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World Humanist Congress 2023

Ein wichtiger Austausch in globaler Perspektive

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Der World Humanist Congress 2023 brachte im August Humanist*innen aus der ganzen Welt in Kopenhagen zusammen. Ein persönlicher Bericht von HVD-Bundesvorstand Katrin Raczynski.

Vom 4. bis 6. August 2023 fand in Kopen­ha­gen der World Huma­nist Con­gress 2023 statt. Der inhalt­li­che Schwer­punkt: Buil­ding bet­ter demo­cra­ci­es through huma­nist values. Dies­mal waren wir mit einer grö­ße­ren deut­schen Dele­ga­ti­on des Bun­des­ver­ban­des und des Huma­nis­ti­schen Ver­ban­des Ber­lin-Bran­den­burg ver­tre­ten. Die Kon­gress­ta­ge waren ins­ge­samt ein so ein­drucks­vol­les, kom­mu­ni­ka­ti­ons­in­ten­si­ves, netz­werk­för­dern­des und inspi­rie­ren­des Erleb­nis, dass ich es auf die­sem Weg ger­ne tei­len möch­te.

Wie aus dem Pro­gramm schnell deut­lich wird, waren es durch­weg gro­ße und glo­ba­le The­men, die uns in den Kon­gress­ta­gen beschäf­tigt haben, von der Bedro­hung der Demo­kra­tien welt­weit über die Beschäf­ti­gung mit dem Kli­ma­wan­del (der pro­vo­kan­te Work­shop­ti­tel: War­um küm­mern sich Humanist*innen nicht mehr um den Kli­ma­wan­del?) bis hin zu Fra­gen des Ein­sat­zes neu­er Tech­no­lo­gien. Und zwi­schen all dem: Musik­bei­trä­ge und Kunst, vie­le, teils kuli­na­ri­sche Get-tog­e­thers, Gesprä­che und Dis­kus­sio­nen in den Pau­sen und manch­mal bis in die frü­hen Mor­gen­stun­den. Wer woll­te, konn­te an einem viel­sei­ti­gen Begleit­pro­gramm teil­neh­men, das vom Baden im Hafen­be­cken über einen Besuch der frei­en Stadt Chris­tia­na bis hin zu zahl­rei­chen Stadt­füh­run­gen zu The­men­schwer­punk­ten (zum Bei­spiel Working Class histo­ry oder LGBTI+ histo­ry) reich­te.

Vor dem eigent­li­chen Kon­gress­pro­gramm gab es am 3. August einen gan­zen Tag, der von den Euro­pean Huma­nists Pro­fes­sio­nals (EHP) orga­ni­siert wur­de. Und auch hier lässt sich resü­mie­ren: was für ein groß­ar­ti­ges, viel­sei­ti­ges Pro­gramm rund um prak­ti­sche huma­nis­ti­sche Ange­bo­te und mit der Mög­lich­keit, von der Pra­xis in ande­ren euro­päi­schen Län­dern zu pro­fi­tie­ren, neue Stra­te­gien zu ent­wi­ckeln und ein­fach mal über den eige­nen Hori­zont hin­aus­zu­den­ken. The­ma­tisch reich­ten die Ange­bo­te von eher über­grei­fen­den The­men und Work­shops (Dia­lo­gue with reli­gious peo­p­le oder Per­so­nal Sto­rytel­ling) bis hin zu Erfah­rungs­be­rich­ten einer kon­kre­ten Huma­nis­ti­schen Pra­xis (Namens- und Hoch­zeits­fei­ern, Exis­ten­ti­al Care u.a.m.). Als beson­ders habe ich die Atmo­sphä­re in den Work­shops erlebt. Obwohl sich die Teil­neh­men­den vor­her kaum oder nur teil­wei­se kann­ten, öff­ne­te sich hier sehr schnell der Raum für einen per­sön­li­chen und wert­schät­zen­den Aus­tausch und die Mög­lich­keit, an ande­ren Lebens­ge­schich­ten und Lebens­ent­wür­fen teil­zu­ha­ben. Und dies trotz der gro­ßen Unter­schie­de etwa in Lebens­si­tua­ti­on, Alter oder Her­kunft. Auch der HVD Ber­lin-Bran­den­burg hat unter der Lei­tung von Mat­thi­as Kra­he und Iris von Lentzke einen Work­shop zum The­ma Value For­ma­ti­on and Huma­ni­stic Edu­ca­ti­on (The Ber­lin Expe­ri­ence), bei­getra­gen, der sehr posi­tiv auf­ge­nom­men wur­de. Schon die­ser Tag war ein Höhe­punkt und eine gro­ße Berei­che­rung. Ein sehr herz­li­cher Dank an die EHP und ihre tol­le Arbeit!

