Die Integrität und Unabhängigkeit Deutschlands zu gewährleisten und die Freiheit und Sicherheit unserer Gesellschaft zu schützen, kann Soldat:innen den Einsatz ihrer Gesundheit und ihres Lebens abfordern. Deshalb sollte es auch konfessionsfreien Angehörigen der Bundeswehr sowie ihren Familien offenstehen, Verständnis, Trost und Zuversicht im Rahmen eines humanistischen Beratungs-/Seelsorgeangebots zu suchen und zu finden: ein Angebot im vor-psychologischen Bereich, das Menschen nicht pathologisiert. Doch über existenziell bedeutsame Erfahrungen ins Gespräch zu kommen, erfordert die bedingungslose Annahme des anderen Menschen. Das Wissen, zutiefst persönliche weltanschauliche Überzeugungen nicht zu teilen, hemmt solche Gespräche. Selbst in der größten Zugewandtheit bleibt der andere in diesem Unterschied jemand, der die „Wahrheit“ einer Religion oder Weltanschauung noch nicht erkannt hat. Deshalb fehlen in der Bundeswehr im Wesentlichen humanistische – im Übrigen auch muslimische – Ansprechpartner:innen.
Lebenskundlicher Unterricht in der ethischen Bildung
Die Bundeswehr vertieft die Bindung der Soldat:innen an die Werte und Normen des Grundgesetzes durch verpflichtende ethische Bildung. Wesentlicher Teil davon ist der „Lebenskundliche Unterricht“ mit freiem Austausch über moralische Fragen. Der Unterricht findet außerhalb der militärischen Hierarchie statt – bisher liegt er in der Verantwortung der christlichen Militärseelsorger:innen. Aus Sicht der Teilnehmenden steht dabei die Frage nach der Position der Lehrenden immer im Raum: sowohl in Bezug auf die Weltanschauung als auch in Bezug auf die Diskursmacht oder Deutungshoheit. Humanist:innen würden hier für eine Haltung einstehen, die moralisches Handeln von vornherein aus dem Blick auf andere Menschen ableitet, religiöse Ethiken durchaus integriert, aber menschliche Würde immer aufgeklärt-säkular begründet.
Stärkung der Demokratie
Mit der Abschaffung der Wehrpflicht wurde eine soziale Entflechtung der Bundeswehr von der Zivilgesellschaft befördert und die Nachwuchsgewinnung erschwert. Die Professionalisierung der Soldat:innen verstärkt die Entkoppelung ihres beruflichen Erlebens von der Kultur und Moral der Gesellschaft, der sie dienen sollen. Eine pluralistische Breite der Militärseelsorge, die alle – auch nichtreligiöse – Soldat:innen anspricht, ist eine Brücke zwischen der zivilen und der militärischen Lebenswelt. Der HVD kann den Staat auch an dieser Stelle mit einem friedens‑, rechts- und demokratiefördernden Angebot unterstützen und zur Bildung und Erhaltung eines gemeinsamen humanistischen Wertekanons beitragen. Die gesamtgesellschaftliche Dimension, an deren Gestaltung der HVD dabei mitwirkt, ist das Streben nach einer resilienten Demokratie.
Arbeit in der Parlamentsarmee
Weil die Rolle der Bundeswehr innerhalb unserer Gesellschaft unter Inanspruchnahme christlicher oder humanistischer Werturteile vereinzelt in Frage gestellt wird, möchte ich in einem kurzen Exkurs zwei Voraussetzungen für jede humanistische Arbeit im Militär beschreiben. Erstens: die feste Bindung an unsere Demokratie. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Ihr Auftrag und Handeln wird durch vier Grundgesetzartikel und das Parlamentsbeteiligungsgesetz kontrolliert: Sie wird durch den Verteidigungsausschuss (Art. 45a GG) und die:den Wehrbeauftragte:n (Art 45b GG) beaufsichtigt, die oberste Befehlsgewalt liegt bei der:dem Verteidigungsminister:in (Art. 65a GG) und allein der Bundestag entscheidet über Einsätze außerhalb Deutschlands (Parlamentsbeteiligungsgesetz) sowie über den Zufluss von Geld in die Bundeswehr (Art 87a GG). Zweitens: Analog zur religiösen Seelsorge läge die Dienst- und Fachaufsicht über die humanistische Seelsorge/Beratung beim HVD. Für Humanistische Lebensbegleiter:innen würde gelten, was für alle Militärseelsorger:innen gilt: Sie befolgen keine Befehle von Soldat:innen, sondern sie sind verpflichtet, sich nach den Vorgaben ihrer Weltanschauungsgemeinschaft zu richten.
Internationale Vorbilder
Gute Beispiele für humanistische Militärseelsorge in europäischen Armeen finden sich bereits in Belgien und Norwegen. Eine herausgehobene Stellung nehmen die Niederlande ein: Den insgesamt 40.000 Soldat*innen stehen derzeit 39 humanistische Seelsorger:innen zur Verfügung. Die „Humanistisch Geestelijke Verzorging“ gibt es dort seit 1964. Ihre Mitarbeiter:innen erhalten eine fundierte Ausbildung in Kooperation mit der University of Humanistic Studies in Utrecht. Und die Arbeit mit den Soldat:innen wird regelmäßig wissenschaftlich begleitet.
Der HVD unterhält viele Verbindungen in die Niederlande und kann beim Aufbau eigener Seelsorge-/Beratungsstrukturen von dieser Kooperation profitieren. Insbesondere an der Humanistischen Hochschule Berlin AdöR mit den Studiengängen Soziale Arbeit und Angewandte Ethik bestehen gute Voraussetzungen, um eigene Berater:innen zu qualifizieren.
Chancen
Durch humanistische Beratung können Soldat:innen und ihre Familien Trost, Hoffnung und neue Perspektiven erfahren, wenn sie mit Krisen konfrontiert sind. Sie können ihre Werte und Ziele klären und zu einem tieferen Verständnis ihrer selbst, der menschlichen Natur und der Umwelt kommen. Darüber hinaus werden sie durch den Lebenskundlichen Unterricht darin begleitet, verantwortungsbewusste Entscheidungen zu treffen und ihre Moral zu reflektieren.
Der gesellschaftliche Nutzen liegt in einem wertefördernden Prozess, in dem der Humanismus eine ethische Bindungskraft entfaltet, die den Kirchen gerade verloren geht. Aufklärung und Humanismus sind die glaubwürdigsten Motive unserer offenen demokratischen Kultur – müssen aber gepflegt werden.
Auf verbandlicher Ebene hat sich der HVD ein Selbstverständnis gegeben, das Sinn entfaltet, wenn es gesellschaftliche Wirkung erzielt. Ein Staatsvertrag mit der Bundesrepublik, der den HVD beruft, Menschen in existenziellen Krisen beizustehen, bedeutet Anerkennung der humanistischen Weltanschauung durch den Deutschen Bundestag und öffnet ihr den Weg in die Praxis. Der Auftrag, Lebenskundlichen Unterricht durchzuführen, wäre zudem ein Bekenntnis zur moralischen Selbstbestimmung des Menschen.