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Humanistische Seelsorge

Die Kraft des Humanismus

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Beitragsbild: Lina Trochez/unsplash

Menschen brauchen Unterstützung, wenn sie sich in Krisen befinden. Gleichgültig, ob sie am Ende ihres Lebens sind oder mittendrin, gibt es Zeiten, in denen sie Unterstützung benötigen. Ein Gespräch mit drei Menschen, die sich mit diesem Thema beschäftigen: Manouchehr Navissi, Ulla Ringe und Sven Thale.

Men­schen, die nicht mehr wei­ter­wis­sen, die sich in Gewis­sens­kon­flik­ten wie­der­fin­den, im Gefäng­nis, in der Armee, hilf­los in Kran­ken­häu­sern oder in Alten­hei­men sind, soll­ten die Mög­lich­keit haben, kom­pe­ten­te und adäqua­te Hil­fe zu bekom­men. Im reli­giö­sen Kon­text wird dies Seelsorger*in genannt, eine Per­son, die zuhö­ren kann, die rich­ti­gen Fra­gen stel­len wird und für Klar­heit oder auch Erleich­te­rung sor­gen kann.

Reli­giö­se Insti­tu­tio­nen bie­ten die­se Unter­stüt­zung, ein­ge­bet­tet in Ritua­le und mit Hil­fe von Berater*innen. Auch Therapeut*innen beglei­ten Men­schen in Kri­sen, die sich auf eine län­ge­re Zeit der Refle­xi­on und Ver­än­de­rung ein­stel­len kön­nen und wol­len.

Was aber kann Men­schen gebo­ten wer­den, die sich akut in einer Kri­se befin­den und mensch­li­chen Bei­stand brau­chen, sich jedoch einen Bei­stand frei von reli­giö­sen Ideen wün­schen? Der Bedarf an huma­nis­ti­schem Bei­stand in einem Land wie Deutsch­land mit 44 % kon­fes­si­ons­frei­en Men­schen (Stand 2020) dürf­te ent­spre­chend hoch sein. Den­noch gibt es bis­her kei­ne pas­sen­den Begleiter*innen, die zum Bei­spiel in Kran­ken­häu­sern oder Pfle­ge­hei­men, in der Bun­des­wehr, die­ser wich­ti­gen Auf­ga­be nach­kom­men.

Drei Men­schen, die sich mit die­sem The­ma beschäf­ti­gen, sol­len hier zu Wort kom­men: Manouch­ehr Navis­si, 84 Jah­re alt, Huma­nist, Archi­tekt, Maler, poli­ti­scher Akti­vist, Vater von vier Kin­dern, der drei Hei­mat­län­der hat: Spa­ni­en, Deutsch­land und Iran. Ulla Rin­ge, 63 Jah­re alt, Huma­nis­tin, lang­jäh­ri­ge Lebens­kun­de­leh­re­rin, huma­nis­ti­sche Fei­er­red­ne­rin in Aus­bil­dung, Femi­nis­tin, Töp­fe­rin, Gärt­ne­rin, Mut­ter und Oma. Und Sven Tha­le, 53 Jah­re alt, Huma­nist, Refe­rent im Huma­nis­ti­schen Ver­band Deutsch­lands, Vater von zwei Kin­dern und Wahl-Ber­li­ner seit 1997.

Der eine hat genau die­sen huma­nis­ti­schen Bei­stand schmerz­lich ver­misst, als er letz­ten Herbst einen dra­ma­ti­schen Kran­ken­haus­auf­ent­halt durch­ste­hen muss­te; der ande­re kämpft seit eini­ger Zeit dafür, genau die­sen Bei­stand poli­tisch durch­zu­set­zen. Die Drit­te beschäf­tigt sich schon immer mit der Fra­ge, was ein gutes Leben ist. Durch die Aus­bil­dung zur Fei­er­red­ne­rin beschäf­tigt sie sich auch mit den exis­ten­zi­el­len Momen­ten des Lebens, wie Hoch­zei­ten, Beer­di­gun­gen und Namens­fei­ern.

