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Demokratische Teilhabe

Bürgerräte: „Eine besonders demokratische Form der Politikberatung“

| von
Teilnehmende des Bürgerrat Klima 2021

Beitragsbild: Bürgerrat Klima

Seit einigen Jahren werden in vielen Ländern weltweit losbasierte Bürgerräte durchgeführt. In Deutschland fand 2019 mit dem Bürgerrat Demokratie zum erste Mal bundesweit ein solches Verfahren der Bürger*innenbeteiligung statt. Im Sommer vor der Bundestagswahl 2021 wurde der Bürgerrat Klima durchgeführt, um der neuen Regierung konkrete Empfehlungen und Maßnahmen zur Erreichung der Pariser Klimaschutzziele an die Hand zu geben. Mit Dr. Percy Vogel, dem Vorstand des Trägervereins des Bürgerrat Klima, haben wir über die Stärken des Beteiligungsverfahrens, aber auch seine Grenzen gesprochen – und darüber, weshalb Bürgerräte besonders humanistisch und im Sinne der Aufklärung sind.

Percy, fangen wir mal ganz vorn an: Was ist überhaupt ein Bürgerrat?

Ein Bür­ger­rat ist ein Bür­ger­be­tei­li­gungs­ver­fah­ren. Aus der Sicht der Poli­tik kann man aber auch sagen: Er ist eine Mög­lich­keit für die Poli­tik, sich Bera­tung aus der Gesell­schaft zu holen. Das Beson­de­re beim Bür­ger­rat ist, dass er auf Zufalls­aus­wahl basiert, das heißt hier wer­den tat­säch­lich Bür­ge­rin­nen und Bür­ger aus der betrof­fe­nen Gesamt­men­ge, also etwa bun­des­weit, aus­ge­lost und ein­ge­la­den, sich zu betei­li­gen. Zunächst gibt es ein paar Tau­send Inter­es­sier­te, dann ein paar Hun­dert, die wirk­lich bereit sind, die Auf­ga­be anzu­neh­men. Und aus die­sen wer­den dann per soge­nann­tem stra­ti­fi­zier­tem Los­ver­fah­ren die Teil­neh­men­den für den Bür­ger­rat bestimmt. Dies geschieht wie­der per Los­ver­fah­ren, aber unter vor­ge­ge­be­nen Kri­te­ri­en. Ziel ist ein Bür­ger­rat, der in sei­nen demo­gra­phi­schen Merk­ma­len weit­ge­hend der Bevöl­ke­rung ent­spricht, also hin­sicht­lich Geschlech­ter- und Alters­ver­tei­lung, Bil­dungs­grad, Wohn­ort­grö­ße, Stadt und Land – und man dadurch eine Art „Mini­ge­sell­schaft“ erhält. Das ist das ange­streb­te Ziel – das natür­lich nicht per­fekt erreicht wer­den kann, aber Bür­ger­rä­te sind demo­gra­phisch weit reprä­sen­ta­ti­ver als die Par­la­men­te oder Regie­rungs­kom­mis­sio­nen.

Bürgerräte sind ja ein recht neues Instrument. Warum brauchen wir sie? Reichen unsere bisherigen Instrumente zur Beteiligung nicht aus?

Wir beob­ach­ten, dass die Poli­tik immer wie­der Bera­tung anfragt, wenn die inter­nen Mecha­nis­men nicht mehr aus­rei­chen, wenn es um gesamt­ge­sell­schaft­li­che, kom­ple­xe Fra­gen geht und man nie­man­den über­ge­hen möch­te. Und genau für sol­che Fra­gen sind Bür­ger­rä­te beson­ders gut geeig­net, denn dann sind die Ansprü­che an Reprä­sen­ta­ti­vi­tät und Inklu­si­vi­tät beson­ders hoch, denn es geht ja um viel und man möch­te ein kom­ple­xes Pro­blem mög­lichst von vie­len Sei­ten betrach­tet wis­sen.

Bür­ger­rä­te sind inso­fern eine beson­ders demo­kra­ti­sche Form der Poli­tik­be­ra­tung, von dem die Bun­des­po­li­tik bei schwie­ri­gen The­men öfter Gebrauch machen soll­te. Denn die Men­schen, die dort zusam­men­kom­men, die haben kei­nen beson­de­ren Inter­es­sen­hin­ter­grund. Sie sind nicht ver­ban­delt mit Lob­by­ver­bän­den, son­dern sie kom­men im Bür­ger­rat als Ein­zel­per­so­nen zusam­men und ver­su­chen ernst­haft, das ihnen anver­trau­te Pro­blem zu lösen – näher ori­en­tiert am Gemein­wohl.

Bild: pri­vat

Dr. Per­cy Vogel (*1966) ist Diplom-Bio­lo­ge und pro­mo­vier­te in Psy­cho­lo­gie. Er ist Grün­dungs­vor­stand des gemein­nüt­zi­gen Ver­eins Bür­ger­be­geh­ren Kli­ma­schutz, der die Trä­ger­schaft für den Bür­ger­rat Kli­ma über­nom­men hat.

