„Ich bin Métis“, sagt John Corbett. Er fühlt sich damit einer kanadischen Volksgruppe zugehörig, die im 17. Jahrhundert aus Indigenen und zugewanderten Europäern hervorgegangen ist. Es ist eine Identität, die er mit über 600.000 Menschen in Kanada teilt. „Auf indigener Seite habe ich Vorfahren im Volk der Cree“, präzisiert Corbett, der an der Universität von British Columbia inzwischen auch im Bereich der Digitalen Medien lehrt. „Auf europäischer Seite war mein Urahn ein Engländer, der Mitte des 18. Jahrhunderts als Fellhändler nach Kanada kam.“
Nicht nur die Menschen verbanden sich, sondern auch ihre Kulturen. Im Falle der Cree und anderer First Nations gab es bereits 12.000-jährige Kulturpraktiken. Zu ihnen gehört wohl auch die Kunst der Perlenstickerei. Mit diesen Métis-Perlenarbeiten begann sich Corbett im Jahr 2015 zu beschäftigen, während er seinen Master im Bereich der Bildenden Künste machte.
Über das Traditionshandwerk zur Symbolkraft der Kunst
Corbett, der sich auch als Maler und Zeichner betätig, legt Wert auf Authentizität: „Ich liebe es, Farbpigmente und Kohlestifte für meine Kunst eigenständig herzustellen. Meine ersten Perlen habe ich daher auch selbst aus Holz gefertigt. Das war aber ein sehr aufwendiger Prozess. Schließlich fand ich heraus, dass viele einheimischen Künstlerinnen und Künstler mit Perlen aus Glas arbeiten.“ Solche Glasperlen wurden einst von den Europäern im Tausch gegen Felle eingeführt und gehören seitdem zur Kultur der Métis. Ursprünglich verwendeten die Cree und andere indigene Völker aber längliche Mosaikperlen, die sie aus großen Muscheln herausschliffen. Von diesen Arbeiten zeugen noch heute die sogenannten Wampum-Gürtel.
Der sogenannte Gosuenta-Gürtel stammt aus dem Jahr 1613 und ist zugleich ein Friedensvertrag zwischen der Nation der Mohawk (als Teil eines Zusammenschlusses mehrerer indigener Völker) und eingereisten Niederländern. Wie jeder andere Wampum-Gürtel ist auch der Gosuenta-Gürtel ein kraftvolles Symbol. Er repräsentiert kulturelles Wissen nicht ausgedehnt, wie es beispielsweise mit Schrift üblich ist, sondern als einzelnes ausdrucksstarkes Zeichen.
Die Geschichte, für die er steht, lautet: Auf dem rechten Fluss fahren die Niederländer in ihren Schiffen. An Bord haben sie ihre Sprache, ihre Gesetze, ihre Bräuche und alles, was sie benötigen. Auf dem linken Fluss fahren parallel zu ihnen die Mohawk in ihrem Kanu. Sie haben ihr Wissen, ihre Sprache, ihre Gesetze und ihre Art zu leben. Zwischen den Flüssen befinden sich drei weiße Perlenreihen, die besagen: Wir können in Frieden (1) und in Freundschaft (2) für immer (3) leben, solange wir das Existenzrecht des anderen anerkennen.
Der Gosuenta-Gürtel kann damit auch als ein indigenes Zeugnis humanistischer Werte angesehen werden, das den ethischen Vorstellungen der damaligen Europäer weit voraus war.
Eine indigene Programmiersprache zur Erweiterung des kulturellen Erbes
Corbett greift dieses kraftvolle Repräsentieren von Geschichten auf und macht es zu einem Merkmal seiner eigens entwickelten Computersprache Cree# (gesprochen: Cree-Sharp). In ihr werden keine nüchternen Befehle gebraucht, wie sie in englischen Programmiersprachen üblich sind. Was damit gemeint ist, lässt sich am Beispiel einer gängigen Wiederholungsfunktion zeigen. Eine solche Wiederholungsfunktion wird in englischen Programmiersprachen unter anderem mit ‚if’ und ‚then’ oder als ‚Do-While-Schleife’ eingeleitet. Cree# verwendet stattdessen Begriffe, die in der gelebten Kultur der Cree auch eine tatsächliche Rolle spielen.
„Meine Wiederholungsfunktion heißt ‚Winter’“, erläutert Corbett; denn in der Cree-Kultur steht der Winter auch für die Wiederholung der Jahre. „Jeder Winter, den man als Cree übersteht, ist eine Auszeichnung für Stärke und Widerstandskraft, die über das Alter zum Ausdruck gelangt. Deshalb sagen wir auch: ‚Ich bin 40 Winter alt.’“ In Cree# ist nun dieses kulturelle Wissen mit der besagten Wiederholungsfunktion verknüpft. Die Bedeutung, die ‚Winter’ in der Cree-Kultur hat, schwingt also immer mit, sobald die Wiederholungsfunktion ‚Winter’ von einem Menschen programmiert wird. Auf diese Weise wendet sich Corbett gegen den Verlust seiner Sprache und Kultur. Er hilft, beides zu bewahren, indem er die Konzepte der Cree gegenwärtig hält und buchstäblich anschlussfähig macht für zukünftige Entwicklungen.
„Four Generations“ – Von der Tradition in die Moderne
Im Jahr 2015 schuf Corbett auf Basis seiner physischen Perlenarbeiten und auf Basis seiner neuen Computersprache ein Videokunstwerk, das sich direkt an Betrachterinnen und Betrachter wendet und auf allen Ebenen die Cree- beziehungsweise Métis-Kultur repräsentiert. „Four Generations“ ist der Titel. Es ist aus vier Porträts zusammengesetzt, von denen jedes aus einer Reihe digitaler Perlen besteht. „Das Kunstwerk verbindet vier Generationen meiner Familie in einer spiralförmigen Sequenz“, erklärt Corbett. Besagte Porträts zeigen Corbetts Großmutter, seinen Vater, ihn selbst und seinen Sohn. Die Bilder erscheinen nacheinander auf dem Bildschirm. Perle für Perle formt sich jedes einzelne Porträt als ein Ablauf, der im linken Auge der oder des Porträtierten beginnt. Ist ein Porträt komplett, wird es Schritt für Schritt von einem Neuen überschrieben. Nach anderthalb Stunden beginnt der Zyklus von Neuem.
„In Four Generations steht jede Perle für einen Lebenstag“, erklärt Corbett, „beim Aneinanderlegen zeigt sich der Lauf des Lebens. Gleichzeitig bestehen alle vier Porträts zusammen aus 34.859 einzelnen Perlen. Das ist die Gesamtzahl jener Tage, die meine Großmutter gelebt hat. Jede Perle ist ein Stück ihrer Weisheit. Das kontinuierliche Ineinanderübergehen der Bilder repräsentiert das Wissen, das von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Ausgehend von meiner Großmutter sind das mein Vater, ich und schließlich mein Sohn.“
Jon Corbetts digitales Kunstwerk „Four Generations“, kann auf YouTube unter dem Titel „Four Generations (2015), by Jon Corbett“ angesehen werden.