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Philosoph Andreas Edmüller im Interview

Cancel Culture canceln: Zur Notwendigkeit von Nonkonformismus

zerknülltes Papier
Die Freiheit der Kunst ist eines der höchsten Güter unserer Gesellschaft. Doch Kunstschaffende und ihre Werke werden in der heutigen Aufregungsökonomie schnell als „gecancelt“ erklärt – wobei kein Mensch so richtig weiß, was das eigentlich bedeutet. Der Autor und Philosoph Andreas Edmüller sagt, „Cancel Culture“ sei nichts Neues und gehöre zum Menschsein dazu – und doch sollten wir achtgeben und dafür einstehen, dass sich aus Sorge vor Sanktionierungen keine Atmosphäre von Meinungskonformismus und Selbstzensur entwickelt.

Herr Edmüller, lassen Sie uns zunächst mal versuchen, den Begriff „Cancel Culture“ etwas einzuhegen. Nach meinem Eindruck ist der wahnsinnig schwammig und bezeichnet alles Mögliche: eine berechtigte Kritik an einer Meinungsäußerung, die Absage einer Veranstaltung oder tatsächlich das Extrem eines Empörungs-Shitstorms…

Ja, wir haben hier eine Fül­le an Phä­no­me­nen, die alle als „Can­cel Cul­tu­re“ eti­ket­tiert wer­den, aber kei­nen gemein­sa­men Kern haben – außer emo­tio­na­lem Poten­zi­al. Wenn man den Begriff klä­ren möch­te, soll­te man sich anschau­en: Wer macht was und mit wel­chem Ziel? Dann zeigt sich, war­um der Begriff so schwam­mig ist. Denn es kann sich hier um jede mög­li­che Kon­stel­la­ti­on von Men­schen han­deln, die etwas oder jeman­den can­celn: staat­li­che Akteu­re, nicht-orga­ni­sier­te Gemein­schaf­ten wie die Stu­die­ren­den­schaft einer Uni oder nicht-staat­li­che Insti­tu­tio­nen wie You­Tube. Und auch zur Fra­ge „Was wird gemacht?“ ist die Band­brei­te der Phä­no­me­ne, die als „Can­cel Cul­tu­re“ bezeich­net wer­den, sehr weit: staat­li­che Berufs­ver­bo­te, staat­li­che Zen­sur, nicht-staat­li­che sozia­le Aus­gren­zung, der Ver­such jemand sozi­al zu „töten“ oder auch ver­meint­lich harm­lo­se Erschei­nungs­for­men wie jeman­den am Reden zu hin­dern. Die­se Phä­no­me­ne haben wenig gemein. Und es gibt sie schon immer, seit Men­schen mit ande­ren Men­schen zu tun haben.

Cancel Culture ist also kein spezifisches Phänomen unserer Zeit?

Nein, und ich wür­de mir wün­schen, dass die Debat­te das stär­ker berück­sich­tigt: Man kann ja aus der Geschich­te ler­nen! Neh­men wir Gali­leo: Die Kir­che hat ver­sucht, ihn mund­tot zu machen und sei­ne The­sen zu „can­celn“. Vie­le her­aus­ra­gen­de Phi­lo­so­phen und Wis­sen­schaft­ler haben unter mas­si­ver staat­li­cher Zen­sur oder unter Dro­hun­gen gear­bei­tet und gelebt, zum Bei­spiel Tho­mas Hob­bes. Und Bert­rand Rus­sell wur­de 1940 auf „gesell­schaft­li­chen Druck“ hin eine Pro­fes­sur in New York ver­wehrt – er wür­de die Jugend ver­der­ben. Ein paar Jah­re danach begann die McCar­thy-Ära …

„Cancel Culture“ bekommt aber heute sicher mehr Aufmerksamkeit, nicht zuletzt durch diese zunehmende Empörungs- und Erregungskultur der digitalen Medien… Nehmen wir das Beispiel der Schweizer Reggae-Band, die im vergangenen Sommer ihren Auftritt abbrechen mussten, weil einige Besucher*innen sich an der Kleidung und den Dreadlocks der überwiegend weißen Musiker störten – und ihnen kulturelle Aneignung vorwarfen. Da kann man jetzt verschiedener Meinung sein, aber die Debatte dazu lief ziemlich aus dem Ruder.

