitismus auch zum Hassobjekt von radikalen „Propalästina-Aktivisten“ geworden, zumal sich das Kollegium für einen Austausch mit israelischen Schülern und Schülerinnen einsetzt.
Schmierereien mit Hass-Symbolen und eindeutigen Drohbotschaften sind an der Tagesordnung, es ist auch zum Steinwurf durchs Klassenzimmerfenster gekommen, zudem kursieren diffamierende und beleidigende Flugblätter und wird der Name Al-Mashhadani des Schulleiters mit roten Hamas-Dreiecken überklebt. Trotz der vor allem seit dem 7. Oktober 2023 nicht mehr nur verbalen Anfeindungen haben muslimische wie bewusst säkulare arabische Eltern ihre Töchter und Söhne vermehrt an dieser Bildungsstätte angemeldet. Sie erfreut sich seit ihrer Gründung vor fünf Jahren in der arabischen Community wachsender Beliebtheit – als humanistische Alternative zu orthodox-islamischen Angeboten. Dazu gehören in den Neuköllner Hinterhöfen solche Koranschulen, die etliche Erwachsene aus ihren Herkunftsländern noch allzu gut kennen.
Die Schaffung von säkularen Freiräumen trage zur interkulturellen Verständigung in Berlin und Brandenburg bei, hieß es Anfang September in der Morgenpost. Anlass war der Besuch von Berlins CDU-Bürgermeister Kai Wegner, der angab: Es gehe beim notwendigen Erwerb der deutschen Sprache auch darum, die arabische Muttersprache gut zu lernen. Trotz der ständigen Anfeindungen konnte Stefanie Dietrich aus dem Leitungsteam von Ibn Khaldun dort vermelden: „rund 400 Kinder stehen auf der Warteliste“. Weil man sie in einer Koranschule gezwungen hatte, sich ein Kopftuch aufzusetzen, seien kürzlich 73 Mädchen im Alter von 9 bis 13 Jahren dazu gekommen. Dies wäre für benachbarte Einrichtungen, in denen ein ideologisierender antisemitischer Unterricht mit religiöser Heilslehre verbunden ist, natürlich ein Dorn im Auge.
Polizeischutz und Mordversuch an Schulleiter Al-Mashhadani
Bereits seit langem steht der immer an den Wochenenden stattfindende säkulare Lehrbetrieb wegen der Sicherheitsgefährdungen unter Polizeischutz – dessen Verstetigung auch Bürgermeister Hikel zu verdanken ist. Zu ihm sagt Hudhaifa Al-Mashhadani (44) dem Cicero: „Ohne ihn hätten wir unsere Arbeit niemals machen können.“ Nach Berlin gekommen war der heutige Leiter der Ibn Khaldun-Schule 2020 als politisch Geflüchteter aus dem Irak, wo er zwei Jahre im Gefängnis verbrachte. (2020 war das Jahr, in dem ein französischer Lehrer von einem 18-jährigen Dschihadisten in einem Pariser Vorort getötet wurde). Als Politikwissenschaftler hatte sich Al-Mashhadani bereits an der Universität von Bagdad auf Extremismusbekämpfung spezialisiert.
Am Freitag, dem 14. November, ist er nach eigenen Angaben nur knapp einem Mordversuch entgangen. In der taz schildert er den Vorfall nahe seiner Schule folgendermaßen: „Ich habe auf die U‑Bahn gewartet …“ Als der Zug einfuhr, habe ihn jemand von hinten „mit einer starken Bewegung nach vorn gestoßen“. Nur weil er stabil geblieben sei und sich halten konnte, sei er nicht auf die Gleise gefallen. „Die Bahn war da, ich bin mit ein paar großen Schritten eingestiegen“, der Angreifer habe ihn noch gegen Schulter und Kopf geschlagen sowie an seine Jacke packen können. Dann hätten sich die U‑Bahntüren glücklicherweise schnell geschlossen. „Er hat mir durch das Fenster eine Geste gezeigt: Zwei Finger hat er am Hals entlangbewegt, als Drohung, dass sie mich umbringen wollen …“ und mit ihnen dann auf seine Augen gezeigt „nach dem Motto: Wir beobachten dich.“ Der Täter habe eine sogenannte palästinensische Kufiyah um den Hals getragen.
Die Schule veröffentlichte nach dem Attentat auf ihren Chef eine Erklärung, unterstützt durch arabische, jüdische und kurdische Vereinigungen in Deutschland. Darin heißt es, der Vorfall mache es erneut deutlich: „Radikal linke Strukturen“ und „politisch-islamistische Netzwerke“ versuchen zunehmend, den gesellschaftlichen Diskurs zu beeinflussen, demokratische Stimmen einzuschüchtern und engagierte Persönlichkeiten zum Schweigen zu bringen“.
Hikels Aufgeben sorgt für starke Beunruhigung
Al-Mashhadani sagt im Cicero-Interview weiterhin über Hikel: „Er war stets auf der Seite säkularer und gemäßigter Vereine, Organisationen, Gewerbetreibenden und Familien, die in Neukölln einfach nur ein normales Leben fernab von religiöser Indoktrination und Clan-Kriminalität führen wollen.“ Hikel habe jedes Jahr das Fastenbrechen an einem zentralen Neuköllner Ort begleitet – mit tausenden Muslimen. Hikels Widersacher nutzten den Begriff „antimuslimisch“ gegen ihn „völlig an der Realität vorbei“ und allein, um ihn loszuwerden.
Die parteiinterne Kritik, dass Hikel zur Diskriminierung beitrage, indem er die Formulierung „antimuslimischer Rassismus“ bewusst vermeide, weist auch Güner Balci zurück. Dies sei vielmehr ein ideologischer Kampfbegriff: „Wer heute von antimuslimischem Rassismus spricht, will den grassierenden Antisemitismus relativieren und den Islamismus. Das geht so weit, dass manche behaupten, es gebe keinen Islamismus“ – und dieses Wort ächten und gänzlich tilgen wollten, wie es tatsächlich der Agenda der Jusos entspricht.
Vom Cicero als einer gefragt, der die politische Szene in Neukölln besonders gut kenne, antwortet Al-Mashhadani: „Ich beobachte, dass die Muslimbrüderschaft versucht, Einfluss über junge Leute zu gewinnen – besonders in der SPD-Jugend, der Grünen-Jugend oder linken Gruppen.“ Immerhin würden auch Teile der SPD noch hinter ihnen stehen und nach dem vereitelten Anschlag auf ihn solidarisierte sich Kai Wegner (CDU) öffentlich und verurteilte die „feige Tat“ – bei der jetzt der Staatsschutz ermittelt. Doch „die Grünen und vor allem die Linke lassen es geschehen, dass wir islamistischen und extremistischen Milieus dann zum Fraß vorgeworfen werden“. Nach Martin Hikels aufgenötigtem Abgang bestehe, so Al-Mashhadani, in weiten Kreisen sehr große Sorge, wobei er für sich persönlich eigentlich keine Angst habe. Aber er müsse mit der Gewissheit leben: „Es gibt Islamisten und Linksextreme, die mich töten möchten“.



