Vom 4. bis 6. August 2023 fand in Kopenhagen der World Humanist Congress 2023 statt. Der inhaltliche Schwerpunkt: Building better democracies through humanist values. Diesmal waren wir mit einer größeren deutschen Delegation des Bundesverbandes und des Humanistischen Verbandes Berlin-Brandenburg vertreten. Die Kongresstage waren insgesamt ein so eindrucksvolles, kommunikationsintensives, netzwerkförderndes und inspirierendes Erlebnis, dass ich es auf diesem Weg gerne teilen möchte.
Wie aus dem Programm schnell deutlich wird, waren es durchweg große und globale Themen, die uns in den Kongresstagen beschäftigt haben, von der Bedrohung der Demokratien weltweit über die Beschäftigung mit dem Klimawandel (der provokante Workshoptitel: Warum kümmern sich Humanist*innen nicht mehr um den Klimawandel?) bis hin zu Fragen des Einsatzes neuer Technologien. Und zwischen all dem: Musikbeiträge und Kunst, viele, teils kulinarische Get-togethers, Gespräche und Diskussionen in den Pausen und manchmal bis in die frühen Morgenstunden. Wer wollte, konnte an einem vielseitigen Begleitprogramm teilnehmen, das vom Baden im Hafenbecken über einen Besuch der freien Stadt Christiana bis hin zu zahlreichen Stadtführungen zu Themenschwerpunkten (zum Beispiel Working Class history oder LGBTI+ history) reichte.
Vor dem eigentlichen Kongressprogramm gab es am 3. August einen ganzen Tag, der von den European Humanists Professionals (EHP) organisiert wurde. Und auch hier lässt sich resümieren: was für ein großartiges, vielseitiges Programm rund um praktische humanistische Angebote und mit der Möglichkeit, von der Praxis in anderen europäischen Ländern zu profitieren, neue Strategien zu entwickeln und einfach mal über den eigenen Horizont hinauszudenken. Thematisch reichten die Angebote von eher übergreifenden Themen und Workshops (Dialogue with religious people oder Personal Storytelling) bis hin zu Erfahrungsberichten einer konkreten Humanistischen Praxis (Namens- und Hochzeitsfeiern, Existential Care u.a.m.). Als besonders habe ich die Atmosphäre in den Workshops erlebt. Obwohl sich die Teilnehmenden vorher kaum oder nur teilweise kannten, öffnete sich hier sehr schnell der Raum für einen persönlichen und wertschätzenden Austausch und die Möglichkeit, an anderen Lebensgeschichten und Lebensentwürfen teilzuhaben. Und dies trotz der großen Unterschiede etwa in Lebenssituation, Alter oder Herkunft. Auch der HVD Berlin-Brandenburg hat unter der Leitung von Matthias Krahe und Iris von Lentzke einen Workshop zum Thema Value Formation and Humanistic Education (The Berlin Experience), beigetragen, der sehr positiv aufgenommen wurde. Schon dieser Tag war ein Höhepunkt und eine große Bereicherung. Ein sehr herzlicher Dank an die EHP und ihre tolle Arbeit!
Zum Kongressprogramm der folgenden Tage möchte ich einige eher übergreifende Gedanken formulieren. In den Workshops, aber auch in den Großveranstaltungen hat sich mir nachhaltig gezeigt, wie wichtig die globale Perspektive für das Verständnis und auch für die Identifikation von Lösungsansätzen ist. Im Workshop zum Climate Change wurde praktisch und persönlich erfahrbar, wie unterschiedlich die Perspektiven auf das gleiche Thema sein können: Während Ivan Dheur von deMens.nu aus Belgien uns berichtete, welchen ambitionierten Klimafahrplan sich seine Organisation auferlegt hat, erfuhren wir von den philippinischen Humanist*innen, wie privilegiert die nordeuropäische Position des ‚Konzeptemachens‘ im Vergleich zu ihrer Situation ist, denn, so hieß es in der Diskussion: „Während wir uns hier privilegiert über Konzepte unterhalten, steht uns bereits jetzt das Wasser bis zum Hals“. Die Philippinen gehören zu den weltweit durch den Klimawandel am stärksten betroffenen Ländern. Heftige Regenfälle und starke Taifune nehmen deutlich zu, der Meeresspiegel und der Wellengang steigen und der Ozean erwärmt sich.
Der Moderator des Workshops, David Pineda aus Guatemala, wies am Ende darauf hin, dass der steigende Bedarf an Seltenen Erden, dringend benötigt zum Beispiel für Windräder, Elektromotoren und LED-Lampen, bereits zur Zerstörung weiter Gebiete in Lateinamerika und zu einer teils katastrophalen Umweltverschmutzung geführt hat
Es macht einen großen Unterschied, ob man diese Informationen als nüchterne, wissenschaftliche Fakten zur Kenntnis nimmt oder ob man an der Verzweiflung und Wut eines Mitmenschen über die Zerstörung seiner Lebenswelt unmittelbar teilhaben kann. Fakten sind unverzichtbar in der Debatte, aber ein direktes emotionales Involviert-werden bewegt mitunter nachhaltiger und intensiver.
Die globale Perspektive auf die Fragestellung verdeutlicht auch deren Komplexität und den Umstand, dass manch eine – grundsätzlich fortschrittlich erscheinende – Strategie des Nordens auf dem Rücken der Länder des Globalen Südens aufbaut. Es ist das Privileg der Teilnahme an einem solchen Kongress, dass die vielen unterschiedlichen Perspektiven so ungemein lehrreich, ja unverzichtbar sind, um Problemkontexte zu durchdringen. Ich wünsche mir mehr solcher Austauschformate, auch für unsere politisch Verantwortlichen, denn sie hinterlassen uns bewusster und informierter.