Stimmt: viel Lärm um nichts! Das ist ein klas­si­scher Fall von Hys­te­rie­kul­tur. Für mich gibt es da kei­ner­lei „kul­tu­rel­le Respekt­lo­sig­keit“ oder gar Ras­sis­mus. Zudem ist es mei­ne freie Ent­schei­dung, wel­che Kunst, wel­che Kul­tur ich rezi­pie­re. Ich muss mir die Musik nicht anhö­ren. Ich muss mir auch die Musi­ker nicht anschau­en. Und wenn ich mal irgend­wie irgend­wo rein­ge­ra­te, wo es mir über­haupt nicht passt, dann kann ich ein­fach weg­ge­hen. Mir per­sön­lich gefällt eine Fron­leich­nams­pro­zes­si­on auch nicht – kein Grund, sie zu ver­bie­ten.

Bild: pri­vat

Andre­as Edmül­ler (*1958) war zunächst Stein­metz und stu­dier­te dann Phi­lo­so­phie, Logik und Wis­sen­schafts­theo­rie in Mün­chen und Oxford. Er ist Pri­vat­do­zent an der LMU Mün­chen, akti­ver Athe­ist und Berg­stei­ger sowie wis­sen­schaft­li­cher Bei­rat des HVD Bay­ern.

Ist aber dieses „Canceln“ im Kunst- und Kulturbetrieb nicht auch Ausdruck dessen, dass sich infolge des gesellschaftlichen Pluralismus ein gewisser Wertewandel vollzieht? Vor einigen Jahrzehnten war es vielleicht noch in Ordnung, auf der Bühne rassistische oder frauenfeindliche Inhalte zum Besten zu geben – heute hat sich das geändert. Ist das nicht auch positiv zu bewerten?

Gera­de in Kunst und Kul­tur wür­de ich die Gren­zen des im Prin­zip Zuläs­si­gen sehr weit ste­cken. Es ist ja gera­de ihre Auf­ga­be, Gren­zen aus­zu­lo­ten und sogar manch­mal zu über­schrei­ten, um gewis­se Aha-Effek­te beim Publi­kum zu erzeu­gen, um eine gewis­se Bot­schaft zu ver­mit­teln, was ohne die­sen Schock­ef­fekt ver­mut­lich nicht gelän­ge. Die Kunst hat zum Bei­spiel viel dafür getan, das The­ma Homo­se­xua­li­tät zu ent­ta­bui­sie­ren und ver­nünf­ti­ger Dis­kus­si­on zugäng­lich zu machen. Für die­se Dyna­mik ist Kri­tik natür­lich ein unver­zicht­ba­res Ele­ment – auch unbe­grün­de­te oder seich­te Kri­tik. Für „can­celn“ gilt das gera­de nicht: Damit sol­len Dis­kus­si­on und Kri­tik ja meis­tens unter­bun­den wer­den.  Aus ganz bana­ler markt­wirt­schaft­li­cher Per­spek­ti­ve ist es natür­lich die Ent­schei­dung eines jeden pri­va­ten Ver­an­stal­ters, wen man bei sich auf­tre­ten lässt. Man muss sicher nicht irgend­wel­che Nazis, Ras­sis­ten oder Kom­mu­nis­ten ein­la­den. Aber wenn sich ein Ver­an­stal­ter dafür ent­schei­det, dann soll­ten wir das zäh­ne­knir­schend tole­rie­ren, solan­ge es sich im juris­tisch legi­ti­men Raum bewegt. Dann kön­nen wir ja das tun, was die Mei­nungs­frei­heit auf der ande­ren Sei­te her­gibt: Wir kön­nen demons­trie­ren, unser Miss­fal­len kund­tun und dar­auf auf­merk­sam machen, dass hier frag­wür­di­ge und mora­lisch abscheu­li­che The­sen ver­tre­ten wer­den. Aber wir soll­ten nicht mit Gewalt die Ver­an­stal­tung blo­ckie­ren oder ver­hin­dern.

