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Der kanadische Künstler und Programmierer Jon Corbett

Von binärem Muschelcode zu indigener Computersprache

| von
Jon Corbett

Beitragsbild: privat

Der kanadische Künstler und Programmierer Jon Corbett schafft Arbeiten, in denen er das indigene Erbe seiner Kultur sichtbar macht. Gleichzeitig setzt er sich dafür ein, dass die Sprache seines Volks auch in den Programmiersprachen eine Repräsentanz und Sichtbarkeit erhält.

„Ich bin Métis“, sagt John Cor­bett. Er fühlt sich damit einer kana­di­schen Volks­grup­pe zuge­hö­rig, die im 17. Jahr­hun­dert aus Indi­ge­nen und zuge­wan­der­ten Euro­pä­ern her­vor­ge­gan­gen ist. Es ist eine Iden­ti­tät, die er mit über 600.000 Men­schen in Kana­da teilt. „Auf indi­ge­ner Sei­te habe ich Vor­fah­ren im Volk der Cree“, prä­zi­siert Cor­bett, der an der Uni­ver­si­tät von Bri­tish Colum­bia inzwi­schen auch im Bereich der Digi­ta­len Medi­en lehrt. „Auf euro­päi­scher Sei­te war mein Urahn ein Eng­län­der, der Mit­te des 18. Jahr­hun­derts als Fell­händ­ler nach Kana­da kam.“ 

Nicht nur die Men­schen ver­ban­den sich, son­dern auch ihre Kul­tu­ren. Im Fal­le der Cree und ande­rer First Nati­ons gab es bereits 12.000-jährige Kul­tur­prak­ti­ken. Zu ihnen gehört wohl auch die Kunst der Per­len­sti­cke­rei. Mit die­sen Métis-Per­len­ar­bei­ten begann sich Cor­bett im Jahr 2015 zu beschäf­ti­gen, wäh­rend er sei­nen Mas­ter im Bereich der Bil­den­den Küns­te mach­te.  

Über das Traditionshandwerk zur Symbolkraft der Kunst 

Cor­bett, der sich auch als Maler und Zeich­ner betä­tig, legt Wert auf Authen­ti­zi­tät: „Ich lie­be es, Farb­pig­men­te und Koh­le­stif­te für mei­ne Kunst eigen­stän­dig her­zu­stel­len. Mei­ne ers­ten Per­len habe ich daher auch selbst aus Holz gefer­tigt. Das war aber ein sehr auf­wen­di­ger Pro­zess. Schließ­lich fand ich her­aus, dass vie­le ein­hei­mi­schen Künst­le­rin­nen und Künst­ler mit Per­len aus Glas arbei­ten.“ Sol­che Glas­per­len wur­den einst von den Euro­pä­ern im Tausch gegen Fel­le ein­ge­führt und gehö­ren seit­dem zur Kul­tur der Métis. Ursprüng­lich ver­wen­de­ten die Cree und ande­re indi­ge­ne Völ­ker aber läng­li­che Mosa­ik­per­len, die sie aus gro­ßen Muscheln her­aus­schlif­fen. Von die­sen Arbei­ten zeu­gen noch heu­te die soge­nann­ten Wam­pum-Gür­tel.

Bild: oakt­ree b / Wiki­pe­dia | CC BY 4.0 Inter­na­tio­nal

Der soge­nann­te Gosuen­ta-Gür­tel stammt aus dem Jahr 1613 und ist zugleich ein Frie­dens­ver­trag zwi­schen der Nati­on der Mohawk (als Teil eines Zusam­men­schlus­ses meh­re­rer indi­ge­ner Völ­ker) und ein­ge­reis­ten Nie­der­län­dern. Wie jeder ande­re Wam­pum-Gür­tel ist auch der Gosuen­ta-Gür­tel ein kraft­vol­les Sym­bol. Er reprä­sen­tiert kul­tu­rel­les Wis­sen nicht aus­ge­dehnt, wie es bei­spiels­wei­se mit Schrift üblich ist, son­dern als ein­zel­nes aus­drucks­star­kes Zei­chen.

Die Geschich­te, für die er steht, lau­tet: Auf dem rech­ten Fluss fah­ren die Nie­der­län­der in ihren Schif­fen. An Bord haben sie ihre Spra­che, ihre Geset­ze, ihre Bräu­che und alles, was sie benö­ti­gen. Auf dem lin­ken Fluss fah­ren par­al­lel zu ihnen die Mohawk in ihrem Kanu. Sie haben ihr Wis­sen, ihre Spra­che, ihre Geset­ze und ihre Art zu leben. Zwi­schen den Flüs­sen befin­den sich drei wei­ße Per­len­rei­hen, die besa­gen: Wir kön­nen in Frie­den (1) und in Freund­schaft (2) für immer (3) leben, solan­ge wir das Exis­tenz­recht des ande­ren aner­ken­nen. 

Der Gosuen­ta-Gür­tel kann damit auch als ein indi­ge­nes Zeug­nis huma­nis­ti­scher Wer­te ange­se­hen wer­den, das den ethi­schen Vor­stel­lun­gen der dama­li­gen Euro­pä­er weit vor­aus war. 

