1. Der Anlass
1.1 Was sind und wozu braucht man „Humanistische Porträts“? Was ist das Ziel, das Konzept dieser kleinen Reihe? Wie ist es entstanden, was war der Anlass? Und schließlich: Welche Probleme gibt es? Ein Problem ist nicht etwa, wie man meinen könnte, der Humanismus.
„Humanismus“ ist einfach eine kulturelle Bewegung, ein Bildungsprogramm, eine Epoche (die italienische Renaissance), eine Tradition (das „klassische Erbe“), eine Weltanschauung (Aufklärung; Freidenker, Freireligiöse), eine Form von praktischer Philosophie, eine politische Grundhaltung, welche für die Durchsetzung der Menschenrechte eintritt, ein Konzept der tätigen Barmherzigkeit, der humanitären Praxis. So steht es in „Humanismus: Grundbegriffe”. Das ist, so scheint es, hinreichend klar. Die Frage ist also nicht, was ist Humanismus, sondern wer oder was ist ein Humanist? Das ist in den „Grundbegriffen“ nicht geklärt.
1.2 In diesem Handbuch gibt es Artikel zu ‚Geschichte’ und ‚Persönlichkeit’, es gibt aber keine Geschichten und keine Personen. Ein einziges Menschenbild ziert das Handbuch „Grundbegriffe“. Es zeigt einen männlichen und einen weiblichen Menschen in antiker Pose und im Lichtkleid. Sie stehen vor den Teilen einer Raumsonde, die auf dem Weg aus unserem Sonnensystem in die Milchstraße fliegt und fernen Lebewesen, wenn es sie gibt, das europäische Menschenbild der Jahre 1971/72 näherbringt. Die Plakette auf dem Raumschiff ist das einzige Kunstwerk und das einzige Bild vom Menschen, das in den „Grundbegriffen“ abgebildet ist.
Das Handbuch „Grundbegriffe“ bietet nur eine Auswahl von fundierenden Begriffen, mit deren Hilfe ein „offenes System“ Humanismus beschrieben werden kann, hat aber keine „Personen-Artikel“; es zeigt also gewissermaßen einen Humanismus ohne Menschen.
2. Das Konzept
2.1 Ein Porträt zeigt das Bild einer oder mehrerer Personen, immer in Ausschnitten, immer selektiv. Das Zentrum ist der Kopf, en face oder im Profil, und die charakteristischen Züge des Gesichts. Nur in Teilen oder gar nicht wird der Körper dargestellt, bis zur Schulter – die Büste, bis zur Hüfte – das Hüftstück. Mimik und Haltung, Kleidung und Schmuck signalisieren Alter, Stand, Beruf, den Typus und Charakter, realistisch oder idealisiert. Das Wichtigste aber ist der Ausdruck des Gesichts. Hier erscheint das Besondere, das Einzigartige der dargestellten Person, nach antiker Anthropologie das proprium, das ídion eines Individuums.
Auf Text übertragen bezeichnet „Porträt“ eine kurze Beschreibung einer Person, so etwa in einer Bewerbung oder einem Nachruf, und die deskriptive Charakteristik (descriptio) einer Person innerhalb eines Epos oder Geschichtswerks. Das literarische Porträt ist keine Biographie, keine umfassende, gleichmäßig ausführliche Erzählung aller Stationen des Lebens und Wirkens einer Person. Und selbst die Biographie verfährt bewusst selektiv. Die Fülle des Geschehens, heißt es in einer klassischen Definition (Plutarch), muss „zugeschnitten“ – epitomiert – werden. Leben ist keine Historie, ein bíos ist keine historía. Die großen spektakulären Ereignisse offenbaren gerade nicht den Charakter: „vielmehr erzeugt ein kurzer Vorfall, ein Spruch, ein Scherz eher den Eindruck des Ethos als Schlachten mit Tausenden Gefallener oder die größten Rüstungen und Belagerungen von Städten“. Plutarch (um 45 – um 125 u. Z.) fährt fort: „Also, wie die Maler die Ähnlichkeiten (in ihren Porträts) vom Gesicht und dem Ausdruck der Augen nehmen, in denen das Ethos erscheint, und sich dabei am wenigsten um die übrigen Teile des Körpers kümmern, so muss es auch mir gestattet sein, eher in die Zeichen der Seele einzudringen und durch sie das Leben des Einzelnen abzubilden und anderen die Großtaten und Kämpfe zu überlassen.“
2.2 Das literarische Porträt ist eine konzentrierte, noch stärker „zugeschnittene“ Biographie. Seine Struktur ist der bíos, Lebenslauf und Lebensform. Darin eingebettet sind die Umrisse eines literarischen Œuvres, oder in Porträts von Männern und Frauen, die als Juristen, Ärzte, Künstler, Politiker, Naturforscher tätig waren, die Umrisse ihrer Wirksamkeit.
