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Ein basisdemokratischer Kunstverein

Die neue Gesellschaft für bildende Kunst ist permanent in Bewegung

| von
Ausstellung des Schweizer Künstlers Anselm Stadler in der nGbK, 2001

Beitragsbild: Nihad Nino Pusija

Die neue Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) ist eine Berliner Institution. Basisdemokratische Entscheidungsstrukturen ermöglichen seit 1969 ein diverses Programm zu gesellschaftlichen Themen und Debatten. Nun muss die nGbK ihre angestammten Räume in der Kreuzberger Oranienstraße verlassen. Wie wirkt sich das auf die Strukturen und auf das Ausstellungsprogramm aus? Und warum ist der Kunstverein so wichtig für die Stadt und ihre Bewohner*innen? Ein Ortsbesuch.

Der Ver­an­stal­tungs­raum im ers­ten Ober­ge­schoss der Ora­ni­en­stra­ße 25 in Kreuz­berg füllt sich lang­sam. Der Vor­trag „Finan­zia­li­sie­rung und Boden­fra­ge“ beginnt. Heu­te Abend spre­chen zwei Refe­ren­tin­nen über öko­no­mi­sche The­men: Wie hat sich das Instru­ment des Boden­richt­werts ent­wi­ckelt? Wie ist das Ver­hält­nis von Preis und Wert? Dazu ein­ge­la­den hat die nGbK-Pro­jekt­grup­pe X Pro­per­ties – Zur De-/Fi­nan­zia­li­sie­rung der Stadt. Doch was hat das alles mit Kunst zu tun? Die Ant­wort führt direkt hin­ein in den Kunst­ver­ein nGbK und in sei­nen Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess.

In ihrer Anmo­de­ra­ti­on skiz­ziert Nao­mi Hen­nig, Mit­glied der Pro­jekt­grup­pe X Pro­per­ties, die Pro­ble­ma­tik. Das Gebäu­de in der Ora­ni­en­stra­ße 25, in dem die nGbK seit 1992 Mie­te­rin ist, wur­de 2019 an die in Luxem­burg regis­trier­te Vic­to­ria Immo Pro­per­ties V ver­kauft. Der Kauf­preis: mehr als 35 Mil­lio­nen Euro. Der aus­lau­fen­de Miet­ver­trag der nGbK wur­de nicht ver­län­gert und Ver­hand­lun­gen mit der neu­en Eigen­tü­me­rin waren nicht mög­lich. Die­ser kon­kre­te Anlass gab den Impuls, sich mit dem The­ma Finan­zia­li­sie­rung aus­ein­an­der­zu­set­zen und das The­ma mit X Pro­per­ties zum Pro­gramm zu machen.

Finan­zia­li­sie­rung bezeich­net die zuneh­men­de Bedeu­tung von Finanz­ka­pi­tal am Immo­bi­li­en­markt. X Pro­per­ties the­ma­ti­siert „die Wirk­macht des Finanz­ka­pi­tals auf die sozia­le und kul­tu­rel­le Pro­duk­ti­on von Stadt, auf ihre Bezie­hungs­for­men und Sub­jek­te“, heißt es in der Pro­jekt­be­schrei­bung. Es folgt die Fra­ge: „Wel­che For­men einer defi­nan­zia­li­sier­ten Stadt kön­nen dem ent­ge­gen­ge­setzt wer­den?“ In einem Zeit­raum von drei Mona­ten fin­den Vor­trä­ge, Gesprä­che und Work­shops, Per­for­man­ces und Stadt­spa­zier­gän­ge statt. Außer­dem gibt es eine Publi­ka­ti­on der Ber­li­ner Hef­te zu Geschich­te und Gegen­wart der Stadt. Dort kön­nen die Recher­chen zu Orten in Ber­lin nach­voll­zo­gen wer­den, die von Finan­zia­li­sie­rung betrof­fen sind. Glo­ba­le Per­spek­ti­ven wid­men sich Bra­si­li­en, New York oder Lon­don und zei­gen, wie das Loka­le und das Glo­ba­le mit­ein­an­der zusam­men­hän­gen. Eine Aus­stel­lung ist nicht Teil des Pro­jekts. Die wäre hier heu­te auch nicht mehr mög­lich, denn bereits im Som­mer 2022 hat die nGbK die Aus­stel­lungs­räu­me im Unter­ge­schoss abge­ben müs­sen. „X Pro­per­ties ist ent­stan­den aus der sozia­len und öko­no­mi­schen Rea­li­tät des Kunst­ver­eins“, sagt Nao­mi Hen­nig. Wie ver­folgt die nGbK das The­ma Finan­zia­li­sie­rung wei­ter? Joerg Franz­be­cker, eben­falls Teil der Pro­jekt­grup­pe X Pro­per­ties, sagt: „Wir sehen eine Dring­lich­keit, für uns selbst und für ande­re, dar­an wei­ter­zu­ar­bei­ten. Das The­ma wird und muss uns lei­der noch beschäf­ti­gen.“

