Frau Avram, was halten Sie von der kulturpessimistischen These, dass das Krieg führen zum Menschsein dazugehört?
Sagen wir so, die These hat eine reale Entsprechung in dem Sinne, dass Konflikte zur Menschheitsgeschichte gehören. Und es gibt eben gewaltsam ausgetragene Konflikte, die auch die Kriegsbezeichnung erfahren können, da muss man unterscheiden. Ich glaube aber, das ist ein wichtiger Punkt, dass dies nichts Dämonisches ist. Ohne Konflikte hätten wir viele Errungenschaften nicht, über die wir uns heute freuen, zum Beispiel das Frauenwahlrecht. Das ist auch etwas Emanzipatorisches. Wir neigen allerdings zu einem dichotomen Denken: das Böse und das Gute …
… schwarz und weiß, Krieg und Frieden …
Genau. Krieg und Frieden werden immer als einander ausschließende Kategorien dargestellt: Entweder gibt es das eine oder das andere. Aber in der Konfliktforschung, und auch meiner Ansicht nach, ist es ein Kontinuum.
Kristine Andra Avram (*1987) ist Wissenschaftlerin am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der (inter-)nationalen Strafjustiz und Transitional Justice, der Rechtssoziologie sowie narrativen Ansätzen und Analysen.
Müssen wir uns also damit abfinden, dass es Kriege immer geben wird?
Dass immer schon Kriege in der Menschheitsgeschichte geführt wurden, das ist de facto so – nur, welche Erzählung haben wir darüber? Sagen wir: „Es war schon immer so und deswegen werden wir immer Kriege führen“? Die gleichen Fakten führen in unterschiedlichen Kontexten zu unterschiedlichen Erzählungen. Außerdem ist die Menschheitsgeschichte nicht nur von Gewalt geprägt, sondern auch von Widerstand, Mut und Transformation. Wenn ich einzig der Lesart der Gewalt folgen würde, wäre meine Arbeit eigentlich obsolet und würde insbesondere die vielen Situationen und Erfahrungen negieren, in denen Frieden geschaffen wurde und Versöhnung gelang.
Natürlich würden wir uns wünschen, wir hätten den Fahrplan und könnten sagen, so und so schafft man Frieden. Aber den gibt es nicht, insbesondere vor dem Hintergrund, dass es so viele Verflechtungen und Interessen gibt. Es gilt daher, unseren Blick zu diversifizieren und diese Komplexität anzuerkennen und auch auszuhalten.
Stichwort Komplexität – da denke ich sofort an den Konflikt zwischen Israel und Palästina. Auch da neigen viele wohl zu dem, wie Sie anfangs sagten, dichotomen Denken.
Ja, ein passendes Beispiel. Es wird immer allgemein gesprochen vom „Israel-Palästina-Konflikt“. Aber auch hier handelt es sich um eine sehr vielschichtige Gesellschaft mit unterschiedlichen Perspektiven auf die Politiken. Diese Komplexität wird oftmals vergessen, auch wenn wir Friedensförderung und Friedensstrukturen versuchen von außen anzustreben. Das ist der sogenannte Tunnelblick. Das gibt es leider überall, dass man sich auf eine Ebene fokussiert oder eben auf eine Konfliktlinie. Und diese Konfliktlinie stellt man sich dann sehr einfach vor, auf einer einzigen zeitlichen Ebene: Hier ist Frieden, dann bahnt sich ein gewaltsamer Konflikt an, es kommt zum massiven Ausbruch von Gewalt. Man interveniert und dann geht die Konfliktlinie runter und wir sind wieder im Friedenszustand.
Wohl nicht besonders realistisch?
Nein. In der Realität ist so eine Konfliktkurve ein absolutes Wirrwarr, ein Knäuel von Linien. Es gibt keine Linearität, weder in der Zeitlichkeit noch im Raum. Aber es ist ein menschliches Bedürfnis, dass wir uns ganz simple, einfache Erklärungen und Lösungen wünschen – gerade in Unsicherheitsmomenten oder wenn es eine überbordende Komplexität gibt, wie eben in einem Kriegsgeschehen oder wenn wir an Globalisierung denken.
