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Humanistische Lebenskunde

101 Jahre weltliche Schulreform

Geschichte des Lebenskundeunterrichts

Beitragsbild: Archiv Museum Neukölln

Im Jahr 2020 jährte sich die Gründung der ersten weltlichen Schulen im Berliner Raum zum hundertsten Mal. Mit den ersten weltlichen Schulen Berlins wurden zugleich Grundsteine von noch viel weitergehenden pädagogischen Reformen gelegt, die bis heute wirken: Gemeinschaftsschule, Projektunterricht, Schulautonomie, Humanistische Lebenskunde. Bruno Osuch blickt in diesem Beitrag auf Historie und Gegenwart.

Gemein­schafts­schu­le, Pro­jekt­un­ter­richt, Schul­au­to­no­mie, Huma­nis­ti­sche Lebens­kun­de und vie­les ande­re mehr ste­hen in Ber­lin für eine Schul­po­li­tik, wie sie kaum ein ande­res Bun­des­land kennt. Was jedoch wenig bekannt ist – all das hat hier eine lan­ge Tra­di­ti­on. Die Wur­zeln rei­chen bis weit in der Wei­ma­rer Repu­blik und davor zurück. Vie­les davon wur­de bereits vor 1933 an zahl­rei­chen welt­li­chen Reform­schu­len Ber­lins sowie ande­rer Städ­te aus­pro­biert. Im Mai 1920 wur­de in Adlers­hof – zu die­sem Zeit­punkt noch eine Ber­li­ner Vor­ort­ge­mein­de – die ers­te welt­li­che Schu­le gegrün­det. Gegen Ende der Wei­ma­rer Repu­blik gab es in Ber­lin ca. 50 die­ser „welt­li­chen Schu­len“, an denen die Schü­le­rin­nen und Schü­ler zusam­men­ge­fasst waren, die vom Reli­gi­ons­un­ter­richt abge­mel­det waren und statt­des­sen „Lebens­kun­de“ erhiel­ten. Im Unter­schied zu heu­te gehör­te die­ses säku­la­re Ange­bot damals noch zum staat­li­chen Fächer­ka­non. Heu­te ist der Trä­ger der Huma­nis­ti­sche Ver­band.

Zentren einer sozialemanzipatorischen Reformpädagogik

Der Begriff „Reform­päd­ago­gik“ umfasst eine Viel­zahl von Strö­mun­gen. In den Zen­tren der Arbei­ter­be­we­gung der Wei­ma­rer Repu­blik war dies vor allem jener Ansatz, der sich der Eman­zi­pa­ti­on von Arbei­ter­kin­dern wid­me­te. Zahl­rei­che welt­li­che Schu­len gera­de in Ber­lin hat­ten damals offi­zi­ell den Sta­tus von sehr frei­en Ver­suchs­schu­len. Das galt ins­be­son­de­re für die „Lebens­ge­mein­schafts­schu­len“. Lebens­kun­de als ethi­sche Refle­xi­on wur­de hier bis­wei­len sogar zum all­ge­mei­nen „Unter­richts­prin­zip“ erho­ben. Über­haupt ist bei der Ein­schät­zung der gera­de­zu visio­nä­ren Bedeu­tung die­ser Schu­len zu berück­sich­ti­gen, wie der „nor­ma­le“ Schul­be­trieb an den meis­ten Volks­schu­len Preu­ßens aus­sah: Tren­nung nach Jun­gen und Mäd­chen, Tren­nung nach Kon­fes­sio­nen, täg­li­ches Schul­ge­bet, gro­ße Klas­sen mit meist mehr als drei­ßig Kin­dern, auto­ri­tä­rer Fron­tal­un­ter­richt, Aus­wen­dig­ler­nen und Prü­gel­stra­fe präg­ten viel­fach den schu­li­schen All­tag.