Transparente und kollektive Entscheidungen

Die nGbK wur­de in einer Zeit gro­ßer gesell­schaft­li­cher Ver­än­de­run­gen gegrün­det. Bis 1969 exis­tier­te in Ber­lin die dama­li­ge Deut­sche Gesell­schaft für Bil­den­de Kunst. Kri­tik an der hier­ar­chi­schen Struk­tur und den intrans­pa­ren­ten Ent­schei­dun­gen führ­te zu ihrer Auf­lö­sung und zur Neu­grün­dung von zwei Kunst­ver­ei­nen, die seit­her par­al­lel exis­tie­ren: der Neue Ber­li­ner Kunst­ver­ein und die neue Gesell­schaft für bil­den­de Kunst. Durch alter­na­ti­ve Zugän­ge soll­ten Kunst und Öffent­lich­keit in der nGbK anders gestal­tet wer­den.

Die nGbK hat sich eine beson­de­re Struk­tur gege­ben. Alle Ver­eins­mit­glie­der ent­schei­den ein­mal im Jahr über das Jah­res­pro­gramm des Fol­ge­jah­res. Min­des­tens fünf Mit­glie­der kön­nen sich zusam­men­tun und gemein­sam ein Pro­jekt ent­wi­ckeln, das bei der Haupt­ver­samm­lung vor­ge­stellt und abge­stimmt wird. Die Mit­glied­schaft in der nGbK ist für alle mög­lich und nicht nur auf Berliner*innen beschränkt. Jede*r kann den öffent­li­chen Raum mit­ge­stal­ten, nie­mand wird aus­ge­schlos­sen. Zusätz­lich zum Prä­si­di­um gibt es einen erwei­ter­ten Vor­stand, den Koor­di­na­ti­ons­aus­schuss. Die jedes Jahr neu ent­ste­hen­den und aus­ge­wähl­ten Pro­jekt­grup­pen sen­den zwei Vertreter*innen in den Koor­di­na­ti­ons­aus­schuss, nach Pro­jek­ten­de schei­den sie wie­der aus. „Wir sind eine Insti­tu­ti­on, die per­ma­nent in Bewe­gung ist“, sagt Annet­te Maech­tel, seit 2020 Geschäfts­füh­re­rin der nGbK.

Die nGbK ver­steht sich als lin­ker Kunst­ver­ein, der Macht­ver­hält­nis­se, Struk­tur und Pro­gramm immer wie­der kri­tisch hin­ter­fragt. „Es reicht nicht, dass wir poli­ti­sche Aus­stel­lun­gen machen, son­dern wir müs­sen bei den Struk­tu­ren begin­nen“, sagt Annet­te Maech­tel. Die beson­de­re Qua­li­tät der nGbK sieht sie dar­in, „dass vie­les aus­gie­big dis­ku­tiert wird, nicht erst am Schluss, son­dern im gan­zen Pro­zess der Aus­wahl und des Ent­ste­hens.“ Durch den gemein­sa­men Pro­zess bekom­men wich­ti­ge Ent­schei­dun­gen schon im Vor­feld eine brei­te Basis. Aktu­ell gehal­ten wer­den die basis­de­mo­kra­ti­schen Struk­tu­ren über digi­ta­le For­men der Kom­mu­ni­ka­ti­on. Die nGbK beschreibt ihre Denk- und Arbeits­wei­sen selbst als macht­kri­tisch, dis­kri­mi­nie­rungs­sen­si­bel und inklu­siv. Die kol­lek­ti­ven Pro­zes­se sind trans­pa­rent und selbst­re­fle­xiv. So lebt die nGbK ihren Anspruch, ein diver­ses Pro­gramm abzu­bil­den, und kann in einem ansons­ten hier­ar­chisch gepräg­ten Kunst­feld funk­tio­nie­ren ohne Chef­ku­ra­to­rin oder Chef­ku­ra­tor.