Was bedeutet Humanist*in sein für Sie? Wann haben Sie beschlossen, sich als Humanist*in zu bezeichnen?

Manouch­ehr Navis­si: Huma­nist sein bedeu­tet, über­legt zu han­deln und dabei kei­nen Scha­den anzu­rich­ten oder Men­schen zu ver­let­zen. Ehr­lich­keit, Ver­nunft und über­leg­tes Han­deln sind die Grund­la­gen für mein Huma­nist-Sein. Ich war bereits über 60 Jah­re alt, als ich mich mit den Fra­gen des Huma­nis­mus beschäf­tigt habe. Die­se haben mich begeis­tert und ich habe gemerkt, dass ich Huma­nist bin und wahr­schein­lich schon immer war.

Ulla Rin­ge: Für mich bedeu­tet Huma­nis­tin zu sein, mensch­lich zu sein auf der Basis von Ver­nunft, Wis­sen und Wis­sen­schaft. Das heißt, Respekt und Ach­tung gegen­über allen Men­schen (auch Anders­den­ken­den), sowie Tie­ren und der Natur ohne die Vor­stel­lung im „Jen­seits” für eige­nes Han­deln bestraft oder belohnt zu wer­den. Ich bin ver­ant­wort­lich für mein Leben und mit­ver­ant­wort­lich für das Gro­ße und Gan­ze. In Bezug auf Men­schen muss immer die Wür­de im Vor­der­grund ste­hen.

Sven Tha­le: In per­sön­li­cher Hin­sicht bedeu­tet Huma­nist zu sein für mich, auf­merk­sam für Men­schen zu sein. Denn als Welt­an­schau­ung lei­tet der Huma­nis­mus sich vom Men­schen ab. Doch wenn wir schnell ver­all­ge­mei­nern, was der Mensch eigent­lich sei, dann erfah­ren wir nicht viel über die Viel­falt und Wider­sprüch­lich­keit der Welt. Dar­in liegt schon die zwei­te exis­ten­zi­el­le Bedeu­tung des Huma­nist-Seins für mich: selbst abzu­wä­gen, was ich aus­hal­ten soll­te und was nicht. Und die drit­te: ver­bun­den zu sein mit Ande­ren und mit der Natur. Das hilft enorm beim Abwä­gen. Etwas all­ge­mei­ner sehe ich den Huma­nis­mus vor allem als kul­tu­rel­len Rah­men, der Men­schen hilft, sich gegen­sei­tig vor den Abgrün­den der Destruk­ti­vi­tät zu schüt­zen und ihre sozia­len Bemü­hun­gen um Eman­zi­pa­ti­on und Wür­de unter­stützt.

Welche Unterstützung hätten Sie sich gewünscht, als Sie sich in der lebensbedrohlichen Situation im Krankenhaus befanden?

Manouch­ehr Navis­si: Ich brauch­te zum einen die Unter­stüt­zung mei­ner Fami­lie, aber ich hät­te auch ger­ne einen wei­te­ren Men­schen gehabt, mit dem ich The­men, die mich beschäf­tigt haben, bespro­chen hät­te. Zum Bei­spiel die Angst zu ster­ben oder wie es wei­ter­geht, falls ich nicht mehr allei­ne leben kann. Da ich nicht reli­gi­ös bin, ging es mir nicht um reli­giö­sen Trost, son­dern um eine mit­füh­len­de Per­son, die mir bei­steht, in dem Wis­sen, nicht zu wis­sen.

Wie kann humanistischer Beistand für Menschen in Krisen aussehen? Helfen die vier Fragen von Immanuel Kant – Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? –, um Menschen in Not zu unterstützen oder ist das zu leicht beziehungsweise zu schwer?