Etwas Kleines ist gesucht, ein Büchlein, das „in eine Hand“ passt, ein En-cheiridion, das man bei sich trägt, wie das Miniaturporträt im Medaillon um den Hals oder in der Brieftasche: klein, einfach, möglichst preiswert, transportabel, zum Verschenken.
In der Empfehlung an die Autor*innen der Reihe heißt es: „Ziel der Reihe ist es, vermittelt über das Leben und Werk von Personen, einen breiten und nicht nur akademischen Personenkreis für Humanismus zu interessieren. Ein humanistisches Porträt beansprucht keine Vollständigkeit, sondern wählt selektiv aus Biographie und Werk der jeweiligen Person nur das aus, was in humanistischer Perspektive interessant ist. Die Texte sollen Leserinnen und Lesern einen wissenschaftlich fundierten sowie unterhaltsamen und niedrigschwelligen Zugang ermöglichen, gegebenenfalls ist ein Glossar notwendig.“
Das kleine Humanistische Porträt ist nicht die Form für die Verehrung großer Männer oder Frauen. Die humanistische Perspektive kann die biographische Illusion verhindern, die Annahme, lückenlose Chronologie könnte den Zusammenhang, den Sinn, das Ziel eines Lebens zeigen (teleologische Versuchung).
Diese Perspektive kann auch die Konstruktion von „Gestalten“ verhindern, von „Mythenschau“ und „akademischer Heldensage“, wie sie einst in den „Gestaltbüchern“ über Caesar und die Geschichte seines Ruhms oder Friedrich den Staufer erschienen sind (hero-worship – die heroische Versuchung).
Ein humanistisches Porträt ist nicht Hagiographie, nicht Heiligenlegende, es schafft keine Galerie von verehrlichen Vorbildern, sondern ist anschauliche Charakteristik und kritisch. Auch Scheitern, Fehlentwicklung und Missbrauch gehören in die Geschichte der Humanistischen Bewegung, wenn die studia humanitatis für unmenschliche Zwecke instrumentalisiert werden (die hagiographische Versuchung).
Dabei gilt es, auch der physiognomischen Versuchung zu widerstehen, der Illusion, das Bild eines ganzen Lebens sei in einer einzigen Anekdote erfasst, der Charakter, das ‚Wesen’ einer Person sei in einem besonderen Zug von Gesicht und Gestalt, sei in seiner Physiognomie zu finden.
Und schließlich die vertrackte Aufgabe, die Verschlingungen von Leben und Werk zu durchschauen. Der Blick aus dem Werk auf das Leben und umgekehrt, von der lyrischen Strophe auf die Befindlichkeit des Schreibenden ist notwendig, aber verführerisch, oft irreführend und reduktionistisch. Literatur und Leben sind verschieden und nicht zu trennen. Das literarische Porträt versucht sich an der Synthesis.
Die Mitte eines humanistischen Porträts bilden „das Wunder des Individuums […] mit seinem nach allen Richtungen ausgelebten Leben“ (Anna Seghers), die Person, der „ganze Mensch“, seine Lebenspraxis und sein Werk, die vielfältigen weltanschaulichen Mischformen und die individuellen Synthesen, nicht ein reiner Humanismus an sich in seinen klaren, eindeutigen Grundbegriffen. Dies ist die Hoffnung der drei Herausgeber, formuliert in dem Vorwort zu der neuen Reihe (s. Kasten).
3. Probleme
a) Unser erstes Problem ist die beschränkte Kompetenz der Herausgeberfreiheit. Das bisher absehbare Profil der Reihe ist europäisch und deutschsprachig, weit entfernt von den Ansprüchen eines interkulturellen Humanismus. Die schöne Literatur ist überrepräsentiert. Noch fehlen die Juristen, Politiker, Ärzte, Künstler (also Namen wie Nelson Mandela, Cesare Beccaria, Bona Peiser, Mahatma Gandhi, Albrecht Dürer, Käthe Kollwitz, Anna Seghers, Bruno Wille, Julian Huxley, Rudolf Penzig).
b) Die Aufnahme problematischer Personen ist unklar: Bekommen Eduard Spranger und Werner Jaeger und ihr „Dritter Humanismus“, bekommt Friedrich Nietzsche, der Humanist, Humanismus-Reformer und Antihumanist, oder Friedrich der II. von Hohenstaufen (1210–1250), der offiziell erklärte Antichrist, einen Platz in dieser Reihe?
Schließlich: Sollen Zeitgenossen aufgenommen werden? Können Städte porträtiert werden, gibt es etwa ein humanistisches „Stadtbild“ von Florenz?
Einige dieser Probleme werden sich lösen, andere werden uns begleiten und neue werden nachwachsen. Aber ein Anfang ist gemacht, und „der Anfang“, so heißt es, „ist die Hälfte des Ganzen“.