Im Februar 2020 hatte das Bundesverfassungsgericht klargestellt: Selbstbestimmtes Sterben ist einschließlich einer Selbsttötung ein Grundrecht. In seinem damaligen Urteil wurde als Möglichkeit eingeräumt, dass zur Suizidhilfe ein bestimmtes Prozedere gesetzlich konkretisiert werden könne. Darin hätte der Bundestag insbesondere Prüfkriterien zu normieren, ob Suizidenten ihre Entscheidung freiwillensfähig, das heißt reiflich überlegt gefasst haben, und über Alternativen hinreichend aufgeklärt worden sind. Ihr Entschluss sei zudem vor eventueller Fremdbeeinflussung oder Übereilung zu bewahren. Bei einer diesbezüglichen Abstimmung im Bundestag am 6. Juli 2023 konnte keiner der konkurrierenden – jeweils fraktionsübergreifenden – Gesetzentwürfe eine Mehrheit auf sich vereinigen. Erst jetzt, zwei Jahre später, hat sich eine Gruppe von Bundestagsabgeordneten zu einer Kompromissbildung zusammengefunden, um einen neuen, dann mehrheitsfähigen Entwurf zu erarbeiten.
Immer schon, das heißt vor wie nach dem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichtes, galt und gilt in Deutschland der Rechtsgrundsatz: Die Hilfe oder Assistenz zur Selbsttötung eines Menschen, dessen Freiwillens- und Einsichtsfähigkeit (etwa im Zustand eines Delirs oder einer akuten Psychose) nicht gegeben ist, stellt den Straftatbestand eines Tötungsdelikts dar. Es wird dann von einer „mittelbaren Tatherrschaft“ ausgegangen – wobei die unmittelbar zum Tod führende Letzthandlung vom einsichtsunfähigen Suizidenten selbst ausgeführt wird. Dieser wird rechtlich als „Opfer“ der ggf. geistig-mentalen „Herrschaft“ desjenigen angesehen, der die Suizidassistenz vorbereitet und das Gesamtgeschehen weitgehend kontrolliert hat. Die entsprechende Anklage lautet in strafrechtlicher Terminologie „Totschlag“ gemäß § 212 StGB (mit Haftstrafe von 5 Jahren aufwärts), in minder schweren Fällen mit möglicher Reduzierung gemäß § 213 StGB.
Hintergründe für die Verurteilung von Dr. Spittler
Um Hilfe zur Selbsttötung – egal wem – rechtmäßig leisten zu dürfen, muss laut dem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts einzig ein Kriterium sichergestellt sein: die Freiverantwortlichkeit des Suizidenten. Seitdem zeigt sich mit der Zunahme von Suizidhilfefällen in Deutschland, dass vor allem bei psychisch erkrankten oder gestörten Menschen dieses Kriterium schwer zu erfassen und zu gewährleisten ist. Patient*innen etwa im Terminalstadium einer Krebserkrankung wird es viel eher zugebilligt, und auch schwer pflegebedürftige oder lebenssatte Hochbetagte können heutzutage legal sogenannte Freitodhilfe bei Sterbehilfeorganisationen erhalten.
Der durch Medienbeiträge bundesweit wohl bekannteste deutsche Sterbehelfer Dr. Spittler (83) war 2024 wegen ärztlicher Assistenz bei der Selbsttötung eines Mannes mit psychiatrischer Diagnose und langer Vorgeschichte verurteilt worden. Die Anklage lautete „Totschlag in mittelbarer Täterschaft durch Suizidhilfe“, das Urteil betrug drei Jahre Gefängnis. Es wurde vom Landgericht Essen als erwiesen angesehen: Der Suizident sei nicht hinreichend in der Lage gewesen, freiverantwortlich zu entscheiden. Spittler, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, habe dem 42-jährigen Oliver H. Suizidhilfe gewährt, obwohl ihm bewusst gewesen sei, dass dessen Entschluss zur Selbsttötung durch akute Schizophrenie beeinträchtigt war.