Zum Kon­gress­pro­gramm der fol­gen­den Tage möch­te ich eini­ge eher über­grei­fen­de Gedan­ken for­mu­lie­ren. In den Work­shops, aber auch in den Groß­ver­an­stal­tun­gen hat sich mir nach­hal­tig gezeigt, wie wich­tig die glo­ba­le Per­spek­ti­ve für das Ver­ständ­nis und auch für die Iden­ti­fi­ka­ti­on von Lösungs­an­sät­zen ist. Im Work­shop zum Cli­ma­te Chan­ge wur­de prak­tisch und per­sön­lich erfahr­bar, wie unter­schied­lich die Per­spek­ti­ven auf das glei­che The­ma sein kön­nen: Wäh­rend Ivan Dheur von deMens.nu aus Bel­gi­en uns berich­te­te, wel­chen ambi­tio­nier­ten Kli­ma­fahr­plan sich sei­ne Orga­ni­sa­ti­on auf­er­legt hat, erfuh­ren wir von den phil­ip­pi­ni­schen Humanist*innen, wie pri­vi­le­giert die nord­eu­ro­päi­sche Posi­ti­on des ‚Kon­zep­tema­chens‘ im Ver­gleich zu ihrer Situa­ti­on ist, denn, so hieß es in der Dis­kus­si­on: „Wäh­rend wir uns hier pri­vi­le­giert über Kon­zep­te unter­hal­ten, steht uns bereits jetzt das Was­ser bis zum Hals“. Die Phil­ip­pi­nen gehö­ren zu den welt­weit durch den Kli­ma­wan­del am stärks­ten betrof­fe­nen Län­dern. Hef­ti­ge Regen­fäl­le und star­ke Tai­fu­ne neh­men deut­lich zu, der Mee­res­spie­gel und der Wel­len­gang stei­gen und der Oze­an erwärmt sich.

Der Mode­ra­tor des Work­shops, David Pine­da aus Gua­te­ma­la, wies am Ende dar­auf hin, dass der stei­gen­de Bedarf an Sel­te­nen Erden, drin­gend benö­tigt zum Bei­spiel für Wind­rä­der, Elek­tro­mo­to­ren und LED-Lam­pen, bereits zur Zer­stö­rung wei­ter Gebie­te in Latein­ame­ri­ka und zu einer teils kata­stro­pha­len Umwelt­ver­schmut­zung geführt hat

Es macht einen gro­ßen Unter­schied, ob man die­se Infor­ma­tio­nen als nüch­ter­ne, wis­sen­schaft­li­che Fak­ten zur Kennt­nis nimmt oder ob man an der Ver­zweif­lung und Wut eines Mit­men­schen über die Zer­stö­rung sei­ner Lebens­welt unmit­tel­bar teil­ha­ben kann. Fak­ten sind unver­zicht­bar in der Debat­te, aber ein direk­tes emo­tio­na­les Invol­viert-wer­den bewegt mit­un­ter nach­hal­ti­ger und inten­si­ver.

Die glo­ba­le Per­spek­ti­ve auf die Fra­ge­stel­lung ver­deut­licht auch deren Kom­ple­xi­tät und den Umstand, dass manch eine – grund­sätz­lich fort­schritt­lich erschei­nen­de – Stra­te­gie des Nor­dens auf dem Rücken der Län­der des Glo­ba­len Südens auf­baut. Es ist das Pri­vi­leg der Teil­nah­me an einem sol­chen Kon­gress, dass die vie­len unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven so unge­mein lehr­reich, ja unver­zicht­bar sind, um Pro­blem­kon­tex­te zu durch­drin­gen. Ich wün­sche mir mehr sol­cher Aus­tausch­for­ma­te, auch für unse­re poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen, denn sie hin­ter­las­sen uns bewuss­ter und infor­mier­ter.

