Herr Nida-Rümelin, ich würde gerne mit der Frage der Ursachen des aktuellen Krieges beginnen. Russland hat die Ukraine brutal überfallen und hegt sicherlich imperiale Ambitionen. Ist aber damit die Ursachenfrage ausreichend bedacht oder muss man nicht tiefer gehen?
Wir haben gegenwärtig viele Narrative, die begleitet sind von teilweise massiven Realitätsverlusten. Die Fakten verschwinden hinter Narrativen, und das macht mich besorgt, weil das die Rationalität der politischen Meinungsbildung gefährdet. Zu einem kohärenten Bild gehört, dass dieser Konflikt, ich rede nicht lediglich vom jetzigen Krieg, sondern von einem Konflikt, eine sehr lange Vorgeschichte hat, die zum Teil bis ins 19. Jahrhundert zurückgeht. Nach dem Ende der Sowjetunion und der bipolaren Welt köchelte dieser Konflikt langsam wieder hoch. Und das hat man sehr früh erkennen können. Nur exemplarisch: Brzeziński, das gleichgewichtige demokratische Pendant zum republikanischen Außenpolitikstrategen Kissinger, vertritt 1997 die These, dass der Status der USA als alleinige Supermacht nur beibehalten werden kann, wenn es gelingt, die Ukraine aus dem Einflussgebiet Russlands herauszulösen. Im selben Jahr warnt der heutige Präsident Joe Biden vor gravierenden Konsequenzen einer NATO-Osterweiterung bis an die Grenzen Russlands.
In der Folge kommt es zur NATO-Osterweiterung, einschließlich der baltischen Staaten. Ich halte die Einbeziehung europäischer Staaten, die zuvor im Einflussgebiet der Sowjetunion waren, grundsätzlich für richtig. Ab 2007/2008 kippt jedoch die Stimmung, ab diesem Zeitpunkt herrscht zunehmend Eiszeit in den Beziehungen zwischen USA und Russland. Das hängt auch mit dem Angebot George W. Bushs zusammen, die Ukraine und Georgien in die NATO aufzunehmen, innerhalb der Ukraine damals übrigens hochumstritten. Der Majdan-Prozess wird massiv unterstützt von westlichen Staaten. Die russische Seite scheint mir seit der Präsidentschaft Putin geschwankt zu haben zwischen zwei Optionen: Entweder Kooperation mit dem Westen, gleiche Augenhöhe, Anerkennung als Supermacht und Integrationsbereitschaft oder aber, wenn nicht: Rückfall in den alt-russischen, regionalen Imperialismus. Zwischen diesen Polen bewegt sich nach meinem Eindruck die russische Politik, die Kooperationserwartung wurde enttäuscht und damit fühlt sich Putin zu Unrecht zu einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine legitimiert.
Prof. Dr. Dr. h.c. Julian Nida-Rümelin (*1954) ist emeritierter Lehrstuhlinhaber für Philosophie und politische Theorie an der LMU, war Kulturstaatsminister im ersten Kabinett Schröder, ist stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrates und Gründungsrektor der Humanistischen Hochschule Berlin.
Die triumphalische Siegermentalität des Westens nach 1990 scheint eine gewisse Rolle gespielt zu haben. Der Verweis auf sicherheitspolitische Interessen Russlands ist in Verruf geraten. Gestern (24.4.2023) leitete Lawrow eine Sitzung des UN-Sicherheitsrates und sprach von der Notwendigkeit, das Ganze als geopolitischen Konflikt analysieren zu müssen. Da dachte ich auch an Ihren Text („Perspektiven nach dem Ukrainekrieg“, Anm. d. Red.), in dem Sie ebenfalls schreiben, man müsse das geopolitisch analysieren. Läuft man damit Gefahr, „der russischen Propaganda auf den Leim zu gehen“, wie viele behaupten?