Von einem weiteren Workshop, der mich bis heute stark beschäftigt, möchte ich hier berichten. Mahmood Amiry-Moghaddam, Direktor des Vereins Iran Human Rights, stellte die aktuelle Situation im Iran dar: Dort wurden im Mai dieses Jahres zwei Menschen wegen „Blasphemie“ hingerichtet. Im vergangenen Jahr wurden im Iran 582 Menschen wegen verschiedener Vergehen exekutiert, was einem Anstieg von 75 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Willkürliche Exekutionen sind an der Tagesordnung und können auf der Website von Iran Human Rights zahlenmäßig nachvollzogen werden.
Zeitgleich war die Frage der Bewertung der Koranverbrennungen, die sich zuletzt in Schweden und Dänemark ereignet hatten und während des Kongresses auch in der dänischen Politik diskutiert wurden, sehr präsent. Die Schärfe der Verurteilung einer Buchverbrennung durch muslimisch geprägte Staaten einerseits, bis hin zu (Androhung von) Gewalt und Terror gegenüber Islamkritiker:innen, bei gleichzeitigem Fehlen eines Mindestmaßes an Freiheits- und Menschenrechten andererseits – dieses so empfundene Missverhältnis wurde vor allem von humanistischen Vertreter*innen aus muslimischen Staaten sehr deutlich benannt.
Immer wieder wurde in diesem Zusammenhang auch das Versagen der Mechanismen und Organe zum Beispiel des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen kritisiert. So hat der UN-Menschenrechtsrat aufgrund eines von Pakistan im Namen der Organization of Islamic Cooperation eingebrachten Resolutionsentwurfs die Einführung von Strafbestimmungen gegen diejenigen beschlossen, die den Koran verbrennen. Der Beschluss, der gegen den Widerstand der europäischen Staaten mit überwältigender Mehrheit zustande gekommen ist, wirft viele Fragen auf, zumal das Land, das die Resolution eingebracht hat (Pakistan), hart und mit Gewalt gegen die Medien, die Zivilgesellschaft und die politische Opposition vorgeht, indem es immer wieder zahlreiche Fälle von ‚Verschwindenlassen‘ gibt und indem religiöse Minderheiten unter Rückgriff auf die Blasphemiegesetze strafrechtlich verfolgt werden. Die Stimme der Vereinten Nationen ist in diesen Fällen oft gar nicht zu vernehmen. Warum nicht? – so die Frage eines Teilnehmers am Abschlussplenum Freedom of Religion and Belief.
Abid Raja (Vorsitzender und Gründungsmitglied des International Panel of Parliamentarians for Freedom of Religion or Belief IPPFoRB) bringt es in seiner Präsentation beim Abschlusspanel auf den Punkt: Die bad boys sind auf dem Vormarsch, auch die 11. Ausgabe des Freedom of Thought Report von Humanists International zeichnet auf Grundlage von Daten ein düsteres Bild: Über 70 Prozent der Weltbevölkerung lebt in Ländern, in denen das Ausleben humanistischer Werte maßgeblich unterdrückt wird. Säkularisierung und die Entwicklung pluralistischer, toleranter Gesellschaften auf der Grundlage freiheitlicher Verfassungsordnungen sind weltweit nicht auf dem Vormarsch.
All das ist wenig erfreulich – umso mehr benötigen wir ein starkes internationales humanistisches Netzwerk, in dem wir uns in unserem Engagement für eine gerechtere und bessere Welt ermutigen und bestärken können. Es gab viele Begegnungen, die Mut gemacht und inspiriert haben. Und es gab schöne Momente von Gemeinschaft auf der Grundlage geteilter Werte. Dem Gastgeber (Dänemark) und den Co-Gastgebern (Norwegen, Schweden, Finnland, Island) danken wir herzlich für die Möglichkeit der Teilnahme an diesem durch und durch gut organisierten Kongress. Insgesamt konnten über 400 Teilnehmende aus über 20 Ländern dabei sein. Mehr als 90 Freiwillige haben die Durchführung des Kongresses unterstützt. Und der Präsident der Humanists International, Andrew Copson, hat mit großer Leichtigkeit, Professionalität und Humor den moderativen Rahmen für vier inspirierende und bereichernde Tage geschaffen. Am Ende der Tagung hat die neu gewählte Vizepräsidentin Roslyn Mould erklärt: „Humanists International ist mehr als nur eine Organisation; sie ist eine kollektive Kraft für das Gute. Unser globales Netzwerk humanistischer Organisationen und Einzelpersonen hat das Potenzial, eine transformative Kraft für die Gestaltung einer besseren Zukunft für die Menschheit zu sein.“ Auch der HVD ist entschlossen, künftig (wieder) mehr zu dieser kollektiven Kraft beizutragen.
Wir sagen DANKE und wünschen den bestehenden als auch den neu gewählten Board-Mitgliedern von Humanists International allen erdenklichen Erfolg für die vor ihnen liegende Arbeit – denn eines ist gewiss: Es wird auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weltweit genug zu tun geben!
Das vollständige Programm ist auf der Website des World Humanist Congress einsehbar. Zum Download bereit stehen dort der Vortrag „Threats to Democracy“ der Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Uppsala, Sofia Näsström, sowie die Präsentation von Oleksandra Romantsova, Geschäftsführerin der ukrainischen Menschenrechtsorganisation Center for Civil Liberties, die 2022 den Friedensnobelpreis erhielt. Die Kopenhagener Erklärung „Demokratie: ein humanistischer Wert“ ist hier nachzulesen.