Wie läuft ein Bürgerrat ab? Kannst du das am Beispiel des Bürgerrat Klima skizzieren?

Mit dem beschrie­be­nen Los­ver­fah­ren wur­den 160 Teil­neh­men­de bestimmt. In der Vor­be­rei­tungs­pha­se wur­de die Fra­ge­stel­lung prä­zi­siert und in Zusam­men­ar­beit mit dem wis­sen­schaft­li­chen Kura­to­ri­um in ein Pro­gramm umge­setzt. Auch die Par­tei­en und die Zivil­ge­sell­schaft waren dar­an betei­ligt. So iden­ti­fi­zier­te man die The­men­be­rei­che Mobi­li­tät, Ener­gie­er­zeu­gung, Woh­nen und Wär­me sowie einen Teil der Land­wirt­schaft, näm­lich die Pro­duk­ti­on tie­ri­scher Lebens­mit­tel. Die­se Berei­che wur­den aus­ge­wählt, weil sie am meis­ten Treib­haus­gas­ein­spa­run­gen ermög­li­chen und auch die All­tags­welt der Teil­neh­men­den betref­fen. Ent­spre­chend wur­de der Bür­ger­rat Kli­ma in vier The­men­grup­pen à 40 Leu­te unter­teilt. Die­se The­men­grup­pen haben von Fach­leu­ten und Expert*innen aus der Wis­sen­schaft infor­ma­ti­ve Inputs bekom­men. In soge­nann­ten Tisch­grup­pen von acht Leu­ten wur­de dann auf Grund­la­ge die­ser Inputs dis­ku­tiert, wel­che Maß­nah­men dar­aus fol­gen kön­nen. Die Ergeb­nis­se wur­den anschlie­ßend zunächst auf Ebe­ne der The­men­grup­pen wie­der zusam­men­ge­führt. Und am Schluss, in der letz­ten Sit­zung, wur­de ins­ge­samt über alle erar­bei­te­ten Emp­feh­lun­gen im Bür­ger­rat abge­stimmt.

Die Teilnehmenden des Bürgerrat Klima haben sehr konkrete, sehr ambitionierte Klimaschutz-Empfehlungen erarbeitet, zum Beispiel ein Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen oder eine realistische Bepreisung klimaschädlicher Nahrungsmittel. Das sind ja Maßnahmen, die weniger auf Individualinteressen einzahlen, sondern vor allem im Sinne des Gemeinwohls sind. Wie kommt es zu dieser Gemeinwohlorientierung?

Zunächst ein­mal gab es ja eine kon­kre­te Fra­ge­stel­lung, die an der poli­ti­schen Rea­li­tät anknüpft, näm­lich: Durch wel­che Maß­nah­men kann das Pari­ser Kli­ma­schutz­ab­kom­men umge­setzt wer­den? In den ers­ten Sit­zun­gen wur­de das Bewusst­sein für die Ernst­haf­tig­keit der Kli­ma­kri­se bei den Teil­neh­men­den auf ein gemein­sa­mes Niveau gebracht und damit eine Aus­gangs­ba­sis für ambi­tio­nier­te Kli­ma­schutz­maß­nah­men geschaf­fen. Und es spielt eine wich­ti­ge Rol­le, dass die Men­schen wis­sen, dass sie zufalls­aus­ge­wählt sind, dass sie Deutsch­land reprä­sen­tie­ren, dass sie alle aus ihren jewei­li­gen Lebens­um­stän­den her­aus­tre­ten und hin­ein­tre­ten in die­se neu zusam­men­ge­setz­te Gemein­schaft. Und sie tun dies von vorn­her­ein mit einer hohen Koope­ra­ti­ons­be­reit­schaft. Das sind sehr gute Vor­aus­set­zun­gen, die eige­ne Per­spek­ti­ve zu erwei­tern und Eigen­in­ter­es­sen mit den Eigen­in­ter­es­sen ande­rer Men­schen abzu­glei­chen und dar­über zu einem Gemein­wohl­in­ter­es­se zu fin­den. Wenn Kon­flik­te auf­tra­ten, spiel­te die Mode­ra­ti­on auch eine wich­ti­ge Rol­le. Das ist ein wei­te­rer wich­ti­ger Aspekt für Bür­ger­rä­te: dass ein Rah­men gege­ben wird, inner­halb des­sen dis­ku­tiert wird und der auch sicher­stellt, dass die Dis­kus­si­on ziel­füh­rend ist. All das wirkt zusam­men.

Der Bür­ger­rat Kli­ma tag­te von April bis Juni 2021 unter der Schirm­herr­schaft von Bun­des­prä­si­dent a. D. Horst Köh­ler. Das wis­sen­schaft­li­che Kura­to­ri­um zur inhalt­li­chen Bera­tung der Teil­neh­men­den wur­de gelei­tet von Prof. Dr. Ort­win Renn, dem wis­sen­schaft­li­chen Direk­tor am Insti­tut für trans­for­ma­ti­ve Nach­hal­tig­keits­for­schung (IASS). Durch­ge­führt wur­de der Bür­ger­rat von den Betei­li­gungs­in­sti­tu­ten IFOK, Nexus und IPG, sei­ne Finan­zie­rung erfolg­te durch Stif­tungs­för­de­run­gen und Spen­den. Der Huma­nis­ti­sche Ver­band Deutsch­lands gehört zum Unter­stüt­zungs­kreis des Bür­ger­rat Kli­ma.

