Herr Ruf, Sie haben ein sozialwissenschaftliches Studium absolviert, aber auch einen Master in Film – und machen seit einigen Jahren dokumentarisches Theater. Wie kam das?
Richtig, ich bin aufgewachsen in Unterfranken und das Studium führte mich dann nach Heidelberg, Boston, Berlin, London… In Großbritannien habe ich die Arbeit der Actors for Human Rights kennengelernt. Das ist ein Projekt, das Geschichten durch dokumentarisches Theater erzählt, und ein großes Netzwerk von vielen 100 Schauspieler*innen, Musiker*innen und Sänger*innen umfasst. Diese Theaterstücke werden also von den regionalen Künstler*innen auf die Bühne gebracht, im ganzen Land. Ich habe damals die Asylum Monologues gesehen, und fand es sehr inspirierend, wie mit vergleichsweise geringen theatralen Mitteln bestimmte sensible politische Themen erzählt werden können. Das war für mich die Blaupause, hierzulande ein ähnliches Projekt aufzuziehen, an dieser Schnittstelle von Politik und Kultur.
Angefangen haben Sie mit den Asyl-Monologen, die ebenfalls bundesweit zur Aufführung kamen. Sie haben aber seitdem viele weitere Stücke produziert, alle zu kritischen Themen unserer Zeit.
Ja, meine erste Theaterproduktion waren Geschichten von Geflüchteten, die nach Deutschland gekommen sind. In den folgenden Asyl-Dialogen ging es um Begegnungen zwischen Menschen mit und ohne Fluchterfahrung. Danach habe ich die NSU-Monologe als Autor und Regisseur entwickelt und dafür mit Hinterbliebenen der NSU-Mordserie Interviews geführt. In den Mittelmeer-Monologen geht es zum einen um Menschen, die über das Mittelmeer geflüchtet sind, und zum anderen auch um die Aktivisten und Aktivistinnen, die in der Seenotrettung aktiv sind. In meiner neuen Produktion geht es um Menschen, die bereits jetzt sehr dezidiert vom Klimawandel betroffen sind.
Michael Ruf (*1976) studierte Feature Film am Goldsmiths College London, Critical and Creative Thinking an der University of Massachusetts Boston sowie Erziehungswissenschaften, Soziologie und Psychologie in Heidelberg und Berlin. Er ist Autor, Regisseur und Geschäftsführer der Wort und Herzschlag gUG.
Inwiefern ist die Form des dokumentarischen Theaters geeignet, um solche Themen zu bearbeiten?
Natürlich gibt es viele gewinnbringende Arten und Weisen Theaterstücke zu machen, das dokumentarische Theater ist nur eine von vielen möglichen. Aber diese Geschichten beinhalten schon so viel Drama, so viel Intensität, dass eine Fiktionalisierung oder eine dramaturgische Zuspitzung gar nicht notwendig ist. Und zum anderen gilt es ja, den Leuten die Realität näherzubringen. Es geht mir darum, die Geschichten zu erzählen, die sonst zu kurz kommen, oder die zu wenig erzählt werden. Deshalb wird auch vor jeder Aufführung angekündigt, wie die Stücke entstanden sind. Dadurch rezipieren die Leute diese Stücke auf eine ganz andere Art und Weise, weil sie wissen, jetzt wird mir eine reale Geschichte erzählt. Das verändert komplett die Art und Weise, wie Leute so eine Geschichte hören und verarbeiten – und wie sich das auswirkt auf ihr Denken oder auch im besten Falle auf ihr Handeln.
Wie entstehen die Stücke denn?
Zunächst spreche ich mit relativ vielen Menschen, nehme mir viel Zeit, um Interviewpartner*innen zu suchen. Nachdem ich ihre Geschichten gehört habe, treffe ich eine Entscheidung für eine Auswahl von Personen, die ich dann zweites oder drittes Mal interviewe. Diese Interviews dauern dann mehrere Stunden oder auch ein, zwei Tage. Anschließend verdichte ich diese Interviews und bringe sie in eine dramaturgische Form. Das ist meine dokumentarische Arbeit.
Sie haben ihre aktuelle Produktion schon erwähnt, die Klima-Monologe. Das Thema Klimawandel ist sicher an Brisanz kaum zu überbieten, findet aber medial auch schon sehr stark statt. Welche Stimmen oder Aspekte kommen dabei zu kurz, dass Sie gesagt haben: „Da muss ich ran!“?