Dem­ge­gen­über mute­te das Schul­le­ben an vie­len welt­li­chen Schu­len gera­de­zu para­die­sisch an: Es war geprägt von einem part­ner­schaft­li­chen Ver­hält­nis aller, oft wur­den auch die Lehr­kräf­te geduzt, es gab eine Öff­nung der Schu­len für Kunst, Kul­tur und in das sozia­le Umfeld, Grup­pen- und Pro­jekt­un­ter­richt, alter­na­ti­ven For­men der Leis­tungs­mes­sung wie indi­vi­du­el­le Ent­wick­lungs­be­rich­te, Mit­be­stim­mung der Schü­ler und Eltern oder auch sexu­el­le Auf­klä­rung. Struk­tu­riert wur­de das Schul­jahr durch zahl­rei­che welt­li­che Fest- und Fei­er­ta­ge wie den 1. Mai, den Welt­frau­en­tag, die Fei­ern zur Son­nen­wen­de oder die Jugend­wei­hen in der 8. Klas­se. Hin­zu kamen Zelt­la­ger und Wan­der­ta­ge in die Natur (für die meis­ten Arbei­ter­kin­der aus den tris­ten Miets­ka­ser­nen der Indus­trie­stadt Ber­lin gera­de­zu eine Erho­lung).

In kur­zer Zeit führ­te der Ruf sol­cher Schu­len dazu, dass sich immer mehr reform­ori­en­tier­te Lehr­kräf­te dort sam­mel­ten und von den Links­par­tei­en in den Par­la­men­ten unter­stützt wur­den. Beson­ders deut­li­che wird das am Ber­li­ner Arbei­ter­be­zirk Neu­kölln, wo SPD, USPD und KPD bis 1933 über eine Zwei­drit­tel­mehr­heit ver­füg­ten. Vor allem wur­de das Schul­amt von einem auch reichs­weit aner­kann­ten Bil­dungs­re­for­mer ange­führt: dem SPD-Stadt­rat und Mit­glied des Reichs­ta­ges Kurt Löwen­stein, der auch Reichs­vor­sit­zen­der der sozia­lis­ti­schen Kin­der- und Jugend­or­ga­ni­sa­ti­on „Die Fal­ken“ war. Im Ergeb­nis konn­ten gegen Ende der Wei­ma­rer Repu­blik in Neu­kölln ein Vier­tel aller Schü­le­rin­nen und Schü­ler auf welt­li­che Schu­len gehen. Zum Ver­gleich: In Ber­lin waren es etwa zehn Pro­zent und in ganz Preu­ßen gera­de ein­mal ein Pro­zent.

Lebenskunde – jedes Thema ist willkommen

Nach ihrer erst­ma­li­gen Ein­füh­rung als staat­li­chem Alter­na­tiv­fach zum Reli­gi­ons­un­ter­richt gab es für die Lebens­kun­de wäh­rend der gan­zen Wei­ma­rer Zeit jedoch kaum offi­zi­el­le Rah­men­plan­vor­ga­ben. Die Aus­rich­tung war stark vom Geist der jewei­li­gen Schu­le und ihren Prot­ago­nis­ten abhän­gig. Viel­falt war prä­gend. Einig­keit aber herrsch­te in Bezug auf die grund­le­gen­den Pos­tu­la­te von kri­ti­schem Den­ken und Dies­sei­tig­keit, Selbst­be­stim­mung und sozia­ler Ver­ant­wor­tung.

Ein anschau­li­ches Bild vom dama­li­gen Lebens­kun­de­un­ter­richt schil­dert ein Bericht des Zeit­zeu­gen und Schrift­stel­lers Wolf­diet­rich Schnur­re (1920 – 1989) an den dama­li­gen Deut­schen Frei­den­ker-Ver­band in Ber­lin vom 6. Mai 1985 (Kopie im Besitz des Ver­fas­sers die­ses Bei­trags):

