Herr Edmüller, lassen Sie uns zunächst mal versuchen, den Begriff „Cancel Culture“ etwas einzuhegen. Nach meinem Eindruck ist der wahnsinnig schwammig und bezeichnet alles Mögliche: eine berechtigte Kritik an einer Meinungsäußerung, die Absage einer Veranstaltung oder tatsächlich das Extrem eines Empörungs-Shitstorms…
Ja, wir haben hier eine Fülle an Phänomenen, die alle als „Cancel Culture“ etikettiert werden, aber keinen gemeinsamen Kern haben – außer emotionalem Potenzial. Wenn man den Begriff klären möchte, sollte man sich anschauen: Wer macht was und mit welchem Ziel? Dann zeigt sich, warum der Begriff so schwammig ist. Denn es kann sich hier um jede mögliche Konstellation von Menschen handeln, die etwas oder jemanden canceln: staatliche Akteure, nicht-organisierte Gemeinschaften wie die Studierendenschaft einer Uni oder nicht-staatliche Institutionen wie YouTube. Und auch zur Frage „Was wird gemacht?“ ist die Bandbreite der Phänomene, die als „Cancel Culture“ bezeichnet werden, sehr weit: staatliche Berufsverbote, staatliche Zensur, nicht-staatliche soziale Ausgrenzung, der Versuch jemand sozial zu „töten“ oder auch vermeintlich harmlose Erscheinungsformen wie jemanden am Reden zu hindern. Diese Phänomene haben wenig gemein. Und es gibt sie schon immer, seit Menschen mit anderen Menschen zu tun haben.
Cancel Culture ist also kein spezifisches Phänomen unserer Zeit?
Nein, und ich würde mir wünschen, dass die Debatte das stärker berücksichtigt: Man kann ja aus der Geschichte lernen! Nehmen wir Galileo: Die Kirche hat versucht, ihn mundtot zu machen und seine Thesen zu „canceln“. Viele herausragende Philosophen und Wissenschaftler haben unter massiver staatlicher Zensur oder unter Drohungen gearbeitet und gelebt, zum Beispiel Thomas Hobbes. Und Bertrand Russell wurde 1940 auf „gesellschaftlichen Druck“ hin eine Professur in New York verwehrt – er würde die Jugend verderben. Ein paar Jahre danach begann die McCarthy-Ära …
„Cancel Culture“ bekommt aber heute sicher mehr Aufmerksamkeit, nicht zuletzt durch diese zunehmende Empörungs- und Erregungskultur der digitalen Medien… Nehmen wir das Beispiel der Schweizer Reggae-Band, die im vergangenen Sommer ihren Auftritt abbrechen mussten, weil einige Besucher*innen sich an der Kleidung und den Dreadlocks der überwiegend weißen Musiker störten – und ihnen kulturelle Aneignung vorwarfen. Da kann man jetzt verschiedener Meinung sein, aber die Debatte dazu lief ziemlich aus dem Ruder.
Stimmt: viel Lärm um nichts! Das ist ein klassischer Fall von Hysteriekultur. Für mich gibt es da keinerlei „kulturelle Respektlosigkeit“ oder gar Rassismus. Zudem ist es meine freie Entscheidung, welche Kunst, welche Kultur ich rezipiere. Ich muss mir die Musik nicht anhören. Ich muss mir auch die Musiker nicht anschauen. Und wenn ich mal irgendwie irgendwo reingerate, wo es mir überhaupt nicht passt, dann kann ich einfach weggehen. Mir persönlich gefällt eine Fronleichnamsprozession auch nicht – kein Grund, sie zu verbieten.
Andreas Edmüller (*1958) war zunächst Steinmetz und studierte dann Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie in München und Oxford. Er ist Privatdozent an der LMU München, aktiver Atheist und Bergsteiger sowie wissenschaftlicher Beirat des HVD Bayern.
Ist aber dieses „Canceln“ im Kunst- und Kulturbetrieb nicht auch Ausdruck dessen, dass sich infolge des gesellschaftlichen Pluralismus ein gewisser Wertewandel vollzieht? Vor einigen Jahrzehnten war es vielleicht noch in Ordnung, auf der Bühne rassistische oder frauenfeindliche Inhalte zum Besten zu geben – heute hat sich das geändert. Ist das nicht auch positiv zu bewerten?