Das ist eine absurde Vorstellung, Tatsachen richten sich nicht nach dem Wunschdenken der einen oder anderen Seite. Es handelt sich zweifellos zum einen um einen regionalen Konflikt, in dem Russland seine Anrainerstaaten mit Dominanzgesten, Interventionen und Annektionen bedroht. Die Anrainerstaaten reagieren mit Unterdrückung der russischen ethnischen Minderheiten in ihrem Land, bis hin zu Sprachverboten. Und dann handelt es sich aber ganz offenkundig auch um einen globalen strategischen Konflikt. Nur das erklärt das massive Engagement der USA in der Region. Und wer da sagt, nur Russland nimmt für sich solche global strategischen Argumente in Anspruch, der lügt. Die USA haben massiv reagiert, als China 2.000 Meilen von Australien entfernt einen Militärstützpunkt mit den Salomonen vereinbart hat. Oder mein Beispiel, das ich auch im Buch bringe: Man stelle sich einmal vor, es gibt in Kanada Konflikte zwischen proamerikanischen und prorussischen Kräften und Russland setzt sich dafür ein, dass die prorussischen Kräfte sich durchsetzen und Kanada einem russisch geführten Militärbündnis beitritt, investiert dazu fünf Milliarden US-Dollar. Wie würden die USA reagieren? Würden die USA sagen, ja klar, das ist das Souveränitätsrecht Kanadas? Glaubt das irgendjemand ernsthaft? Alle Außenpolitikexperten bestätigen, es gilt immer noch die Monroe-Doktrin: keine anderen Mächte auf dem amerikanischen Doppelkontinent. Also: keine double standards. Die USA sind die globale Macht der Welt, militärisch und wirtschaftlich. Nach wie vor. Sie unterhalten über 800 Militärstützpunkte weltweit, Russland ungefähr 20. China rüstet massiv militärisch auf, aber hat nicht wie die USA auf der ganzen Welt Militärstützpunkte. Die großen Drei, USA, China und Russland, agieren global-strategisch, allerdings mit unterschiedlichem Gewicht. Alles andere ist eine Illusion und alle drei sind interessanterweise nicht Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs, das heißt, sie wollen sich einer regelbasierten Außenpolitik nicht wirklich unterwerfen.
SIPRI (Stockholm International Peace Research Institute, Anm. d. Red.) hat ja gestern die neuen Zahlen rausgebracht. 2022 haben die USA über 800 Milliarden US-Dollar für Rüstung ausgegeben, Russland ca. 90 und China ca. 300 Milliarden. Apropos Waffen: Aktuell, wenn man die bundesdeutsche Öffentlichkeit betrachtet, bekommt man ja den Eindruck, es gibt eigentlich keine Alternative zur militärischen Unterstützung der Ukraine. Gab es die und gibt es die auch heute?
Im Vorfeld des Krieges gab es ganz offenkundig eine Alternative, die kann man nachhören und nachlesen. Das waren die Bedingungen, die Russland genannt hat, die sind ja verhandlungsfähig. Und zu diesen Bedingungen gehörte, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt. Es ist falsch zu sagen, das richtet sich lediglich an die Ukraine, weil die NATO nicht gezwungen ist, ein Mitglied aufzunehmen. Da genügt eine einzige Vetostimme, wie man jetzt bei der Türkei und Finnland bzw. Schweden gesehen hat, um das zu verhindern. Also hätte es genügt, wenn auch nur ein einziges NATO-Land, zum Beispiel die USA, erklärt hätte, nein, wir werden die Ukraine nicht aufnehmen. Und vermutlich hätte es dann auch keinen Krieg gegeben. Das rechtfertigt nicht, das ist immer die Konfusion in den Köpfen, einen völkerrechtswidrigen, brutalen Angriffskrieg Russlands. Das entlastet Putin in keiner Weise, es haben schwere Kriegsverbrechen stattgefunden. Aber die Frage war, hätte es Möglichkeiten gegeben, diesen Krieg zu verhindern? Und ich glaube, ja, und es hätte offenkundig die Möglichkeit gegeben, den Krieg relativ rasch nach Kriegsbeginn wieder zu beenden, nämlich Ende März, Anfang April, mit einem Vertragsentwurf, der schon ausgehandelt war zwischen Russland und der Ukraine. Darüber gehen die Narrative auseinander. Russland hatte angeboten, sich auf die Grenzen vor dem 24. Februar zurückzuziehen und die Ukraine, die Nicht-Mitgliedschaft in der NATO gesetzlich und verfassungsrechtlich zu verankern. Wie auch immer. Aber es gab offenkundig Verhandlungsbereitschaft. Es heißt immer, die Ukraine sei nicht verhandlungsbereit. Das stimmt nicht. Kuleba, der Außenminister der Ukraine, hat vor Weihnachten vorgeschlagen, eine internationale Konferenz einzuberufen, um Friedenschancen auszuloten. Das heißt, viele biegen sich die Realitäten so zurecht, wie es ihnen eben gerade passt, und das ist schon besorgniserregend.