„In Lebens­kun­de, die wir statt Reli­gi­on hat­ten, haben wir mit unse­rem Klas­sen­leh­rer die poli­ti­sche Lage bespro­chen. Wir gin­gen immer von irgend­ei­ner Zei­tungs­schlag­zei­le aus… Die aktu­el­le Poli­tik war aber nur ein Teil des Lebens­kun­de­un­ter­richts. Alles, was wir frag­ten, was wich­tig war – die Arbeits­lo­sig­keit zum Bei­spiel – wur­de bespro­chen. Auch ob es human sei, wenn man ein Dienst­mäd­chen habe… Auch die Fil­me, die wir gese­hen hat­ten wur­den bespro­chen. Ich erin­ne­re mich an den ‚Schim­mel­rei­ter‘. An Chap­lin-Fil­me, an Bus­ter Kea­ton und Harald Lloyd. Unser Klas­sen­leh­rer mach­te uns in Lebens­kun­de klar, dass das nicht nur Unter­hal­tungs­fil­me waren, son­dern Fil­me, die eine sozia­le Stoß­rich­tung hat­ten, die die Kapi­ta­lis­ten aufs Horn nahm usw. Mir fällt auch ein, dass wir in Lebens­kun­de mal meh­re­re Stun­den auf Mär­chen ver­wand­ten. Die Fra­ge unter­such­ten, was an Mär­chen ‚stimmt‘ und was ‚gespon­nen‘ war und was dahin­ter steck­te. Alles zusam­men­ge­fasst, hat­te eigent­lich jedes The­ma in Lebens­kun­de Platz. Wir moch­ten Lebens­kun­de immer unge­heur gern… Bis 33 jeden­falls; dann war es aus.“

Wolf­diet­rich Schnur­re

Die star­ke Ver­an­ke­rung im sozi­al­kul­tu­rel­len Netz­werk der Arbei­ter­be­we­gung und ihre aus­ge­spro­chen libe­ra­le Päd­ago­gik ließ die welt­li­chen Schu­len schon früh in das Feu­er der natio­na­lis­ti­schen sowie kirch­lich-kon­ser­va­ti­ven Kräf­te kom­men: In die­sen „Bol­sche­wis­ten­schu­len“, wie sie bis­wei­len abschät­zig genannt wur­den, wer­de durch „Gott­lo­sen­pro­pa­gan­da“ eine all­ge­mei­ne „Sit­ten­lo­sig­keit“ geför­dert.

Der „Leuchtturm Karl-Marx-Schule“ – die erste Gemeinschaftsschule Deutschlands

Ein damals reichs­weit bekann­ter „Leucht­turm“ die­ser Reform­be­we­gung war das Kai­ser-Fried­rich-Real­gym­na­si­um in Neu­kölln, das heu­ti­ge Ernst-Abbe-Gym­na­si­um. Die Schu­le wur­de 1931 ins „Karl-Marx-Schu­le“ umbe­nannt und gilt als die „Mut­ter aller Gemein­schafts- bzw. Gesamt­schu­len“. 1921 wur­de der Reform­päd­ago­ge Fritz Kar­sen neu­er Rek­tor und bau­te die Schu­le so um, dass auch Arbei­ter­kin­der nach der 7. Klas­se die Chan­ce hat­ten, in Auf­bau­kur­sen und mit einer moder­nen Päd­ago­gik Abitur zu machen. Dazu koope­rier­te er eng mit umlie­gen­den welt­li­chen Volks­schu­len und führ­te zusätz­lich soge­nann­te „Arbei­ter-Abitu­ri­en­ten-Kur­se“ für schon Berufs­tä­ti­ge ein. Wie alle welt­li­chen Schu­len wur­de auch die Neu­köll­ner Karl-Marx-Schu­le 1933 auf­ge­löst und ihr Lei­ter ent­las­sen. Lebens­kun­de wur­de ver­bo­ten und der Reli­gi­ons­un­ter­richt wie­der ein­ge­führt. Das Zen­tral­or­gan der NSDAP, der „Völ­ki­sche Beob­ach­ter“ jubel­te am 22. Febru­ar 1933 ent­spre­chend: „Die Hoch­burg der mar­xis­ti­schen Unkul­tur gesäu­bert“. 1948 wur­de – wie­der­um in Ber­lin-Neu­kölln, die ers­te Gemein­schafts­schu­le Deutsch­lands gegrün­det – die Fritz-Kar­sen-Schu­le, wo die Schüler*innen von der 1. Klas­se bis zum Abitur zusam­men sind. Heu­te gibt es in Ber­lin 26 sol­cher Gemein­schafts­schu­len. Und an allen gibt es natür­lich die Huma­nis­ti­sche Lebens­kun­de. Damit kön­nen die­se Schu­len heu­te auf eine gro­ße Tra­di­ti­on von Ein­heit­lich­keit, Durch­läs­sig­keit und Welt­lich­keit zurück­bli­cken.

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