Gerade in Kunst und Kultur würde ich die Grenzen des im Prinzip Zulässigen sehr weit stecken. Es ist ja gerade ihre Aufgabe, Grenzen auszuloten und sogar manchmal zu überschreiten, um gewisse Aha-Effekte beim Publikum zu erzeugen, um eine gewisse Botschaft zu vermitteln, was ohne diesen Schockeffekt vermutlich nicht gelänge. Die Kunst hat zum Beispiel viel dafür getan, das Thema Homosexualität zu enttabuisieren und vernünftiger Diskussion zugänglich zu machen. Für diese Dynamik ist Kritik natürlich ein unverzichtbares Element – auch unbegründete oder seichte Kritik. Für „canceln“ gilt das gerade nicht: Damit sollen Diskussion und Kritik ja meistens unterbunden werden. Aus ganz banaler marktwirtschaftlicher Perspektive ist es natürlich die Entscheidung eines jeden privaten Veranstalters, wen man bei sich auftreten lässt. Man muss sicher nicht irgendwelche Nazis, Rassisten oder Kommunisten einladen. Aber wenn sich ein Veranstalter dafür entscheidet, dann sollten wir das zähneknirschend tolerieren, solange es sich im juristisch legitimen Raum bewegt. Dann können wir ja das tun, was die Meinungsfreiheit auf der anderen Seite hergibt: Wir können demonstrieren, unser Missfallen kundtun und darauf aufmerksam machen, dass hier fragwürdige und moralisch abscheuliche Thesen vertreten werden. Aber wir sollten nicht mit Gewalt die Veranstaltung blockieren oder verhindern.
Ich denke gerade an #allesdichtmachen, diese Aktion mehrerer Schauspieler*innen gegen die Corona-Maßnahmen. Die Aktion zog einen gewaltigen Shitstorm nach sich und es wurde auch gefordert, die Zusammenarbeit mit den beteiligten Schauspieler*innen zu beenden. Das halte ich hier für völlig überzogen. Auf der anderen Seite gibt es durchaus Beispiele „gecancelter“ Künstler*innen oder Kulturschaffender, die sich schwerer Straftaten schuldig gemacht haben – beispielsweise Harvey Weinstein, Bill Cosby oder R. Kelly.
Das sind gute Beispiele. Es ist natürlich wichtig, ob jemand wie Weinstein sich krimineller Taten schuldig gemacht hat. Wer so etwas macht, hinter dem sollte gefälligst die Staatsanwaltschaft her sein. Das wünschen wir uns ja auch im Fall der kirchlichen Missbrauchsfälle. Zusätzlich gibt es die moralisch legitimen Sanktionen für solche Vergehen, wie sozialen Ausschluss, zum Beispiel in Form von Kontaktvermeidung. Die eigentliche Frage ist: Wann ist eine soziale Sanktion berechtigt und in welcher Intensität ist sie angemessen? Heutzutage gibt es oft das Problem, dass Leute, die sich keines strafrechtlichen Vergehens schuldig gemacht haben, mit einer sozialen Sanktion belegt werden, die weit übers Maß hinausschießt. Irgendjemand hat mal irgendwas Dummes gesagt und erntet einen Shitstorm, muss vielleicht seine Adresse ändern, kann nur mit Sonnenbrille aus dem Haus gehen. Viele Leute denken mittlerweile sogar, sie dürften soziale Sanktionen lostreten, wenn jemand eine völlig respektable wissenschaftliche oder moralische Meinung vertritt, die ihnen und ihren Freunden schlicht nicht passt! So geht das natürlich nicht. Zu #allesdichtmachen: Sollten wir uns wirklich das Recht herausnehmen, die Unterzeichner daran zu hindern, ihren Beruf auszuüben, nur weil die irgendeinen „Quatsch“ unterzeichnet haben? Sowas kennt man eigentlich nur aus einem totalitären oder religiösen Umfeld. Wir sollten gerade als Humanisten mit menschlicher Fehlbarkeit und dem Recht auf Meinungs- und Gedankenfreiheit sehr, sehr sorgfältig umgehen.
