Percy, fangen wir mal ganz vorn an: Was ist überhaupt ein Bürgerrat?
Ein Bürgerrat ist ein Bürgerbeteiligungsverfahren. Aus der Sicht der Politik kann man aber auch sagen: Er ist eine Möglichkeit für die Politik, sich Beratung aus der Gesellschaft zu holen. Das Besondere beim Bürgerrat ist, dass er auf Zufallsauswahl basiert, das heißt hier werden tatsächlich Bürgerinnen und Bürger aus der betroffenen Gesamtmenge, also etwa bundesweit, ausgelost und eingeladen, sich zu beteiligen. Zunächst gibt es ein paar Tausend Interessierte, dann ein paar Hundert, die wirklich bereit sind, die Aufgabe anzunehmen. Und aus diesen werden dann per sogenanntem stratifiziertem Losverfahren die Teilnehmenden für den Bürgerrat bestimmt. Dies geschieht wieder per Losverfahren, aber unter vorgegebenen Kriterien. Ziel ist ein Bürgerrat, der in seinen demographischen Merkmalen weitgehend der Bevölkerung entspricht, also hinsichtlich Geschlechter- und Altersverteilung, Bildungsgrad, Wohnortgröße, Stadt und Land – und man dadurch eine Art „Minigesellschaft“ erhält. Das ist das angestrebte Ziel – das natürlich nicht perfekt erreicht werden kann, aber Bürgerräte sind demographisch weit repräsentativer als die Parlamente oder Regierungskommissionen.
Bürgerräte sind ja ein recht neues Instrument. Warum brauchen wir sie? Reichen unsere bisherigen Instrumente zur Beteiligung nicht aus?
Wir beobachten, dass die Politik immer wieder Beratung anfragt, wenn die internen Mechanismen nicht mehr ausreichen, wenn es um gesamtgesellschaftliche, komplexe Fragen geht und man niemanden übergehen möchte. Und genau für solche Fragen sind Bürgerräte besonders gut geeignet, denn dann sind die Ansprüche an Repräsentativität und Inklusivität besonders hoch, denn es geht ja um viel und man möchte ein komplexes Problem möglichst von vielen Seiten betrachtet wissen.
Bürgerräte sind insofern eine besonders demokratische Form der Politikberatung, von dem die Bundespolitik bei schwierigen Themen öfter Gebrauch machen sollte. Denn die Menschen, die dort zusammenkommen, die haben keinen besonderen Interessenhintergrund. Sie sind nicht verbandelt mit Lobbyverbänden, sondern sie kommen im Bürgerrat als Einzelpersonen zusammen und versuchen ernsthaft, das ihnen anvertraute Problem zu lösen – näher orientiert am Gemeinwohl.
Dr. Percy Vogel (*1966) ist Diplom-Biologe und promovierte in Psychologie. Er ist Gründungsvorstand des gemeinnützigen Vereins Bürgerbegehren Klimaschutz, der die Trägerschaft für den Bürgerrat Klima übernommen hat.
Wie läuft ein Bürgerrat ab? Kannst du das am Beispiel des Bürgerrat Klima skizzieren?
Mit dem beschriebenen Losverfahren wurden 160 Teilnehmende bestimmt. In der Vorbereitungsphase wurde die Fragestellung präzisiert und in Zusammenarbeit mit dem wissenschaftlichen Kuratorium in ein Programm umgesetzt. Auch die Parteien und die Zivilgesellschaft waren daran beteiligt. So identifizierte man die Themenbereiche Mobilität, Energieerzeugung, Wohnen und Wärme sowie einen Teil der Landwirtschaft, nämlich die Produktion tierischer Lebensmittel. Diese Bereiche wurden ausgewählt, weil sie am meisten Treibhausgaseinsparungen ermöglichen und auch die Alltagswelt der Teilnehmenden betreffen. Entsprechend wurde der Bürgerrat Klima in vier Themengruppen à 40 Leute unterteilt. Diese Themengruppen haben von Fachleuten und Expert*innen aus der Wissenschaft informative Inputs bekommen. In sogenannten Tischgruppen von acht Leuten wurde dann auf Grundlage dieser Inputs diskutiert, welche Maßnahmen daraus folgen können. Die Ergebnisse wurden anschließend zunächst auf Ebene der Themengruppen wieder zusammengeführt. Und am Schluss, in der letzten Sitzung, wurde insgesamt über alle erarbeiteten Empfehlungen im Bürgerrat abgestimmt.
Die Teilnehmenden des Bürgerrat Klima haben sehr konkrete, sehr ambitionierte Klimaschutz-Empfehlungen erarbeitet, zum Beispiel ein Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen oder eine realistische Bepreisung klimaschädlicher Nahrungsmittel. Das sind ja Maßnahmen, die weniger auf Individualinteressen einzahlen, sondern vor allem im Sinne des Gemeinwohls sind. Wie kommt es zu dieser Gemeinwohlorientierung?