Von einem wei­te­ren Work­shop, der mich bis heu­te stark beschäf­tigt, möch­te ich hier berich­ten. Mah­mood Amiry-Mog­had­dam, Direk­tor des Ver­eins Iran Human Rights, stell­te die aktu­el­le Situa­ti­on im Iran dar: Dort wur­den im Mai die­ses Jah­res zwei Men­schen wegen „Blas­phe­mie“ hin­ge­rich­tet. Im ver­gan­ge­nen Jahr wur­den im Iran 582 Men­schen wegen ver­schie­de­ner Ver­ge­hen exe­ku­tiert, was einem Anstieg von 75 Pro­zent gegen­über dem Vor­jahr ent­spricht. Will­kür­li­che Exe­ku­tio­nen sind an der Tages­ord­nung und kön­nen auf der Web­site von Iran Human Rights zah­len­mä­ßig nach­voll­zo­gen wer­den.

Zeit­gleich war die Fra­ge der Bewer­tung der Koran­ver­bren­nun­gen, die sich zuletzt in Schwe­den und Däne­mark ereig­net hat­ten und wäh­rend des Kon­gres­ses auch in der däni­schen Poli­tik dis­ku­tiert wur­den, sehr prä­sent. Die Schär­fe der Ver­ur­tei­lung einer Buch­ver­bren­nung durch mus­li­misch gepräg­te Staa­ten einer­seits, bis hin zu (Andro­hung von) Gewalt und Ter­ror gegen­über Islamkritiker:innen, bei gleich­zei­ti­gem Feh­len eines Min­dest­ma­ßes an Frei­heits- und Men­schen­rech­ten ande­rer­seits – die­ses so emp­fun­de­ne Miss­ver­hält­nis wur­de vor allem von huma­nis­ti­schen Vertreter*innen aus mus­li­mi­schen Staa­ten sehr deut­lich benannt.

Immer wie­der wur­de in die­sem Zusam­men­hang auch das Ver­sa­gen der Mecha­nis­men und Orga­ne zum Bei­spiel des Men­schen­rechts­rats der Ver­ein­ten Natio­nen kri­ti­siert. So hat der UN-Men­schen­rechts­rat auf­grund eines von Paki­stan im Namen der Orga­niza­ti­on of Isla­mic Coope­ra­ti­on ein­ge­brach­ten Reso­lu­ti­ons­ent­wurfs die Ein­füh­rung von Straf­be­stim­mun­gen gegen die­je­ni­gen beschlos­sen, die den Koran ver­bren­nen. Der Beschluss, der gegen den Wider­stand der euro­päi­schen Staa­ten mit über­wäl­ti­gen­der Mehr­heit zustan­de gekom­men ist, wirft vie­le Fra­gen auf, zumal das Land, das die Reso­lu­ti­on ein­ge­bracht hat (Paki­stan), hart und mit Gewalt gegen die Medi­en, die Zivil­ge­sell­schaft und die poli­ti­sche Oppo­si­ti­on vor­geht, indem es immer wie­der zahl­rei­che Fäl­le von ‚Ver­schwin­den­las­sen‘ gibt und indem reli­giö­se Min­der­hei­ten unter Rück­griff auf die Blas­phe­mie­ge­set­ze straf­recht­lich ver­folgt wer­den. Die Stim­me der Ver­ein­ten Natio­nen ist in die­sen Fäl­len oft gar nicht zu ver­neh­men. War­um nicht? – so die Fra­ge eines Teil­neh­mers am Abschluss­ple­num Free­dom of Reli­gi­on and Belief.