Durch die Mög­lich­keit, Pro­jek­te zur Abstim­mung ein­zu­rei­chen, kön­nen Pro­jekt­grup­pen ihre The­men oft das ers­te Mal im Kunst­feld prä­sen­tie­ren. 2020 kura­tier­te eine inter­na­tio­na­le Grup­pe die Aus­stel­lung bê welat, eine der ers­ten Aus­stel­lun­gen von Künstler*innen der kur­di­schen Dia­spo­ra welt­weit. „Ein sol­ches Pro­gramm wäre in ande­ren Struk­tu­ren nicht aus­ge­wählt wor­den“, so Annet­te Maech­tel. „Unse­re Struk­tur ist kein Selbst­zweck, son­dern sie ist eta­bliert wor­den, um Bar­rie­ren im Kunst­feld abzu­bau­en und Lücken zu schlie­ßen.“ Das basis­de­mo­kra­ti­sche Modell von 1969, das Kunst­feld (und die Gesell­schaft) diver­ser zu gestal­ten und mehr Par­ti­zi­pa­ti­on zu ermög­li­chen, ist kein über­hol­tes Modell.

Themen und Ausstellungsprogramm

Wie haben sich die The­men ent­wi­ckelt, mit denen sich die nGbK beschäf­tigt? Seit der ers­ten Aus­stel­lung 1969 mit Wer­ken von John Heart­field setz­ten sich die Aus­stel­lun­gen der nGbK immer wie­der mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus und des­sen gesell­schaft­li­chen Vor­aus­set­zun­gen aus­ein­an­der. Seit Grün­dung der nGbK wur­den zudem zahl­rei­che Aus­stel­lun­gen von und mit DDR-Künstler*innen rea­li­siert. Und seit Beginn der Neun­zi­ger­jah­re ver­fol­gen unter­schied­li­che Arbeits­grup­pen der nGbK das Anlie­gen, in Aus­stel­lun­gen und Ver­an­stal­tun­gen que­e­re Lebens­ent­wür­fe sicht­ba­rer zu machen. In der nGbK fin­den vor allem the­ma­ti­sche Aus­stel­lun­gen zu bestimm­ten Fra­ge­stel­lun­gen statt. Ein­zel­po­si­tio­nen wer­den sel­ten und nur dann gezeigt, wenn im Kunst­feld eine Lücke gese­hen wird. In den ver­gan­ge­nen Jah­ren waren dies zum Bei­spiel Aus­stel­lun­gen zu Valie Export oder Alfre­do Jaar.

Bild: Nihad Nino Pusi­ja
Anti­ras­sis­ti­sches Ein­kaufs-Hap­pe­ning vor der nGbK. Pro­jekt: »MOV!NG ON«, 2005

Das, was die Men­schen bewegt, bewegt auch den Kunst­ver­ein: Pre­ka­ri­tät, Ungleich­heit, Gen­der, Diver­si­tät, unter­schied­lichs­te Lebens­ent­wür­fe oder Ras­sis­mus. Stär­ker in den Mit­tel­punkt gerückt sei heu­te die Bedeu­tung von Kunst für eine Viel­zahl gesell­schaft­li­cher Fra­gen, sagt Annet­te Maech­tel, für „öko­no­mi­sche, sozia­le oder in der jüngs­ten Zeit jene der Diver­si­tät“. So spie­gelt das Pro­gramm die gesell­schaft­li­chen Rea­li­tä­ten. Die Aus­stel­lun­gen wer­den zum Aus­tra­gungs­ort für Debat­ten: „Der nGbK war es von Anfang an wich­tig, die Gren­zen zwi­schen Kunst und Poli­tik auf­zu­he­ben“, so Annet­te Maech­tel. Dies zei­ge sich in der aktu­el­len Aus­stel­lung Klas­sen­fra­gen, in der die Doku­men­ta­ti­on pre­kä­rer Arbeits­be­din­gun­gen im Kunst­feld mit kon­kre­ten poli­ti­schen Fra­gen, etwa nach bezahl­ba­rem Wohn- und Arbeits­raum, ver­bun­den wer­de.