Zunächst einmal gab es ja eine konkrete Fragestellung, die an der politischen Realität anknüpft, nämlich: Durch welche Maßnahmen kann das Pariser Klimaschutzabkommen umgesetzt werden? In den ersten Sitzungen wurde das Bewusstsein für die Ernsthaftigkeit der Klimakrise bei den Teilnehmenden auf ein gemeinsames Niveau gebracht und damit eine Ausgangsbasis für ambitionierte Klimaschutzmaßnahmen geschaffen. Und es spielt eine wichtige Rolle, dass die Menschen wissen, dass sie zufallsausgewählt sind, dass sie Deutschland repräsentieren, dass sie alle aus ihren jeweiligen Lebensumständen heraustreten und hineintreten in diese neu zusammengesetzte Gemeinschaft. Und sie tun dies von vornherein mit einer hohen Kooperationsbereitschaft. Das sind sehr gute Voraussetzungen, die eigene Perspektive zu erweitern und Eigeninteressen mit den Eigeninteressen anderer Menschen abzugleichen und darüber zu einem Gemeinwohlinteresse zu finden. Wenn Konflikte auftraten, spielte die Moderation auch eine wichtige Rolle. Das ist ein weiterer wichtiger Aspekt für Bürgerräte: dass ein Rahmen gegeben wird, innerhalb dessen diskutiert wird und der auch sicherstellt, dass die Diskussion zielführend ist. All das wirkt zusammen.
Der Bürgerrat Klima tagte von April bis Juni 2021 unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident a. D. Horst Köhler. Das wissenschaftliche Kuratorium zur inhaltlichen Beratung der Teilnehmenden wurde geleitet von Prof. Dr. Ortwin Renn, dem wissenschaftlichen Direktor am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS). Durchgeführt wurde der Bürgerrat von den Beteiligungsinstituten IFOK, Nexus und IPG, seine Finanzierung erfolgte durch Stiftungsförderungen und Spenden. Der Humanistische Verband Deutschlands gehört zum Unterstützungskreis des Bürgerrat Klima.
Der erarbeitete Maßnahmenkatalog hat allerdings nur eine beratende Funktion, er ist nicht verbindlich. Die Politik könnte das Ganze einfach ignorieren. Wo können hier also tatsächlich politische Veränderungen angestoßen werden und wo liegen die Grenzen?
Wir haben von Anfang an den Bürgerrat Klima als ein Angebot an die Politik verstanden, mehr Rückhalt aus der Bevölkerung für eine ambitionierte Klimapolitik zu bekommen, also die Schwelle für eine ambitionierte Klimapolitik herabzusetzen. Ob das Angebot angenommen wird, hängt allein von der Bereitschaft der Politik ab. So wird das übrigens auch bei zukünftigen Bürgerräten sein, selbst wenn sie vom Bundestag beauftragt sind. Für den Bürgerrat Klima haben wir viele positive Rückmeldungen aus der Politik erhalten und im Koalitionsvertrag finden sich viele Übereinstimmungen mit dem Bürgergutachten. Eine offizielle Rückmeldung des neuen Bundestages und der Regierung steht allerdings noch aus. Wichtig ist natürlich auch, dass die Gesamtbevölkerung den losbasierten Bürgerrat Klima als positiven Beitrag sieht. Die Ergebnisse einer Umfrage dazu sind sehr ermutigend.
Du sagtest, Bürgerräte seien ein besonders demokratisches Beratungsgremium. Inwiefern?
In Bürgerräten realisiert sich das, was wir uns eigentlich von unseren Parlamenten erhoffen, nämlich dass die Bevölkerung auch demografisch und lebensweltlich repräsentiert ist, dass die Diskussion sachbezogen ist, dass man einander ein großes Vertrauen entgegenbringt und dass es diese Gemeinwohlorientierung gibt. Wenn man in einem Beratungsgremium jedoch nur Fachleute, Interessenvertreter*innen und Akademiker*innen zusammenbringt, kann es passieren, dass es sich von der Gesamtgesellschaft zu sehr ablöst. Das Verfahren bei Bürgerräten stellt von vornherein sicher, dass das nicht passiert; und es ist sehr inklusiv, weil es einerseits alle in politische Gestaltung miteinbezieht und trotzdem anerkennen kann, dass es stärkere und schwächere Menschen geben kann, die sich dann innerhalb dieses Bürgerratsverfahrens gegenseitig unterstützen, einander mit Respekt und auf Augenhöhe begegnen und zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen. Das ist es, was ich daran auch als sehr humanistisch empfinde. Es wird den Menschen angeboten und zugetraut, dass sie über diese komplexen Sachverhalte nachdenken können. Und es wird ihnen dann auch dabei geholfen, diese Aufgabe anzunehmen und zu erfüllen. Das sehe ich auch im Sinne der Aufklärung: dass einerseits durch die Inputs der Wissenschaft die Faktenlage objektiv dargestellt wird und andererseits durch die unterschiedlichen, daran beteiligten Menschen auch die ethischen Fragen, die Wertefragen zur Diskussion kommen. Das heißt, Sachbezogenes, das Sein und, Werteorientiertes, das Sollen, werden hier erst gegenübergestellt, dann zusammengebracht, aufeinander abgestimmt. Und zwar direkt und nicht eingeschränkt durch zu starke Parteiinteressen oder Parteiidentitätsinteressen.