Sven Tha­le: Ein huma­nis­ti­scher Bei­stand bie­tet Hil­fe­su­chen­den die Sicher­heit, Gesprä­che auf Grund­la­ge einer evi­denz­ba­sier­ten Welt­an­schau­ung füh­ren zu kön­nen. Im Hin­blick auf Kant hilft uns bereits, dass er genau die­se Fra­gen stellt. Denn wenn wir uns mit ihnen aus­ein­an­der­set­zen, wer­den wir mer­ken: Unse­re Ant­wor­ten sind immer vor­läu­fig. Dar­an zeigt sich einer­seits, dass Fort­schritt stets mög­lich ist – ande­rer­seits lehrt uns die­se Aus­ein­an­der­set­zung Beschei­den­heit. Bei­de Dimen­sio­nen sind gegen­über Men­schen in Kri­sen wich­tig: die opti­mis­ti­sche und die zurück­hal­ten­de, offe­ne.

Ulla Rin­ge: Huma­nis­ti­scher Bei­stand in Bezug auf die Fra­gen von Kant könn­te fol­gen­der­ma­ßen aus­se­hen: Ich kann wis­sen, was man mir mit­teilt in Wor­ten, Ges­ten, Emo­tio­nen und Schwei­gen. Dafür muss ich gut zuhö­ren und mich auf die jewei­li­ge Per­son ein­las­sen. Ich muss Inter­es­se an dem Men­schen und sei­ner Bio­gra­fie haben und Fra­gen stel­len. Ich bin da und höre zu. Durch die­ses Wis­sen kann ich tun, was die Per­son sich wünscht, wenn es im Rah­men mei­ner Mög­lich­kei­ten liegt. Ich kann für eine schö­ne Atmo­sphä­re sor­gen, mit Musik, Bil­dern, Düf­ten, Hand hal­ten etc. Je nach­dem, was ich über die Per­son weiß, kann ich auf die Bedürf­nis­se (zum Bei­spiel am Ende des Lebens) ein­ge­hen. Ich darf hof­fen, dass ich dem Men­schen durch mei­nen Bei­stand hel­fen kann bezie­hungs­wei­se die Not lin­dern, und die Angst schmä­lern kann. Der Mensch ist Pro­dukt sei­ner Erfah­run­gen und Erleb­nis­se und muss wür­de­voll, respekt­voll und acht­sam behan­delt wer­den.

Manouch­ehr Navis­si: Es geht um Zuhö­ren und dar­um, die rich­ti­gen und wich­ti­gen Fra­gen zu stel­len oder auch ein­fach nur dar­um, die Hand zu hal­ten.

Welche Schritte fehlen noch, um humanistischen Beistand institutionell zu etablieren? In welchen Institutionen sollte dieser angeboten werden?

Sven Tha­le: Das lang­fris­ti­ge Ziel ist, huma­nis­ti­sche Lebens­be­glei­tung als ein selbst­ver­ständ­li­ches Ange­bot in unse­rer Gesell­schaft zu ver­an­kern, in dem Trost und Hoff­nung auf einem reli­gi­ons­frei­en Hin­ter­grund erfah­ren wer­den kön­nen. Dabei ist es sinn­voll, in Insti­tu­tio­nen zu begin­nen, die in Arti­kel 140 des Grund­ge­set­zes genannt wer­den: Kran­ken­häu­ser, Gefäng­nis­se, Poli­zei und Bun­des­wehr. Denn hier sind Men­schen in beson­de­rer Wei­se gebun­den und kön­nen bedroh­li­che Situa­tio­nen nicht ein­fach ver­las­sen. Sofern es sich dabei um staat­li­che Ein­rich­tun­gen han­delt, ist es jeweils eine poli­ti­sche Ent­schei­dung, soge­nann­te Seel­sor­ge­ver­trä­ge mit dem HVD abzu­schlie­ßen, die zu einer Gleich­stel­lung mit den Kir­chen füh­ren. Wenn genü­gend Politiker*innen erkannt haben, dass der größ­te Teil unse­rer Gesell­schaft nur auf Basis einer säku­la­ren Welt­an­schau­ung zu errei­chen ist, wird die­se Gleich­stel­lung erfol­gen.

Vielen Dank für das Gespräch!

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