Auch die kom­men­den The­men der nGbK bewe­gen sich eng an gesell­schaft­li­chen Dis­kur­sen: Die Aus­stel­lung өмə nimmt „Ras­sis­mus, Iden­ti­tät und Impe­ria­lis­mus in Russ­land sowie die Homo­ge­ni­sie­rung des Lan­des in west­li­chen Nar­ra­ti­ven in den Blick“, sagt Annet­te Maech­tel. Zum Ende des Jah­res 2023 wid­met sich die nGbK einem wei­te­ren weit­ge­hend blin­den Fleck in der Auf­ar­bei­tung: „In unse­ren neu­en Räu­men in der Karl-Lieb­knecht-Stra­ße zei­gen wir dann die Aus­stel­lung Mons­tera über repres­si­ve Umer­zie­hung in soge­nann­ten Spe­zi­al­kin­der­hei­men der DDR und deren Fort­wir­ken bis heu­te.“

Wie geht es weiter?

Die beson­de­re Rele­vanz der nGbK wird auch von poli­ti­schen Entscheidungsträger*innen erkannt. Eine der Her­aus­for­de­run­gen der letz­ten Jah­re war das Aus­lau­fen der För­de­rung durch die Lot­to­stif­tung Ber­lin. Dank poli­ti­scher Anstren­gun­gen und kul­tur­po­li­ti­scher Lob­by­ar­beit ist die nGbK seit Juli 2022 eine lan­des­ge­för­der­te Insti­tu­ti­on. Auf der Haupt­ver­samm­lung der nGbK sei die Ent­schei­dung klar dafür aus­ge­fal­len, weg aus Kreuz­berg in eine lan­des­ei­ge­ne Immo­bi­lie zu zie­hen. Aus­schlag­ge­bend für die Ent­schei­dung für den neu­en Stand­ort in der Karl-Marx-Allee sei letzt­lich nicht die Lage gewe­sen, son­dern die Ein­fluss­mög­lich­keit der Poli­tik auf die Miet­ent­wick­lung – anders als beim bis­he­ri­gen Stand­ort.

Bild: nGbK
Fas­sa­de der Ber­li­ner Ora­ni­en­stra­ße 25 in Ber­lin (2020). Im Erd­ge­schoss des Gewer­be­ho­fes lag der Aus­stel­lungs­raum der nGbK. Die Büro- und Ver­an­stal­tungs­flä­che der nGbK befin­den sich in der ers­ten Eta­ge.

Bald ver­lässt die nGbK auch die Geschäfts­räu­me in der obe­ren Eta­ge der Ora­ni­en­stra­ße 25 und zieht in die Karl-Lieb­knecht-Stra­ße – eine Zwi­schen­nut­zung für meh­re­re Jah­re bis zum Umzug in die Karl-Marx-Allee. Ganz ohne Räu­me ist die nGbK bis dahin nicht. Seit 2017 gibt es einen klei­ne­ren Aus­stel­lungs­raum und eine Frei­flä­che in Ber­lin-Hel­lers­dorf. Eini­ge Aus­stel­lun­gen wie Klas­sen­fra­gen oder өмə fin­den in Koope­ra­ti­on mit ande­ren Insti­tu­tio­nen statt. Annet­te Maech­tel freut sich dar­über, dass die nGbK und ihr Aus­stel­lungs­pro­gramm wei­ter sicht­bar blei­ben: „Man kann uns nicht so leicht erle­di­gen.“

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