Abid Raja (Vor­sit­zen­der und Grün­dungs­mit­glied des Inter­na­tio­nal Panel of Par­lia­men­ta­ri­ans for Free­dom of Reli­gi­on or Belief IPP­FoRB) bringt es in sei­ner Prä­sen­ta­ti­on beim Abschluss­pa­nel auf den Punkt: Die bad boys sind auf dem Vor­marsch, auch die 11. Aus­ga­be des Free­dom of Thought Report von Huma­nists Inter­na­tio­nal zeich­net auf Grund­la­ge von Daten ein düs­te­res Bild: Über 70 Pro­zent der Welt­be­völ­ke­rung lebt in Län­dern, in denen das Aus­le­ben huma­nis­ti­scher Wer­te maß­geb­lich unter­drückt wird. Säku­la­ri­sie­rung und die Ent­wick­lung plu­ra­lis­ti­scher, tole­ran­ter Gesell­schaf­ten auf der Grund­la­ge frei­heit­li­cher Ver­fas­sungs­ord­nun­gen sind welt­weit nicht auf dem Vor­marsch.

All das ist wenig erfreu­lich – umso mehr benö­ti­gen wir ein star­kes inter­na­tio­na­les huma­nis­ti­sches Netz­werk, in dem wir uns in unse­rem Enga­ge­ment für eine gerech­te­re und bes­se­re Welt ermu­ti­gen und bestär­ken kön­nen. Es gab vie­le Begeg­nun­gen, die Mut gemacht und inspi­riert haben. Und es gab schö­ne Momen­te von Gemein­schaft auf der Grund­la­ge geteil­ter Wer­te. Dem Gast­ge­ber (Däne­mark) und den Co-Gast­ge­bern (Nor­we­gen, Schwe­den, Finn­land, Island) dan­ken wir herz­lich für die Mög­lich­keit der Teil­nah­me an die­sem durch und durch gut orga­ni­sier­ten Kon­gress. Ins­ge­samt konn­ten über 400 Teil­neh­men­de aus über 20 Län­dern dabei sein. Mehr als 90 Frei­wil­li­ge haben die Durch­füh­rung des Kon­gres­ses unter­stützt. Und der Prä­si­dent der Huma­nists Inter­na­tio­nal, Andrew Cop­son, hat mit gro­ßer Leich­tig­keit, Pro­fes­sio­na­li­tät und Humor den mode­ra­ti­ven Rah­men für vier inspi­rie­ren­de und berei­chern­de Tage geschaf­fen. Am Ende der Tagung hat die neu gewähl­te Vize­prä­si­den­tin Ros­lyn Mould erklärt: „Huma­nists Inter­na­tio­nal ist mehr als nur eine Orga­ni­sa­ti­on; sie ist eine kol­lek­ti­ve Kraft für das Gute. Unser glo­ba­les Netz­werk huma­nis­ti­scher Orga­ni­sa­tio­nen und Ein­zel­per­so­nen hat das Poten­zi­al, eine trans­for­ma­ti­ve Kraft für die Gestal­tung einer bes­se­ren Zukunft für die Mensch­heit zu sein.“ Auch der HVD ist ent­schlos­sen, künf­tig (wie­der) mehr zu die­ser kol­lek­ti­ven Kraft bei­zu­tra­gen.

Wir sagen DANKE und wün­schen den bestehen­den als auch den neu gewähl­ten Board-Mit­glie­dern von Huma­nists Inter­na­tio­nal allen erdenk­li­chen Erfolg für die vor ihnen lie­gen­de Arbeit – denn eines ist gewiss: Es wird auch in den nächs­ten Jah­ren und Jahr­zehn­ten welt­weit genug zu tun geben!

Das voll­stän­di­ge Pro­gramm ist auf der Web­site des World Huma­nist Con­gress ein­seh­bar. Zum Down­load bereit ste­hen dort der Vor­trag „Thre­ats to Demo­cra­cy“ der Pro­fes­so­rin für Poli­tik­wis­sen­schaft an der Uni­ver­si­tät Upp­sa­la, Sofia Näs­ström, sowie die Prä­sen­ta­ti­on von Olek­san­dra Romants­ova, Geschäfts­füh­re­rin der ukrai­ni­schen Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on Cen­ter for Civil Liber­ties, die 2022 den Frie­dens­no­bel­preis erhielt. Die Kopen­ha­ge­ner Erklä­rung „Demo­kra­tie: ein huma­nis­ti­scher Wert“ ist hier nach­zu­le­sen.

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