Eine indigene Programmiersprache zur Erweiterung des kulturellen Erbes 

Cor­bett greift die­ses kraft­vol­le Reprä­sen­tie­ren von Geschich­ten auf und macht es zu einem Merk­mal sei­ner eigens ent­wi­ckel­ten Com­pu­ter­spra­che Cree# (gespro­chen: Cree-Sharp). In ihr wer­den kei­ne nüch­ter­nen Befeh­le gebraucht, wie sie in eng­li­schen Pro­gram­mier­spra­chen üblich sind. Was damit gemeint ist, lässt sich am Bei­spiel einer gän­gi­gen Wie­der­ho­lungs­funk­ti­on zei­gen. Eine sol­che Wie­der­ho­lungs­funk­ti­on wird in eng­li­schen Pro­gram­mier­spra­chen unter ande­rem mit ‚if’ und ‚then’ oder als ‚Do-While-Schlei­fe’ ein­ge­lei­tet. Cree# ver­wen­det statt­des­sen Begrif­fe, die in der geleb­ten Kul­tur der Cree auch eine tat­säch­li­che Rol­le spie­len. 

„Mei­ne Wie­der­ho­lungs­funk­ti­on heißt ‚Win­ter’“, erläu­tert Cor­bett; denn in der Cree-Kul­tur steht der Win­ter auch für die Wie­der­ho­lung der Jah­re. „Jeder Win­ter, den man als Cree über­steht, ist eine Aus­zeich­nung für Stär­ke und Wider­stands­kraft, die über das Alter zum Aus­druck gelangt. Des­halb sagen wir auch: ‚Ich bin 40 Win­ter alt.’“ In Cree# ist nun die­ses kul­tu­rel­le Wis­sen mit der besag­ten Wie­der­ho­lungs­funk­ti­on ver­knüpft. Die Bedeu­tung, die ‚Win­ter’ in der Cree-Kul­tur hat, schwingt also immer mit, sobald die Wie­der­ho­lungs­funk­ti­on ‚Win­ter’ von einem Men­schen pro­gram­miert wird. Auf die­se Wei­se wen­det sich Cor­bett gegen den Ver­lust sei­ner Spra­che und Kul­tur. Er hilft, bei­des zu bewah­ren, indem er die Kon­zep­te der Cree gegen­wär­tig hält und buch­stäb­lich anschluss­fä­hig macht für zukünf­ti­ge Ent­wick­lun­gen.   

„Four Generations“ – Von der Tradition in die Moderne 

Im Jahr 2015 schuf Cor­bett auf Basis sei­ner phy­si­schen Per­len­ar­bei­ten und auf Basis sei­ner neu­en Com­pu­ter­spra­che ein Video­kunst­werk, das sich direkt an Betrach­te­rin­nen und Betrach­ter wen­det und auf allen Ebe­nen die Cree- bezie­hungs­wei­se Métis-Kul­tur reprä­sen­tiert. „Four Gene­ra­ti­ons“ ist der Titel. Es ist aus vier Por­träts zusam­men­ge­setzt, von denen jedes aus einer Rei­he digi­ta­ler Per­len besteht. „Das Kunst­werk ver­bin­det vier Gene­ra­tio­nen mei­ner Fami­lie in einer spi­ral­för­mi­gen Sequenz“, erklärt Cor­bett. Besag­te Por­träts zei­gen Cor­betts Groß­mutter, sei­nen Vater, ihn selbst und sei­nen Sohn. Die Bil­der erschei­nen nach­ein­an­der auf dem Bild­schirm. Per­le für Per­le formt sich jedes ein­zel­ne Por­trät als ein Ablauf, der im lin­ken Auge der oder des Por­trä­tier­ten beginnt. Ist ein Por­trät kom­plett, wird es Schritt für Schritt von einem Neu­en über­schrie­ben. Nach andert­halb Stun­den beginnt der Zyklus von Neu­em. 

„In Four Gene­ra­ti­ons steht jede Per­le für einen Lebens­tag“, erklärt Cor­bett, „beim Anein­an­der­le­gen zeigt sich der Lauf des Lebens. Gleich­zei­tig bestehen alle vier Por­träts zusam­men aus 34.859 ein­zel­nen Per­len. Das ist die Gesamt­zahl jener Tage, die mei­ne Groß­mutter gelebt hat. Jede Per­le ist ein Stück ihrer Weis­heit. Das kon­ti­nu­ier­li­che Inein­an­der­über­ge­hen der Bil­der reprä­sen­tiert das Wis­sen, das von einer Gene­ra­ti­on an die nächs­te wei­ter­ge­ge­ben wird. Aus­ge­hend von mei­ner Groß­mutter sind das mein Vater, ich und schließ­lich mein Sohn.“

Jon Cor­betts digi­ta­les Kunst­werk „Four Gene­ra­ti­ons“, kann auf You­Tube unter dem Titel „Four Gene­ra­ti­ons (2015), by Jon Cor­bett“ ange­se­hen wer­den.

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