Und mit Blick auf die aktuelle Lage? Ich selbst bin pazifistisch sozialisiert, Kriegsdienstverweigerer und habe viele Jahre KDV-Beratung gemacht. Aber aktuell ist für mich völlig klar, ich möchte nicht unter Herrschaft der aktuellen russischen Regierung leben, und da verstehe ich auch jeden Ukrainer, jede Ukrainerin, die das ebenso wenig will. Bedeutet das, dass im Konfliktfall ein Wert wie Freiheit dann doch bedeutender ist als Frieden?
Ich glaube, das gehört zu den Narrativen, die problematisch sind. „Da steht Demokratie gegen Autokratie“. Die Demokratie-Rankings vor dem Krieg sehen Ukraine und Russland nahe beieinander im untersten Feld. Russland ist schlimmer, aber die Ukraine ist auch kein wirklich demokratischer Staat. Massive Korruption, keine Minderheitenrechte und so weiter. Also die europäischen Werte, das ist auch so ein Narrativ, werden dort nicht verteidigt. Die Ukraine hat noch einen sehr weiten Weg vor sich. Integration in die EU, die ich grundsätzlich begrüßen würde, setzt voraus, dass die Ukraine eine echte europäische Demokratie wird und dass sich nicht das wiederholt, was wir in Polen oder Ungarn erlebt haben, nämlich dass die demokratischen Institutionen, kaum sind sie Mitglied in der Europäischen Union, massiv beschädigt werden: Entmachtung des Verfassungsgerichtes, wie in Polen, Verfolgung Andersdenkender wie in Ungarn und anderes.
Ein zweiter Punkt, ein bisschen pragmatischer: Wenn Länder sich nicht verteidigen können und umgeben sind von Ländern, die über militärische Mittel verfügen, dann ist das destabilisierend. Die Vernachlässigung der deutschen Landesverteidigung nach 1990 zugunsten von Interventionen am Hindukusch, um einen früheren Verteidigungsminister, nämlich Herrn Struck, zu zitieren, hielt ich und halte ich für falsch. Ein Fehlschlag auf der ganzen Linie. Afghanistan-Intervention, Irak-Intervention, Syrien-Engagement, Libyen, Diktatorensturz Ägypten und so weiter. Es ist alles schiefgegangen. Landesverteidigung hingegen ist sinnvoll im Sinne von struktureller Nichtangriffsfähigkeit.