Spittlers Beschwerde gegen seine Verurteilung beim Bundesgerichtshof scheiterte. Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil der Vorinstanz. Die ausführliche Urteilsbegründung umfasst 16 Seiten und ist von der Autorin hier im hpd zusammengefasst worden. Im Wesentlichen kommt auch das Berufungsgericht zu der Bewertung: Auf Grundlage der von Spittler (als Psychiater) selbst entwickelten Definition von Freiverantwortlichkeit sei er zu dem Ergebnis gekommen, dass der Suizidwunsch von Oliver H. nachvollziehbar auf Dauerhaftigkeit sowie aktueller Einwilligungs- und Entscheidungsfähigkeit beruhe. Der Beschuldigte habe dabei die strafrechtliche Grenze aus Mitleid mit dessen Leidensgeschichte „sehenden Auges“ überschritten.
Das Urteil zur 3‑jährigen Gefängnisstrafe wurde nach Scheitern der Revision rechtskräftig und der 83-Jährige musste am 10. Juli dieses Jahres seine Gefängnisstrafe antreten. Nach Aussage seiner Ehefrau (die ihn bis dato nicht einmal besuchen durfte), hofft er auf baldige Hafterleichterungen und auch auf einen vielleicht möglichen offenen Vollzug.
Parteiübergreifende Initiative sucht Kompromisslösung
Der sich im Gefängnis befindliche Dr. Spittler (83) ist nicht nur ein Novum, sondern auch ein Sonderfall, der Suizidhilfe bei einem Psychiatriepatienten betrifft. Ganz unabhängig davon und schon vor dem endgültigen Urteil gegen den Arzt hat sich eine neue Initiative von Abgeordneten demokratischer Parteien gebildet. Diese wollen es nicht länger beim Status quo belassen. Anders als vor zwei Jahren mit zwei konkurrierenden Entwürfen soll nun nur ein einziger Gesetzesvorschlag im Bundestag eingebracht werden.
Der seit 2023 eingetretene gesetzgeberische Stillstand wird für unbefriedigend erklärt. Dazu gibt es innerhalb der Initiative allerdings divergierende Argumente. Eine liberale Position lautet: Ernsthafte Patient*innenwünsche nach Assistenz zur Selbsttötung wären häufiger und besser als bisher umsetzbar, wenn Ärzt*innen in der Behandlungssituation dazu klare gesetzliche Regularien befolgen könnten. Zur Unterstützung sollten zudem staatlich finanzierte sozial-psychologische Beratungsstellen eingerichtet werden, um die selbstbestimmte Entscheidungsfindung von Rat- und Hilfesuchenden zu befördern. (Wenngleich der Gefängnisaufenthalt von Spittler als extremer Einzelfall anzusehen ist, dürfte er in der Ärzt*innenschaft zu verstärkter Zurückhaltung führen, auch aussichtslos schwerleidenden Patient*innen Suizidhilfe zu gewähren.)
Die restriktive Gegenposition begründet den angenommenen Handlungsbedarf genau umgekehrt: Es müssten zusätzliche Hürden eingebaut werden, mit rechtlichen Konsequenzen bei Zuwiderhandeln. Vor allem vulnerable Gruppen – das heißt besonders schwache und hilfsbedürftige Menschen – wären vor geschäftsmäßig organisierter und leicht zugänglicher Suizidhilfe zu schützen. Für sie würden immer normaler werdende und verführerische Angebote, human und schnell aus dem Leben zu scheiden, zur Gefahr werden. (Dies würde zukünftig auch Werbung von kommerziellen Anbietern für angeblich suizidtaugliche Mittel betreffen, die käuflich zu erwerben sein können.)