Ich wünsche mir, dass mehr darüber gesprochen wird, was der Klimawandel schon heute für viele Menschen im Globalen Süden bedeutet. Das ist total wichtig, um die Dringlichkeit des Themas deutlich zu machen, hier und heute. Und ja, es gibt durchaus hierzulande einen breit verankerten Diskurs zum Thema Klimawandel, aber dabei werden bestimmte Themen vernachlässigt. Ich sehe es als meine Aufgabe, diese zu kurz kommenden Perspektiven deutlich zu machen.
Geben Sie mal ein Beispiel einer solchen zu kurz kommenden Perspektive, wie Sie sie in den Klima-Monologen aufgreifen.
Es gibt durchaus hier und da mal die Meldung, dass es aufgrund des Klimawandels eine Dürre im Norden von Kenia gibt und dies eine Hungersnot zur Folge haben könnte. Das sind eben kurze Meldungen, die man mal hört, aber man versteht nicht das ganze Ausmaß der Katastrophe. Die dortigen Viehhirten, die vorher hundert Tiere hatten, haben jetzt vielleicht noch fünf. Die verbleibenden Tiere können keine Milch mehr geben – und auch sie werden wahrscheinlich in den nächsten Wochen und Monaten wegsterben. Das heißt, es entzieht den Leuten komplett die Lebensgrundlage. Viele Familien hungern, können ihren Kindern nicht genug zu essen geben. Meistens sind die Mütter die Letzten in der Familie, die etwas zu essen nehmen, damit erst die anderen Familienmitglieder essen können. Um das Hungergefühl zu lindern, schnallen sie sich einen Gürtel möglichst fest um den Magen. Die Frau, die ich interviewt habe, hat erzählt, dass sich ihr Körper aufgrund dieses Hungers komplett verändert hat, um 10, 15 Jahre gealtert ist. Wenn ich so eine Geschichte erzähle, wird der Klimawandel auf eine andere Art und Weise greifbar.
Wie haben Sie die Menschen und ihre Geschichten für das Stück gesucht und die Auswahl getroffen?
Das war eine sehr schwierige Auswahl. Und es war auch schlimm zu sehen, dass man in so vielen Ländern so viele konkrete Beispiele finden konnte, wo der Klimawandel schon massive Auswirkungen hat. Natürlich habe ich nach Geschichten gesucht, die gut erzählbar sind. Der Klimawandel ist ein Vorgang, der sich teils sehr schleppend und langwierig ereignet. Er ist dadurch natürlich nicht weniger eklatant, aber da gilt es eben Geschichten zu suchen, die man auch in der der Kürze der Zeit eines Theaterstücks verstehen kann. Da der Klimawandel verschiedene Arten von Umweltveränderungen, Umweltkatastrophen verursacht oder verstärkt, habe ich vier Geschichten gesucht, die die Vielschichtigkeit der Klimawandelfolgen abbilden.
Sie haben vorhin gesagt, dass es ihnen auch darum geht, dass ihre Stücke etwas in den Menschen auslösen – im Denken und Handeln. Gibt es deshalb auch immer Publikumsgespräche im Anschluss an Aufführung Ihrer Theaterstücke?
Genau. Diese Publikumsgespräche sollen einen möglichst niedrigschwelligen Einstieg ermöglichen, dass Leute sich mit dem Thema weiter beschäftigen und im besten Falle eben selbst aktiv werden. Das wird auch bei den Klima-Monologen wieder der Fall sein. Gerade bei diesem Thema ist das ein schmaler Grat: einerseits Dringlichkeit vermitteln, aber eben nicht so, dass die Leute den Kopf in den Sand stecken und denken, es sei nichts mehr zu retten. Es gilt, die Leute zu aktivieren. Die Klimabewegung spielt eine wichtige Rolle, um auf Entscheidungsträger*innen in der Politik Druck auszuüben.
Haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch!
Das bundesweite Netzwerk Wort und Herzschlag besteht aus einigen hundert Schauspieler*innen und Musiker*innen, die die Monolog-Stücke von Michael Ruf auf die Bühne bringen. Die Aufführungen in den verschiedenen Städten tragen somit immer die individuelle Handschrift der jeweiligen regionalen Künstler*innen. Infos zu den bundesweiten Aufführungen sind zu finden unter: www.wort-und-herzschlag.de/#termine