Und der dritte, eher philosophische Aspekt Ihrer Frage, Freiheit versus Frieden, na ja, also da schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Wenn Sie mich als Person fragen, ob ich Pazifist bin, muss ich sagen, selbst in den Fällen, in denen ein Angreifer vielleicht noch mit militärischem Widerstand zurückgeschlagen werden kann, aber Hunderttausende von Toten die Folge sind, bin ich persönlich gegen den Krieg. Die Rechtfertigung dafür ist, dass das nie für die Angreifer gut geht. Russland hat 1979 Afghanistan erobert und was ist rausgekommen: der Niedergang der Sowjetunion. Dasselbe passierte dem Westen mit dem Irak und passierte zwanzig Jahre lang in Afghanistan unter westlicher Ägide und dasselbe wäre passiert, wenn jetzt Russland die Ukraine besetzt hätte. Da bin ich ziemlich sicher, dass das nicht gut ausgegangen wäre. Denn die ukrainische Bevölkerung hätte das nicht mitgemacht. Es wäre extrem kostspielig geworden für die russische Seite. Das ist das eine Herz, wenn Sie mich als Person fragen. Als politischer Kopf sage ich, das kann eine verantwortliche Politik nicht zur Richtschnur machen. Diese Haltung kann ich als Ministerpräsident oder Kanzlerin nicht vertreten, weil es wie eine Einladung wirkt. Was wir brauchen, ist Entspannungspolitik plus Verteidigung.
Mir ist aufgefallen, Sie haben im März/April 2022 den ersten „Intellektuellen-Brief“ gegen den Krieg und auch den ersten Schwarzer-Brief noch unterzeichnet, den zweiten aber Ende 2022 nicht mehr. Hat sich in Ihrer Betrachtungsweise auch etwas geändert in dem halben Jahr oder ist es eher Vorsicht, was das Unterzeichnen solcher Briefe angeht?
Man muss aufpassen, dass man nicht in so eine Kaskade von Unterschriften hineingerät. Es gab aber eine massive Medienkampagne gegen das außenpolitische Agieren von Scholz. Dabei hatte er meines Erachtens genau die richtige Linie: Unterstützung der Ukraine, damit es keinen Diktatfrieden Russlands gibt. Unterstützung nur so weit, dass es keinen Durchmarsch Russlands gibt, kein regime change in der Ukraine, dass Russland seine Kriegsziele nicht erreicht, aber eben nicht Aufrüstung in Hinsicht auf Sieg über eine Nuklearmacht, möglicherweise Eskalationsgefahr bis hin zum Einsatz von Atomwaffen und Einbeziehung von NATO-Staaten. Diese Linie wurde als zögerlich und schwach massiv unter Beschuss genommen. Und in diese Phase fiel die Frage an mich, ob ich bereit wäre, einen Aufruf mitzuunterzeichnen. Ich war mit den Formulierungen nicht ganz glücklich, es waren zwei Formulierungen dabei, die ich so nicht unterstützen konnte. Der zweite Brief war ein relativ banaler Aufruf, nämlich zu Waffenstillstand und Friedensverhandlungen. Den habe ich mitunterzeichnet, und der dritte war dann die Vorbereitung der Kundgebung und das war schon sehr stark politisiert. Die Friedensbewegung war nicht wirklich einbezogen, die sich deswegen auch beschwert hat, und die Verbindung mit einer eventuellen Parteigründung fand ich problematisch. Und außerdem muss man auch irgendwann mal wieder aus dieser Kaskade raus. Ich habe inhaltlich eine differenzierte Position eingenommen, die man im Buch „Perspektiven nach dem Ukrainekrieg“ nachlesen kann. Es ist schwierig genug, die in Talkshows zum Beispiel überhaupt zu Gehör zu bringen, weil man permanent unterbrochen wird. Ich gehöre nicht zu denen, die gegen Waffenlieferungen waren. Ich bin für Waffenlieferungen an die Ukraine. Ich bin kein Waffenexperte, ich weiß nicht, welche Waffen, aber ich kenne das Kriterium. Das Kriterium ist in diesem Fall: verhindern, dass es einen Diktatfrieden oder einen Durchmarsch Russlands gibt. Welche Waffen dafür erforderlich sind, kann ich nicht beurteilen. Das müssen andere beurteilen, aber man darf nicht die Ukraine in der Illusion wiegen, sie könnte einen umfassenden Sieg über eine Nuklearmacht erreichen. Das ist die schwierige Gratwanderung. Vielleicht nicht immer rhetorisch, aber in der Praxis hat Scholz sich ziemlich genau auf diesem Grat bewegt.