Sterbehilfevereine wiederum, die Freitodbegleitung ausschließlich für ihre Mitglieder anbieten, halten eine gesetzliche Regelung für überflüssig, die Autonomie einschränkend und somit schädlich. Sie weisen auf verbandsinterne Sorgfaltskriterien hin. Diese hätten sich in der Praxis bewährt. Eine Grauzone gäbe es nicht, sichere Abläufe hätten sich gut eingespielt. Der Zugang zur bei uns erlaubten Selbsttötungshilfe bleibt indes privilegiert: Im Bedarfsfall muss man bereitwillige Ärzt*innen kennen oder längere Zeit vorher Mitglied in einem der Vereine geworden sein oder aber über 8.000 Euro verfügen, um die Dienste von einer unlängst gegründeten (Sterbehilfe-)Gesellschaft mbH in Anspruch zu nehmen. (Näheres zu den inzwischen vier nach ausgewiesenen Richtlinien tätigen Organisationen siehe infopunkt-sterbehilfe.de/hilfe-finden.)
Kompromissversuch für ausgewogene Rechtslage
Anders als in den Niederlanden (und wie in einigen anderen europäischen Ländern jetzt geplant) gilt hierzulande die legale Suizidhilfe nicht nur für Menschen mit schwersten körperlichen Leiden und unheilbaren Krankheiten. Vielmehr bezieht die deutsche Rechtslage genauso etwa Lebenssattheit, Mehrfacherkrankungen und auch psychische Störungen mit ein – sofern diese die Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit nicht beeinträchtigen.
Die weltanschaulichen Positionierungen stehen sich kontrovers gegenüber. In der neuen Initiative haben sich Abgeordnete aus unterschiedlichen Fraktionen (außer AfD) zusammengefunden, um die Anhänger*innen von bislang miteinander streitenden Grundhaltungen zusammenzuführen. Dadurch soll eine gesetzliche Regelung der Suizidassistenz diesmal gelingen. Das gab dem Tagesspiegel gegenüber Matthias Mieves bekannt, der stellvertretende gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, welcher der Gruppe angehört (nicht zu verwechseln mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Matthias Miersch). Aus der SPD gehört der Gruppe zudem etwa Helge Lindh an, der sich 2023 im Bundestag für den liberalen Gesetzentwurf eingesetzt hatte.
Aller Voraussicht nach kann es keinen modifizierten Nachfolgetatbestand für den vom Bundesverfassungsgericht gekippten Strafrechtsparagrafen 217 geben. Auch Lars Castellucci (SPD), der 2023 federführend einen solchen (in vermeintlich dann verfassungskonformer Gestaltung) mit Ansgar Heveling (CDU) und Kirsten Kappert-Gonther (Grüne) erneut vorgelegt hatte, zeigt sich diesbezüglich belehrbar und einsichtig. In der Rheinischen Post vom 02.06.2025 hat Castellucci (inzwischen sozialdemokratischer Menschenrechtsbeauftragter) nun kompromissfähige Töne angeschlagen: „Wir müssen die Entscheidung von Menschen respektieren, die ihr Leben selbstbestimmt beenden wollen – aber gleichzeitig verhindern, dass Suizid als etwas Normales erscheint und dadurch verletzliche Menschen unter Druck geraten.“ Castellucci zeigt sich „überzeugt“, dass der Gesetzgeber nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes eine „klare und ausgewogene Regelung“ zum assistierten Suizid schaffen müsse.