Ich denke gerade an #allesdichtmachen, diese Aktion mehrerer Schauspieler*innen gegen die Corona-Maßnahmen. Die Aktion zog einen gewaltigen Shitstorm nach sich und es wurde auch gefordert, die Zusammenarbeit mit den beteiligten Schauspieler*innen zu beenden. Das halte ich hier für völlig überzogen. Auf der anderen Seite gibt es durchaus Beispiele „gecancelter“ Künstler*innen oder Kulturschaffender, die sich schwerer Straftaten schuldig gemacht haben – beispielsweise Harvey Weinstein, Bill Cosby oder R. Kelly.

Das sind gute Bei­spie­le. Es ist natür­lich wich­tig, ob jemand wie Wein­stein sich kri­mi­nel­ler Taten schul­dig gemacht hat. Wer so etwas macht, hin­ter dem soll­te gefäl­ligst die Staats­an­walt­schaft her sein. Das wün­schen wir uns ja auch im Fall der kirch­li­chen Miss­brauchs­fäl­le. Zusätz­lich gibt es die mora­lisch legi­ti­men Sank­tio­nen für sol­che Ver­ge­hen, wie sozia­len Aus­schluss, zum Bei­spiel in Form von Kon­takt­ver­mei­dung. Die eigent­li­che Fra­ge ist: Wann ist eine sozia­le Sank­ti­on berech­tigt und in wel­cher Inten­si­tät ist sie ange­mes­sen? Heut­zu­ta­ge gibt es oft das Pro­blem, dass Leu­te, die sich kei­nes straf­recht­li­chen Ver­ge­hens schul­dig gemacht haben, mit einer sozia­len Sank­ti­on belegt wer­den, die weit übers Maß hin­aus­schießt. Irgend­je­mand hat mal irgend­was Dum­mes gesagt und ern­tet einen Shit­s­torm, muss viel­leicht sei­ne Adres­se ändern, kann nur mit Son­nen­bril­le aus dem Haus gehen. Vie­le Leu­te den­ken mitt­ler­wei­le sogar, sie dürf­ten sozia­le Sank­tio­nen los­tre­ten, wenn jemand eine völ­lig respek­ta­ble wis­sen­schaft­li­che oder mora­li­sche Mei­nung ver­tritt, die ihnen und ihren Freun­den schlicht nicht passt! So geht das natür­lich nicht. Zu #alles­dicht­ma­chen: Soll­ten wir uns wirk­lich das Recht her­aus­neh­men, die Unter­zeich­ner dar­an zu hin­dern, ihren Beruf aus­zu­üben, nur weil die irgend­ei­nen „Quatsch“ unter­zeich­net haben? Sowas kennt man eigent­lich nur aus einem tota­li­tä­ren oder reli­giö­sen Umfeld. Wir soll­ten gera­de als Huma­nis­ten mit mensch­li­cher Fehl­bar­keit und dem Recht auf Mei­nungs- und Gedan­ken­frei­heit sehr, sehr sorg­fäl­tig umge­hen.

Wie sehen Sie den Vorwurf, die „Cancel Culture“ untergrabe die Kunst- und Meinungsfreiheit und sei damit eine Gefahr für unsere Demokratie?

Da ist eini­ges dran. Man soll­te aber min­des­tens zwei Ebe­nen tren­nen, die in der Debat­te gern ver­mischt wer­den. Die ers­te Ebe­ne ist der direk­te Angriff. Manch­mal klappt es, Leu­te zu can­celn, sie mund­tot zu machen, ihnen ihre Posi­ti­on weg­zu­neh­men und ihren Ruf zu rui­nie­ren. Da gibt es lei­der tat­säch­lich sehr schlim­me Fäl­le. Mitt­ler­wei­le wird der Ver­such des Can­celns aber auch schon mal als Mar­ke­ting­in­stru­ment genutzt – da gehen dann Besuchs- oder Ver­kaufs­zah­len eher in die Höhe.

Da sind wir wieder bei der Aufmerksamkeitsökonomie unserer Zeit… Es wird dann viel vom „Canceln“ gesprochen, aber eigentlich passiert oft das Gegenteil.