Mich hat das massiv gestört, dass so sehr auf dieser vermeintlichen Zögerlichkeit rumgeritten wurde, denn man könnte es ja auch Vorsicht nennen oder Behutsamkeit. Ich war auch nicht gegen Waffenlieferungen. Ich sehe auch aktuell keine andere Alternative. Aber die Selbstverständlichkeit, mit der man das fordert, die Alternativlosigkeit, mit der man es hinstellt, die mangelnde Melancholie oder Traurigkeit angesichts der Opfer, der Zerstörung oder auch der immensen Kosten für Waffen: Das ist erschreckend. Stattdessen gefallen sich einige Politiker*innen darin, sich öffentlich mit ihren neuen Waffenkenntnissen zu brüsten. Und es gibt wenig Suche nach Alternativen.
Meine Frau (die deutsch-französische Schriftstellerin Nathalie Weidenfeld, Anm. d. Red.) hat dazu einen sehr anrührenden Artikel in der Süddeutschen Zeitung geschrieben: Was hat sich eigentlich von der Mentalität her geändert, wenn jetzt sogar Intellektuelle in Paris, die immer kritisch und friedlich waren, sich auf einmal begeistern können für Waffen. Dieses neue Narrativ, der Heldenmut. Wir wissen ja gar nicht genau, was alles los ist. Die Soldaten werden gezwungen. Was sagt feministische Außenpolitik dazu? Frauen dürfen raus aus der Ukraine, Männer nicht, Männer müssen zum Militär und sie werden zum großen Teil verheizt. Ob das alles so toll gefunden wird von denen selbst und von ihren Familien, da bin ich mir nicht so sicher. Und auf russischer Seite sind es die Bauernsöhne, nicht die aus den großstädtischen bürgerlichen und Führungsschichten, die eingezogen werden. Die haben ja keine Generalmobilmachung im Gegensatz zur Ukraine und die Familien werden großzügig finanziell entschädigt, wenn die Söhne fallen. Die fallen zu Hunderttausenden, jeden Tag Hunderte oder Tausende von jungen Männern und viele Leute gehen da mit einem Achselzucken drüber hinweg. Es ist doch grausig!
Und wenn sich jetzt abzeichnet, dass es in diesem Krieg im Grunde so zugeht wie im Ersten Weltkrieg, nämlich keine Bewegung mehr nach dem ersten halben Jahr, aber es starben und starben die Menschen. Will man das wirklich? Und jeder, der einen Waffenstillstand fordert, wird kritisiert. Dabei ist Waffenstillstand keine Anerkennung von Eroberung, man kann dann behutsam verhandeln und dies vielleicht auf der Linie, die ich vorher beschrieben habe: Rückzug in die Grenzen vor dem 24. Februar, Autonomiestatus der beiden Ostprovinzen, was schon im Minsker Abkommen drinsteht. Die Krim bleibt bei Russland, es kann ja dazu ein Referendum unter Ägide der Vereinten Nationen abgehalten werden. Ich finde sowieso: Warum nicht mal die Bevölkerung fragen, wir haben das im Saarland auch getan. Es ist alles möglich, aber den jetzt reihenweise fantasierten umfassenden Sieg kann es gegen eine Nuklearmacht nicht geben.
Es ist ja fast eine Kriegsstimmung in Deutschland. Wo Sie den Ersten Weltkrieg angesprochen haben: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“ hieß es damals kaiserlich. Also so ganz kann man sich eines solchen Eindrucks heute auch nicht erwehren.