Auch wenn es keinen „Fahrplan für Frieden“ gibt: Es gibt durchaus Studien, die zeigen, dass es in demokratischen Systemen signifikant weniger kriegerische Auseinandersetzungen gibt, sowohl nach innen als auch nach außen.
Das ist richtig, allerdings ist es wichtig zu schauen: Seit wann gibt es diese Wissensbestände? Nationalstaaten und die Demokratieformen, wie wir sie heute haben, gibt es auch noch nicht so lange. Aber ja, es ist ein wichtiger Punkt, dass Demokratien weniger in Kriege involviert sind. Nur: Verflochten sind wir dennoch alle in diese Kriege, auf unterschiedliche Art und Weise. Da gibt es zum Beispiel die historische Verflechtung. Unsere Weltordnung, wie sie heute ist, ist auf Gewalt aufgebaut. Wenn wir an den Kolonialismus denken, ist das einfach ein Gewaltsystem. Die Frage ist: Wie gehen wir damit heute um?
Die europäischen Kolonialmächte sind jedenfalls verantwortlich für viele, auch gewaltsam ausgetragene, Konflikte weltweit. Haben diese Länder aufgrund ihrer Geschichte folglich eine Verantwortung, in solche Konflikte einzugreifen, sich einzumischen?
Ich persönlich würde sagen: Es ist immer geboten, sich einzumischen, wenn Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Es stellt sich aber die Frage nach der Art und Weise der Einmischung, die von militärischen Interventionen oder Waffenlieferungen über begleitete Reformprozesse und die Schaffung von Dialogräumen bis hin zur Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen reichen kann. Ich persönlich sehe die erstgenannten Formen kritisch und beziehe mein „Ja“ zur Einmischung auf letztgenannte Formen.
Es ist auch zu schauen, mit welcher Intention mischen wir uns anderswo ein und auf welcher Grundlage? Nehmen wir als Referenzrahmen das, von dem wir – der Westen – glauben, dass es das Richtige ist? Oder sind wir uns divergierender Perspektiven bewusst und orientieren uns daran, was vor Ort primär gewünscht wird?
Dies ist auch eine Frage des Realitätschecks: sich also bewusstwerden, dass die Möglichkeiten zum Eingreifen manchmal beschränkt sind und dass – bei den besten Intentionen, die man hätte – es nicht heißt, dass es immer gelingen wird, weil es eben ein sehr komplexer Prozess ist. Und was ebenfalls oft fehlt, ist eine Analyse und Evaluation der Intervention. Was hat denn geklappt? Welche Ziele sind verfehlt worden? Diese vielleicht auch unbequeme Auseinandersetzung darf man nicht scheuen.
Inwiefern könnte eine feministische Außenpolitik dazu beitragen, Frieden zu finden bzw. Frieden zu wahren?
Dazu würde ich das aufgreifen, was Annalena Baerbock gesagt hat, nämlich dass feministische Außenpolitik „kein Gedöns“ sei, sondern auf der Höhe der Zeit. Denn so wie Außen- und Sicherheitspolitik bisher betrieben wurde, hat es ja nicht unbedingt zu friedvolleren Zeiten beigetragen. Und bei einer feministischen Außenpolitik geht es eben nicht nur darum, dass auch Frauen einbezogen werden. Feminismus ist eine Widerstandspraxis, bei der es um das Aufbrechen von Kategorien geht, und auch ein Instrument der Machtkritik, das darauf hinweist, dass es Ungleichheiten gibt, die Effekte auf die Gesamtgesellschaft haben. Wenn man das überträgt, kann man besser verstehen, welche Möglichkeiten das Konzept bietet. So geht es darum, zu verstehen, dass Ungleichheiten per se eine Gefahr für Frieden sind und wir anders damit umgehen müssen. Denn hier ist sich die Forschung einig: Je größer die Ungleichheit in einer Gesellschaft, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit eines gewaltsamen Konfliktausbruchs.