Bild: Bür­ger­rat Kli­ma

Der erarbeitete Maßnahmenkatalog hat allerdings nur eine beratende Funktion, er ist nicht verbindlich. Die Politik könnte das Ganze einfach ignorieren. Wo können hier also tatsächlich politische Veränderungen angestoßen werden und wo liegen die Grenzen?

Wir haben von Anfang an den Bür­ger­rat Kli­ma als ein Ange­bot an die Poli­tik ver­stan­den, mehr Rück­halt aus der Bevöl­ke­rung für eine ambi­tio­nier­te Kli­ma­po­li­tik zu bekom­men, also die Schwel­le für eine ambi­tio­nier­te Kli­ma­po­li­tik her­ab­zu­set­zen. Ob das Ange­bot ange­nom­men wird, hängt allein von der Bereit­schaft der Poli­tik ab. So wird das übri­gens auch bei zukünf­ti­gen Bür­ger­rä­ten sein, selbst wenn sie vom Bun­des­tag beauf­tragt sind. Für den Bür­ger­rat Kli­ma haben wir vie­le posi­ti­ve Rück­mel­dun­gen aus der Poli­tik erhal­ten und im Koali­ti­ons­ver­trag fin­den sich vie­le Über­ein­stim­mun­gen mit dem Bür­ger­gut­ach­ten. Eine offi­zi­el­le Rück­mel­dung des neu­en Bun­des­ta­ges und der Regie­rung steht aller­dings noch aus. Wich­tig ist natür­lich auch, dass die Gesamt­be­völ­ke­rung den los­ba­sier­ten Bür­ger­rat Kli­ma als posi­ti­ven Bei­trag sieht. Die Ergeb­nis­se einer Umfra­ge dazu sind sehr ermu­ti­gend.

Du sagtest, Bürgerräte seien ein besonders demokratisches Beratungsgremium. Inwiefern?

In Bür­ger­rä­ten rea­li­siert sich das, was wir uns eigent­lich von unse­ren Par­la­men­ten erhof­fen, näm­lich dass die Bevöl­ke­rung auch demo­gra­fisch und lebens­welt­lich reprä­sen­tiert ist, dass die Dis­kus­si­on sach­be­zo­gen ist, dass man ein­an­der ein gro­ßes Ver­trau­en ent­ge­gen­bringt und dass es die­se Gemein­wohl­ori­en­tie­rung gibt. Wenn man in einem Bera­tungs­gre­mi­um jedoch nur Fach­leu­te, Interessenvertreter*innen und Akademiker*innen zusam­men­bringt, kann es pas­sie­ren, dass es sich von der Gesamt­ge­sell­schaft zu sehr ablöst. Das Ver­fah­ren bei Bür­ger­rä­ten stellt von vorn­her­ein sicher, dass das nicht pas­siert; und es ist sehr inklu­siv, weil es einer­seits alle in poli­ti­sche Gestal­tung mit­ein­be­zieht und trotz­dem aner­ken­nen kann, dass es stär­ke­re und schwä­che­re Men­schen geben kann, die sich dann inner­halb die­ses Bür­ger­rats­ver­fah­rens gegen­sei­tig unter­stüt­zen, ein­an­der mit Respekt und auf Augen­hö­he begeg­nen und zu einem gemein­sa­men Ergeb­nis kom­men. Das ist es, was ich dar­an auch als sehr huma­nis­tisch emp­fin­de. Es wird den Men­schen ange­bo­ten und zuge­traut, dass sie über die­se kom­ple­xen Sach­ver­hal­te nach­den­ken kön­nen. Und es wird ihnen dann auch dabei gehol­fen, die­se Auf­ga­be anzu­neh­men und zu erfül­len. Das sehe ich auch im Sin­ne der Auf­klä­rung: dass einer­seits durch die Inputs der Wis­sen­schaft die Fak­ten­la­ge objek­tiv dar­ge­stellt wird und ande­rer­seits durch die unter­schied­li­chen, dar­an betei­lig­ten Men­schen auch die ethi­schen Fra­gen, die Wer­te­fra­gen zur Dis­kus­si­on kom­men. Das heißt, Sach­be­zo­ge­nes, das Sein und, Wer­te­ori­en­tier­tes, das Sol­len, wer­den hier erst gegen­über­ge­stellt, dann zusam­men­ge­bracht, auf­ein­an­der abge­stimmt. Und zwar direkt und nicht ein­ge­schränkt durch zu star­ke Par­tei­in­ter­es­sen oder Par­tei­iden­ti­täts­in­ter­es­sen.

Danke für das Interview!

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