Und ich fürchte da eine Dynamik. Es ist jetzt schon schrecklich, was dort passiert, und dieses Achselzucken, mit dem wir über die vielen Toten hinweggehen, stört mich sehr. Zugleich wird schon der Taiwankonflikt als großes Thema hochgejazzt, was es nur wahrscheinlicher macht, dass China interveniert. Taiwan hat einen anderen Status als die Ukraine, denn der gesamte Westen akzeptiert die Ein-China-Theorie, dass Taiwan zu China gehört. Es wird nicht als souveräner Staat betrachtet, sonst hätten wir da nämlich eine diplomatische Vertretung. Das haben wir nicht. Und umso mehr jetzt der Westen sagt, das ist jetzt das Pfand unserer globalen Rolle, umso gefährlicher wird es, weil dann China sagt, ja gut, dann ist das genau der Beleg für unseren Supermacht-Status, dass wir das in unserem Sinne lösen. Also ist es unklug, in dieser Weise vorzugehen. Und hochgefährlich.
Mein Eindruck ist, das Verlangen nach Stärke ist ein Problem. Das ist eher eine psychologische Kategorie, aber dennoch, glaube ich, hilfreich auch in der internationalen Politik. Immer will man stark sein, es müssen Stärke und Härte gezeigt werden gegenüber den anderen. Wenn sich das verhärtet, kann man keinen Rückschritt mehr machen und es ergeben sich Entwicklungen, die kaum noch zu stoppen sind. Die anderen werden auch stark sein wollen. Alle werden immer auch wieder was Neues draufsetzen müssen. Anlässlich unseres Buches „Wie geht Frieden?“ (Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Deutschland, Band 6, Anm. D. Red.) haben wir 2017 überlegt, was die Elemente einer humanistischen Friedensethik und Friedenspolitik sind. Was wäre Ihre Antwort?
So wie ich Humanismus verstehe, geht es vor allem um die menschliche Fähigkeit zur Lebensautorschaft, zu einer Praxis, die nicht rücksichtslos, sondern die kooperationsbereit ist, die weiß, dass wir nicht Monaden sind in der Welt, die ihre eigenen Interessen optimieren, sondern eingebettet sind in Strukturen der Kooperation, die wechselseitigen Respekt voraussetzen. Und diese Fähigkeit haben Menschen ganz offensichtlich. Es ist auffällig, dass Gesellschaften, die noch keine Gefängnisse kennen und keine Polizei, ein ziemlich hohes Niveau an interner Friedlichkeit haben. Intern ist von Mord und Totschlag da sehr selten die Rede und das zeigt, dass wir offenbar auch ohne staatliche Sanktionsgewalt in hohem Maße fähig sind, friedlich und kooperativ miteinander umzugehen. Michael Tomasello hat gezeigt, dass Empathie sogar ein Spezifikum unserer Affenart ist. Wenn diese Fähigkeit in der politischen Sphäre verloren geht, entsteht die Dirty-hands-Problematik der Politik. Man könne Politik gar nicht betreiben, wenn man sich nicht von diesen ethischen Bindungen frei mache. Meine Erfahrung ist ganz anders. Wenn man sich davon freimacht, dann gelingt Politik nicht. Also die Imprägnierung der politischen Sphäre durch Werte, humanistische Werte des Respekts, der wechselseitigen Anerkennung, der Kooperationsbereitschaft, ist eigentlich das Zentrum einer demokratischen Ordnung, also politischen Zynismus zu domestizieren und die politische Praxis zu zivilisieren. Und dann bin ich ganz in den Fußstapfen von Immanuel Kant, seiner Schrift von 1795, „Zum ewigen Frieden“: Wenn alle Staaten der Welt in diesem substanziellen Sinn demokratisch verfasst sind, kollektive Selbstbestimmung der Freien und Gleichen, wechselseitige Anerkennung, Respekt, Menschenwürde, dann führen die unter günstigen Bedingungen, die Kant übrigens schon zum Teil ganz treffend beschreibt, keinen Krieg.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Nida-Rümelin.
Publikationen zu den Themen des Gesprächs
- Julian Nida-Rümelin: Perspektiven nach dem Ukrainekrieg (Herder 2022), Humanistische Reflexionen (Suhrkamp 2016).
- Ralf Schöppner (Hrsg.): Wie geht Frieden? Humanistische Friedensethik und humanitäre Praxis (Alibri 2017).