Auch der Grünen-Abgeordnete Lukas Benner (er zählte im vorigen Bundestag zu den zehn jüngsten Mitgliedern) gehört der kürzlich formierten Gruppe an. Er war maßgeblich beteiligt an dem liberal gehaltenen Antrag von Katrin Helling Plahr (FDP), Renate Künast (Grüne) und Helge Lindh (SPD) und Petra Sitte (Linke) in der letzten Legislatur. Benner erklärte im Tagesspiegel: „Der Handlungsdruck ist unverändert groß. Wir brauchen eine klare und ausgewogene Rechtsgrundlage, die die individuelle Selbstbestimmung und den Schutz des Lebens gleichermaßen umfasst.“ Demgegenüber begründet die Grünen-Gesundheitspolitikerin Kirsten Kappert-Gonther an gleicher Stelle ihre Mitwirkung in der Arbeitsgruppe wie folgt: „Wir wollen die Regulierung des assistierten Suizids wieder in Angriff nehmen, denn sie ist ein wichtiger Baustein der Suizidprävention.“
Tiefe Gräben und Klärungsbedarfe
Es gehe ihr – Kappert-Gonther ist von Beruf Psychiaterin – vor allem um ein Schutzkonzept, das der missbräuchlichen Durchführung des assistierten Suizids vorbeuge. Sie hatte sich vor zwei Jahren dazu noch zusammen mit Castellucci und anderen für eine moderate Strafrechtsregelung starkgemacht, in der quasi eine psychiatrische Begutachtung als Regelfall vorgeschrieben war.
Der Rechtswissenschaftler Prof. Helmut Frister, der 2023 im Rechtsausschuss ausdrücklich den liberalen Gesetzentwurf unterstützt hatte, ist nichtsdestotrotz von der neuen Abgeordneteninitiative angetan: „Ich finde es grundsätzlich positiv und sinnvoll, dass sich der Bundestag um eine Regelung in der Suizidbeihilfe bemüht“, wird er im Beitrag der Rheinischen Post zitiert. Frister zeigt sich überzeugt, dass es diesmal jedenfalls keine neue Regelung im Strafgesetzbuch geben kann und wird. „Diesen Verzicht begrüße ich sowohl in der Sache als auch deshalb, weil sich dadurch die Chancen für die Verabschiedung einer gesetzlichen Regelung erhöhen“, sagte der Rechtswissenschaftler, der aktuell Vorsitzende des Deutschen Ethikrats ist.
In der Sache steht zur Debatte, ob und wann ärztliche Suizidhelfer*innen die Zweitmeinung eines Kollegen oder einer Kollegin einzuholen hätten (sogenanntes Vieraugenprinzip – zu dem unter Umständen Haus‑, Fach- oder Palliativärzt*innen, die ihren suizidwilligen Patient*innen gut kennen, nicht verpflichtet wären). Auch stellt sich die Frage, wer bei Hinweisen auf eine psychische Erkrankung die geforderte Freiwillensfähigkeit des Suizidenten zu prüfen hätte. Zudem spielt im Einzelfall die Bestimmung der „Dauerhaftigkeit“ des Suizidhilfebegehrens eine Rolle, wobei sich standardisierte Zeitfenster verbieten (und hoffentlich nicht wieder eine Rangelei darüber auf die Tagesordnung kommt). Schließlich wird es um die Qualität einer verpflichtenden Dokumentation gehen und bei gegebenenfalls nicht-medizinischen Suizidgründen auch um sozial-psychologische Beratung zu lebensorientierten Alternativen. Einige Kritiker*innen des Status quo haben auch bemängelt, wenn nur ein und derselbe Arzt für alles zuständig ist: Vom Erstgespräch über medizinische Beratung, Begutachtung sowie Durchführung der Suizidhilfe bis zur Ausstellung des Totenscheins (wie es übrigens bei der besagten Suizidassistenz bei Oliver H. durch Dr. Spittler der Fall war).
Das Gesetzgebungsverfahren muss in dieser Legislaturperiode vollständig neu aufgerollt werden – auch wegen veränderter Mehrheitsverhältnisse im Parlament und der neuen Mitglieder. Die Aussicht auf Mehrheitsverhältnisse für eine gesetzliche Neuregelung der Suizidhilfe unter Ausschluss der AfD-Fraktion sind zahlenmäßig hier (siehe den letzten Absatz) erläutert. Es käme darauf an, parteiübergreifend möglichst viele Abgeordnete einzeln zu überzeugen, da der Fraktionszwang bei dem Gruppenantrag wieder aufgehoben sein wird.