Liebe Leserinnen, liebe Leser,
„Kunst“ wird im modernen Humanismus wenig beachtet, so nicht nur der unschöne Schein: Im einschlägigen „Humanismus: Grundbegriffe“ von 2016 findet sich kein Eintrag, der in diese Richtung weist, kein solcher Band in den Schriftenreihen der Humanistischen Akademien, und Humanistische Porträts wie von Christa Wolf, Heinrich Mann und Heinrich Heine sind eher Ausnahmen. Vernachlässigung vielleicht zu Recht, wenn man bei „Kunst“ vornehmlich an die bildende Kunst und den kunstbeflissenen Dünkel eines bildungsbürgerlichen, klassenspezifischen, ja zuweilen abgehobenen Humanismus denken würde, der eine schwere Hypothek ist. Aber denken wir bei „Kunst“ auch nicht nur an ihre gesellschaftliche Nützlichkeit: Nichts gegen politische Kunst, nichts gegen künstlerische Interventionen in inhumane Zustände und Verhältnisse, viel allerdings gegen die Reduktion oder auch nur den Primärfokus auf politische Kunst, weil „Kunst“ hier meist allzu freudlos und verkniffen daherkommt.
Denken wir bei „Kunst“ besser genauso an Musik, nicht nur die klassische, an den Roman, nicht nur den Bildungsroman, denken wir besser auch an das Naturschöne, die Landschaft, die erfreut, oder an das Gesicht des anderen, das berührt. Denken wir bei Kunst nicht nur an Dinge, deren Eigenschaften wir eine künstlerische Relevanz zuschreiben. Denken wir an unsere Beziehungen und den Austausch mit uns selbst, der Welt, der Natur und den anderen, Kunst im Sinne von Ästhetik, aisthesis, Bewegung der Sinne, eine Gleichzeitigkeit von sich bewegen und bewegt werden, die sinnliche Aufmerksamkeit auf etwas richten und zugleich schon davon eingenommen werden. Eine spezifische Art und Weise, Lebendigkeit zu erfahren: ästhetische Erfahrung, oft überdeckt von den Beschäftigungen, Zerstreuungen und Sorgen des Alltags. Sehen, hören, tasten, riechen und schmecken ohne den identifizierenden und hegemonialen Zugriff des Kognitiven.
„Wahrheit ist keine Eigenschaft von Sätzen, sondern von Sommertagen.“
Peter Sloterdijk
Der Philosoph versteht den Schriftsteller nicht: Der utilitaristische Peter Singer wirft dem erzählenden John Maxwell Coetzee vor, er präsentiere keine eigene Position zur Frage der Tierrechte, sondern erzähle nur, welche unterschiedlichen Erfahrungen unterschiedliche Personen in ihrem Umgang mit Tieren machen. Coetzee verweigert den Gestus des Behauptens und Bescheidwissens, er zeigt dagegen, wie es verschiedenen Menschen sinnlich-leiblich ergeht, ihre humanen Ambivalenzen, er bringt seine Leser*innen gerade damit auch in die Nähe des Leidens der Tiere.
Beim Lesen eines Romans, dem Hören einer Musik oder dem Erkennen eines Gesichts zu Luftsprüngen verführt oder zu Tränen gerührt werden. Was geschieht dort? Eine besondere Tiefe des menschlichen Existierens, eine besondere Nähe zum Vibrieren des Lebens? Ästhetische Erfahrung zum einen als Genuss, als Feier des Lebens und seiner Möglichkeiten. Lebenskunst: Dichter*in des eigenen Lebens sein, mit anderem und anderen, vielleicht auch manchmal „nicht ganz dicht sein“. Künstlerisch leben, mit Eigensinn, nicht gemäß angedienter Allgemeinheiten. Ästhetische Erfahrung zum anderen auch als besondere Nähe zur traurigen und tragischen Seite des Lebens. Wer Musik wirklich hört, der hört zugleich schon ihr Aufhören. Wer einen Roman verschlingt, befürchtet sein Ende. Wer ein Gesicht liebt, ahnt immer auch schon dessen Vergehen. Sinnkunst: Lebenslust und Lebenskraft noch dort empfinden können, wo vieles am Sinn nagt und ihn in Frage stellt, und wenn es gar nicht anders geht: auch ohne einen umfassenden Sinn des Lebens leben können.
Ich wünsche Ihnen eine inspirierende Lektüre!
Ihr Ralf Schöppner
Geschäftsführender Direktor der Humanistischen Akademien
Deutschland und Berlin-Brandenburg