Ich bin gespannt auf die realpolitische Umsetzung des Konzeptes, aber ich denke, dass feministische Außenpolitik eine sehr nützliche Linse sein kann, um Gesellschaften anders wahrzunehmen, in ihrer Breite und in ihrer Diversität.
Mich beschäftigt mit Blick auf den aktuellen Krieg in der Ukraine, aber auch mit Blick auf die deutsche Geschichte und zwei Weltkriege, wie überhaupt wieder Frieden hergestellt werden kann. Selbst wenn ein Krieg für beendet erklärt und ein Friedensvertrag unterzeichnet wurde, gibt es ja noch lange keinen Frieden. Wie lässt sich diese Transformation vom Krieg zum Frieden gestalten und wie kann eine Versöhnung erreicht werden?
Friedenswahrung ist ein anstrengender, generationenübergreifender Prozess. Der hört nie auf. Das sieht man auch in Deutschland, das mittlerweile für seine Erinnerungskultur sehr bekannt ist. Ich glaube, dass es überhaupt Versöhnung mit Ländern wie Frankreich oder Polen gab, ist zu einem Großteil zivilgesellschaftlichen Bemühungen zu verdanken. Zivile Konfliktbearbeitung wird allerdings immer ein bisschen stiefmütterlich behandelt, der Fokus liegt auf der staatlichen und oft auch militärischen Ebene. Aber Versöhnung findet vor allem auf der gesellschaftlichen Ebene statt. Natürlich gibt es solche ganz wichtigen Momente wie den Kniefall von Willy Brandt. Aber eine Gesellschaft besteht eben aus Strukturen und Beziehungen – und Beziehungen laufen zwischen Menschen ab. Deswegen sind Maßnahmen wie Austauschprojekte oder Städtepartnerschaften so wichtig. Und man muss es auch den Gesellschaften zugestehen, in ihrem eigenen Tempo voranzugehen. Manche Dinge brauchen Zeit.
Sie haben Erinnerungskultur angesprochen. Welche Rolle spielt die bei der Erreichung oder Wahrung von Frieden?
Auch bei der Erinnerungskultur geht es wieder darum, Ambivalenzen und divergierende Perspektiven anzuerkennen und auszuhalten. In der Erinnerungskultur sollte natürlich den Menschen, die Gewalt erfahren haben, vorrangig eine Stimme gegeben werden. Aber es ist auch wichtig, die Erzählungen und die Erfahrungen von Zuschauenden, Involvierten und so weiter mit einzufassen, damit wir daraus lernen können. Denn Erinnern ist nicht nur Gedenken, erinnern heißt auch verändern. Nicht nur zu sagen „Das war schlimm“, sondern „Das war schlimm und was machen wir jetzt?“.
Da sind wir wieder bei der Verantwortung: Nicht nur Betroffenheit zu zeigen und dort aufzuhören, sondern aktiv an Beziehungen zu arbeiten und diese zu gestalten. Meinen Sie das?
Genau, Verantwortung ist relational. Ich bin ja nicht in einem luftleeren Raum verantwortlich, sondern fühle mich verantwortlich, oder ich halte jemanden verantwortlich, in Bezug zu etwas. Es ist eine Beziehung. Da komme ich wieder auf die zivilgesellschaftliche Ebene und was diese leisten kann.
Trotz der angesprochenen Komplexität zum Abschluss die sehr verkürzte Frage: Was braucht es für Frieden?
Es braucht für Frieden eine realistische Erwartungshaltung an unsere Möglichkeiten und auch daran, wie sich Gesellschaften und Strukturen und Beziehungen verändern – und es braucht einen holistischen Blick.
Frieden ist eine Arbeit, die wir machen, eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und ein fortwährender Prozess. Und gerade auch das Wissen um die Zerbrechlichkeit von Frieden ist hierfür wichtig. Nur wenn wir verstehen, dass Frieden kein absoluter, einmal erreichter Endzustand ist, sondern ein emergenter Prozess und das Ergebnis vielschichtiger, generationenübergreifender Aushandlungs- und Versöhnungsprozesse, können wir sinnvolle Strategien entwickeln und das Lernen um Frieden konstruktiv gestalten.