Angeregt vom Journalisten Rudolf Küstermeier formiert sich im Juli 1932 in Berlin eine Gruppe von Sozialdemokraten*innen, die mit der Politik der SPD unzufrieden sind. Letztlich ausschlaggebend für die Gründung der Gruppe ist die hilflose Reaktion der SPD auf den „Preußenschlag“: die Entmachtung der sozialdemokratisch geführten preußischen Regierung per Notverordnung. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten entsteht aus der Gruppe eine linkssozialistische Widerstandsorganisation, die sich der „Rote Stoßtrupp“ nennt. Sie umfasst circa 500 überwiegend jungen Sozialdemokrat*innen, denen die Politik der Organisationen der Arbeiterbewegung gegen die Nationalsozialisten nicht kämpferisch genug ist. Der Rote Stoßtrupp gibt die gleichnamige illegale Zeitung heraus und zielt auf eine enge Zusammenarbeit aller oppositionellen Kräfte. Er sucht nicht nur Kontakte zu anderen linken Gruppen, sondern auch zu Personen aus den bürgerlichen Parteien und selbst zu oppositionellen Nationalsozialisten wie Otto Strasser. Schnell entwickelt sich der Rote Stoßtrupp zu einer ausgezeichnet vernetzten Widerstandsgruppe. Zudem gelingt es ihm, in verschiedene NS-Organisationen, darunter auch in der SS, Informanten einzuschleusen.
In der ersten Phase liegt der Schwerpunkt auf der Herstellung und dem Vertrieb der Zeitung; zwischen dem 28. April und dem 8. November 1933 erscheinen 26 Nummern. Die Zentrale befindet sich in Berlin, der Rote Stoßtrupp unterhält aber auch Gruppen in anderen deutschen Städten. Im November 1933 kommt die Gestapo der Gruppe auf die Spur und zerschlägt viele ihrer Strukturen. Allein in Berlin finden 1934 vier Prozesse mit 58 Angeklagten statt. Die Führungsebene, der „Rote Stab“, muss sich vor dem neugeschaffenen Volksgerichtshof verantworten.
Dort erhält der Anwalt Ernst Fraenkel, der eigentlich auf Arbeitsrecht spezialisiert ist, aber als Sozialist und Humanist viele verfolgte Sozialdemokraten und auch den Freidenkerverband (DFV) vertritt, aufgrund seiner jüdischen Herkunft keine Zulassung. Fraenkel reist nach London und Amsterdam, um dort internationale, auch finanzielle Unterstützung für die Inhaftierten des Roten Stoßtrupps zu organisieren. Er hat auch Kontakte zu anderen Widerstandsgruppen, die über eine anwaltliche Vertretung hinausgehen.
Nachweislich sind 13 namentlich bekannte Mitglieder des DFV zu jener Zeit im Roten Stoßtrupp aktiv, alle sind auch Sozialdemokraten. Paul Dietze, Otto Eckert, Karl Furkert, Kurt Kaufmann, Karl Mülle, Hans Rakow und Willi Schwarz gehören zu den in diesem Zusammenhang Verurteilten. Ihre Strafen liegen zwischen einem Jahr Gefängnis und drei Jahren Zuchthaus. Paul Töpfer wird freigesprochen. Wilhelm Kluge war als Funktionär des Reichsbanners bereits im Juli 1933 verhaftet worden und wird deshalb nicht wegen seiner Aktivitäten für den Roten Stoßtrupp belangt. Hans Martens, der als Kurier tätig war, entzieht sich im Dezember 1933 seiner Verhaftung durch Flucht nach Prag. Erich Lahn wird nicht angeklagt. Das gilt auch für Charlotte Seeman, Angestellte beim DFV; ihre Rolle erkennt die Gestapo nicht. Rudolf Küstermeier, der zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt wird, bezeichnet Seeman nach dem Ende der NS-Herrschaft als eine seiner wichtigsten und aktivsten Helfer*innen. Gleiches gilt für Kurt Megelin. Zwar ist er unter seinem Decknamen, Lehmann, als Mitglied des Roten Stabs angeklagt, aber es gelingt der Gestapo nicht, seine Identität aufzudecken. Megelin ist bis 1933 Bezirksgeschäftsführer des Bundes der freien Schulgesellschaften und Mitglied des DFV. Nach der Enttarnung und Verurteilung der meisten Mitglieder des Roten Stabs übernimmt er die Leitung des Roten Stoßtrupps.
Nach der Enttarnung
Als Reaktion auf die Verhaftungswelle vom Dezember 1933 stellt Megelin die Widerstandsaktivitäten gänzlich auf Kaderarbeit um. Die Zeitschrift wird bis mindestens 1935 noch unregelmäßig weitergeführt, dann eingestellt. In der Folge geht es vorwiegend darum, Sand in das Getriebe des NS-Staats zu streuen. Dazu gehören Desinformation der Ermittlungsbehörden, Unterstützung von Verurteilten und Auslandskurierdienste. Zudem unterhält die Gruppe einen „Warndienst“. Die weiterhin aktiven Informanten in NS-Organisationen ermöglichen es, Mitglieder verschiedener Widerstandsgruppen vor drohenden Verhaftungen zu warne. Auch gelingt es, Gestapoakten zu vernichten. Ein „Schutzdienst“ gewährt darüber hinaus Verfolgten des nationalsozialistischen Regimes Unterschlupf.