Rich­tig. Des­halb müs­sen wir uns auch die zwei­te Ebe­ne genau anschau­en. Die eigent­li­che Gefahr, wenn man so eine „Atmo­sphä­re des Can­celns“ zulässt, sind die indi­rek­ten Fol­gen, näm­lich Mei­nungs­kon­for­mis­mus und Duck­mäu­ser­tum. Vie­le hal­ten dann aus Angst vor einem Shit­s­torm den Mund und ver­tre­ten bestimm­te Mei­nun­gen nicht mehr, weil das unbe­quem wer­den könn­te. So ent­wi­ckelt sich mit­tel- und lang­fris­tig eine Atmo­sphä­re der Selbst­zen­sur. Das führt dazu, dass gewis­se The­men nicht mehr in der nöti­gen Brei­te und Tie­fe dis­ku­tiert wer­den und intel­lek­tu­el­le Red­lich­keit den Bach run­ter­geht. Wir ken­nen das aus der Geschich­te der Reli­gio­nen im Über­maß und erle­ben es aktu­ell zuneh­mend an deut­schen Uni­ver­si­tä­ten, zum Glück lan­ge nicht so bedrü­ckend wie in den USA. Ich plä­die­re dafür, dass gera­de an der Uni­ver­si­tät der Rah­men für die Mei­nungs- und Wis­sen­schafts­frei­heit sehr weit sein soll­te. Wir brau­chen in der Wis­sen­schaft, wie in der Kunst, Non­kon­for­mis­mus, Krea­ti­vi­tät und Mut zum „Anders­r­um­den­ken“! The­sen, die ich blöd oder falsch fin­de, muss und darf ich nicht nie­der­brül­len oder „can­celn“ – ich kann ihnen mit klu­gen Argu­men­ten ent­ge­gen­tre­ten und ernst­haf­te Debat­ten füh­ren, um sie zu ent­lar­ven und zu wider­le­gen. Wo denn sonst, wenn nicht im aka­de­mi­schen Umfeld? Zur Erin­ne­rung: Es wur­de (und wird) auch ver­sucht, Dar­win zu „can­celn“.

Wie können wir denn wieder auf eine sachliche Ebene zurückkehren? Wie kommen wir raus aus dieser Aufregungsspirale, wo es immer nur noch heftiger, lauter, aggressiver zugeht?

Ich wür­de Can­cel Cul­tu­re gar nicht als ein eigen­stän­di­ges Phä­no­men betrach­ten. Die eigent­li­che Fra­ge ist die­se: Wie bau­en wir die­se grund­sätz­li­che gesell­schaft­li­che Irra­tio­na­li­tät, in der Can­cel Cul­tu­re neben Phä­no­me­nen wie Reli­gi­on, Eso­te­rik, Homöo­pa­thie oder Ver­schwö­rungs­theo­rien wur­zelt, immer wei­ter zurück? Wir wer­den wohl nie in einer offe­nen Gesell­schaft leben, in der Mei­nungs­frei­heit, Rede­frei­heit und Recht auf freie Lebens­ge­stal­tung herr­schen, die frei ist von sol­chen Phä­no­me­nen. Es wird immer irgend­wel­che Leu­te geben, die Unsinn glau­ben und ande­re Leu­te mund­tot machen wol­len. Des­we­gen bie­tet die offe­ne Gesell­schaft Mit­tel und Wege, die uns davor schüt­zen: Wir haben Rechts­staat und Straf­recht, Rede‑, Reli­gi­ons- und Pres­se­frei­heit. Wir kön­nen uns Ver­bün­de­te suchen, uns gewerk­schaft­lich orga­ni­sie­ren, uns im HVD zusam­men­tun. Ich glau­be, wir soll­ten ein biss­chen mehr Ver­trau­en in die libe­ra­le Grund­struk­tur unse­rer poli­ti­schen Sys­te­me haben – und in uns selbst als Ver­nunft­we­sen. Bis­wei­len schlägt ein Sys­tem auf die eine Sei­te zu weit aus. Aber wir haben vie­le Reg­ler ein­ge­baut, die das dann wie­der zurück­füh­ren. Ich glau­be, wir sind nach wie vor auf dem rich­ti­gen Weg, aller­dings gera­de in einer Zwi­schen­pha­se, wo es ein biss­chen „zu weit nach unten“ geht. Ins­ge­samt bin ich trotz­dem opti­mis­tisch: Die Auf­klä­rung, und mit ihr der Huma­nis­mus, wird gewin­nen.

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