Wie sehen Sie den Vorwurf, die „Cancel Culture“ untergrabe die Kunst- und Meinungsfreiheit und sei damit eine Gefahr für unsere Demokratie?
Da ist einiges dran. Man sollte aber mindestens zwei Ebenen trennen, die in der Debatte gern vermischt werden. Die erste Ebene ist der direkte Angriff. Manchmal klappt es, Leute zu canceln, sie mundtot zu machen, ihnen ihre Position wegzunehmen und ihren Ruf zu ruinieren. Da gibt es leider tatsächlich sehr schlimme Fälle. Mittlerweile wird der Versuch des Cancelns aber auch schon mal als Marketinginstrument genutzt – da gehen dann Besuchs- oder Verkaufszahlen eher in die Höhe.
Da sind wir wieder bei der Aufmerksamkeitsökonomie unserer Zeit… Es wird dann viel vom „Canceln“ gesprochen, aber eigentlich passiert oft das Gegenteil.
Richtig. Deshalb müssen wir uns auch die zweite Ebene genau anschauen. Die eigentliche Gefahr, wenn man so eine „Atmosphäre des Cancelns“ zulässt, sind die indirekten Folgen, nämlich Meinungskonformismus und Duckmäusertum. Viele halten dann aus Angst vor einem Shitstorm den Mund und vertreten bestimmte Meinungen nicht mehr, weil das unbequem werden könnte. So entwickelt sich mittel- und langfristig eine Atmosphäre der Selbstzensur. Das führt dazu, dass gewisse Themen nicht mehr in der nötigen Breite und Tiefe diskutiert werden und intellektuelle Redlichkeit den Bach runtergeht. Wir kennen das aus der Geschichte der Religionen im Übermaß und erleben es aktuell zunehmend an deutschen Universitäten, zum Glück lange nicht so bedrückend wie in den USA. Ich plädiere dafür, dass gerade an der Universität der Rahmen für die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit sehr weit sein sollte. Wir brauchen in der Wissenschaft, wie in der Kunst, Nonkonformismus, Kreativität und Mut zum „Andersrumdenken“! Thesen, die ich blöd oder falsch finde, muss und darf ich nicht niederbrüllen oder „canceln“ – ich kann ihnen mit klugen Argumenten entgegentreten und ernsthafte Debatten führen, um sie zu entlarven und zu widerlegen. Wo denn sonst, wenn nicht im akademischen Umfeld? Zur Erinnerung: Es wurde (und wird) auch versucht, Darwin zu „canceln“.
Wie können wir denn wieder auf eine sachliche Ebene zurückkehren? Wie kommen wir raus aus dieser Aufregungsspirale, wo es immer nur noch heftiger, lauter, aggressiver zugeht?
Ich würde Cancel Culture gar nicht als ein eigenständiges Phänomen betrachten. Die eigentliche Frage ist diese: Wie bauen wir diese grundsätzliche gesellschaftliche Irrationalität, in der Cancel Culture neben Phänomenen wie Religion, Esoterik, Homöopathie oder Verschwörungstheorien wurzelt, immer weiter zurück? Wir werden wohl nie in einer offenen Gesellschaft leben, in der Meinungsfreiheit, Redefreiheit und Recht auf freie Lebensgestaltung herrschen, die frei ist von solchen Phänomenen. Es wird immer irgendwelche Leute geben, die Unsinn glauben und andere Leute mundtot machen wollen. Deswegen bietet die offene Gesellschaft Mittel und Wege, die uns davor schützen: Wir haben Rechtsstaat und Strafrecht, Rede‑, Religions- und Pressefreiheit. Wir können uns Verbündete suchen, uns gewerkschaftlich organisieren, uns im HVD zusammentun. Ich glaube, wir sollten ein bisschen mehr Vertrauen in die liberale Grundstruktur unserer politischen Systeme haben – und in uns selbst als Vernunftwesen. Bisweilen schlägt ein System auf die eine Seite zu weit aus. Aber wir haben viele Regler eingebaut, die das dann wieder zurückführen. Ich glaube, wir sind nach wie vor auf dem richtigen Weg, allerdings gerade in einer Zwischenphase, wo es ein bisschen „zu weit nach unten“ geht. Insgesamt bin ich trotzdem optimistisch: Die Aufklärung, und mit ihr der Humanismus, wird gewinnen.