Zu Megelins Mitstreitern gehört nun auch Richard Schröter. Der ehemalige Rektor der 197. (weltlichen) Volksschule in Prenzlauer Berg war als Bezirksvorsitzender des Bundes der Freien Schulgesellschaften dort bis 1933 Megelins Partner. Die wichtigsten Mitstreiter*innen von Megelin aber sind seine Verlobte und spätere Frau Else Megelin und Otto Ostrowski, der später (1950 bis 1953) Vorsitzender des Berliner DFV wird.
Ostrowski ist bis zu seiner Absetzung 1933 Bürgermeister von Prenzlauer Berg. Nach einer Verhaftung im März 1933 entzieht er sich zunächst der weiteren Verfolgung, indem er nach Dresden ausweicht. Zurück in Berlin schließt er sich dem von Megelin reorganisierten Roten Stoßtrupp an. Wie auch Megelin wechselt er häufig seine Wohnungen, um der Aufmerksamkeit der Gestapo zu entgehen. Das gelingt ihm, zuletzt mit Hilfe des „Warndienstes“. Als er erfährt, dass die Gestapo nach dem Attentat des 20. Juli 1944 ehemalige Funktionsträger der Weimarer Republik in „Schutzhaft“ nimmt, taucht er unter. Ostrowski ist auch entscheidend daran beteiligt, die jüdischen Frauen Ella und ihre Tochter Inge Deutschkron, die später bekannte Journalistin und Schriftstellerin, zu verstecken.
Der „Warndienst“ leistet Kurt Megelin ebenfalls gute Dienste. Die Geheime Staatspolizei hat ihn seit 1933 im Blick. Megelin kommt immer wieder in U‑Haft, aber ihm kann nie etwas nachgewiesen werden. Er versteht es meisterhaft, seine Aktivitäten zu verschleiern und die Gestapo zu täuschen. 1938 gelingt es dem „Warndienst“, Kurt Megelins Akte bei der Gestapo verschwinden zu lassen. Dadurch ist es ihm möglich, seine illegale politische Arbeit nunmehr unbehelligt fortführen. Er arbeitet jetzt als Referent der „Reichsgruppe Versicherungen“ und kann damit eine umfangreiche Reisetätigkeit rechtfertigen, die er zum Ausbau und zur Pflege von Kontakten zu diversen Widerstandskreisen u.a. auch zu Teilen der Verschwörer vom 20. Juli nutzt. Seine Frau Else arbeitet seit 1943 im Betrieb von Wilhelm Leuschner. Der ehemalige sozialdemokratische Gewerkschaftsführer koordiniert selbst diverse Widerstandsaktivitäten und ist von den Verschwörern des 20. Juli als Vizekanzler vorgesehen. Wilhelm Leuschner wird im September 1944 hingerichtet.
Die Überlebenden
Kurt Megelin, seine Frau Else, Otto Ostrowski und Richard Schröter überleben das NS-Regime. Das gilt auch für die anderen, frühen Mitstreiter*innen des Roten Stoßtrupps aus den Reihen des DFV, obwohl viele in der einen oder anderen Form nach ihrer Haftentlassung dem Widerstand verbunden geblieben sind. Gefährlich wird es für Willi Schwarz, einem der Mitbegründer des Roten Stoßtrupps. 1939 von der Gestapo ins KZ-Sachsenhausen eingewiesen, gelingt ihm jedoch bei der Evakuierung des KZ Ende April 1945 auf dem Todesmarsch die Flucht.
Der Anwalt Ernst Fraenkel war 1938 in die USA geflohen. 1951 kehrt er nach Deutschland zurück und wird Professor an der FU Berlin. Sein 1941 in den USA entstandenes Werk, „Der Doppelstaat“ gilt bis heute als Standardwerk über Politik, Justiz und Recht im NS-Herrschaftssystem.
Die Megelins, Ostrowski und Schröter engagieren sich nach dem Ende der NS-Herrschaft wieder in der SPD. Ostrowski wird kurzzeitig Berliner Bürgermeister, Schröter Bundestagsabgeordneter für Berlin. Viele der freidenkerischen Mitstreiter*innen aus der ersten Phase des Roten Stoßtrupps schließen sich dagegen 1946 der SED an.
Ernst Fraenkel, Else und Kurt Megelin sowie Otto Ostrowski finden auch in der 2013 konzipierten Ausstellung „Humanisten im Fokus – Zerstörte Vielfalt“ eine Würdigung. Die Ausstellung kann nach wie vor online abgerufen werden unter: http://www.zerstoerte-vielfalt-humanismus.de/
Bei der Gedenkstätte Deutscher Widerstand ist ein umfangreiches Buch über den Roten Stoßtrupp erschienen:
Dennis Egginger-Gonzalez: Der Rote Stoßtrupp. Eine frühe linkssozialistische Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus. Lukas Verlag, Berlin 2018.