Nach dem Hamas-Angriff auf israelische Familien am 7. Oktober 2023 ist jüdische Leben auch in Deutschland wieder stärker gefährdet. Allein in den ersten 33 Tagen nach den Massakern wurden 994 antisemitische Vorfälle vom Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e. V. (RIAS) verzeichnet. „Das sind 29 Vorfälle am Tag und somit ein Anstieg von 320 Prozent zum Vorjahresdurchschnitt“, erklärt eine Sprecherin. Auch das BKA äußert sich: „Mit Stand 08.01.2024 wurden im Kontext des aktuellen Nahost-Konflikts rund 3.000 politisch motivierte Straftaten gemeldet.“ Davon habe man rund 1.300 als antisemitisch eingestuft.
Frau Dr. Königseder, lassen Sie uns über die Ursprünge von Antisemitismus sprechen.
Allen Vorurteilen ist erst einmal ganz allgemein zu eigen, dass ihnen keine logische Argumentation zugrunde liegt. In Bezug auf den Antisemitismus liegt die entscheidende Wurzel aber in der Kollision der Religionen. Dass sich das Christentum aus dem Judentum entwickelt hat und die jüdische Bevölkerung sich weigerte, die neue christliche Religion mit Jesus als dem Messias anzunehmen, ist die Basis aller antijüdischen Vorurteile. Damit verbunden ist der christliche Vorwurf des Gottesmords. Hier wird dem jüdischen Volk für die Kreuzigung des Jesus von Nazareth eine Kollektivschuld zugewiesen. Heute ist das ein wenig in den Hintergrund gerückt. Doch dieses und andere religiös tradierten Vorurteile sind nie ganz verschwunden. Sie sind nur anders verpackt. Man findet insbesondere den Vorwurf des Ritualmords – losgelöst von der christlichen Fundierung – im islamistischen Antisemitismus.
Die Forderung eines vom jüdischen Staat befreiten Palästina spiegelt dieses Motiv der Kollektivschuld und die Forderung nach Vernichtung des jüdischen Volks. Doch ein gängiges Stereotyp ist auch der Jude als „Wucherer“, dem Geldgier nachgesagt wird. Daraus speisen sich bis heute Verschwörungstheorien, in denen Juden für die angeblich geheime Lenkung der Welt verantwortlich gemacht werden.
Das beginnt bereits mit dem sogenannten Judaslohn. Gemeint ist der Judas, der Christus für ein paar Silberlinge verraten hat. Seit dem Mittelalter waren Juden aus nahezu allen handwerklichen und landwirtschaftlichen Berufen ausgeschlossen. Sie durften nicht Mitglied in Zünften und Gilden werden, was die Voraussetzung für die Ausübung dieser Berufe war, und auch keinen Grund erwerben. Gleichzeitig hat die christliche Kirche immer wieder den Christen Geldverleih und Zinsverleih verboten. Deshalb gab es viele jüdische Geldverleiher. Daraus konstruierten Antisemiten dann eine angebliche Affinität von Juden zu Geld. Dieses Vorurteil ist überall verbreitet und eines der Hauptcharakteristika von Antisemitismus.
Ein weiteres Klischee ist das des jüdischen Intellektuellen, das mit „Verschlagenheit” aufgeladen ist. Wie ist das entstanden?
Auch hier ist es so: Man drängt die Juden dadurch, dass man sie ausschließt, erst in einen gewissen Bereich und macht ihnen dies dann zum Vorwurf. Nehmen Sie zum Beispiel den schon in der Weimarer Republik häufig instrumentalisierten Vorwurf, Juden seien im Anwaltsberuf stark überrepräsentiert. Das stimmte, aber nur, weil ihnen die staatlichen Laufbahnen, nämlich die des Richters und Staatsanwalts lange nicht offenstanden. Nur deshalb kam es zu einer starken Repräsentanz von Juden, die in freien Berufen tätig sind.
Gleichzeitig hat Bildung im Judentum einen hohen Stellenwert. Das ist so, weil die Juden über lange Zeit überall in Europa ein nur geduldetes Dasein fristeten. Sie durften sich zwar ansiedeln und auch das nicht immer, aber nur gegen hohe Steuern. Und in Zeiten von Krisen wurden sie regelmäßig wieder vertrieben, weil man sie für diese Krisen verantwortlich gemacht hat. Das Einzige, was man dabei immer mitnehmen kann, ist Bildung.
Zu den derzeitigen Krisen zählt der aktuelle Nahost-Konflikt. Auf Seiten der Palästinenser und bei in Deutschland lebenden Muslimen treten teils extreme antijüdische Haltungen zutage – auch bei Menschen, von denen ich es nie erwartet hätte. Aus welchen Quellen speisen die sich?
Es gibt eine Menge Vorurteile, die aus dem christlichen Antijudaismus und seit dem 19. Jahrhundert im rassistischen Antisemitismus entstanden sind und Eingang in den islamistischen Antisemitismus gefunden haben. Man findet zum Beispiel das Ritualmordmotiv überraschend häufig bei arabischen Karikaturen; denn schon im Mittelalter wurde den Juden fälschlicherweise vorgeworfen, christliche Kinder für ihre jüdischen Rituale zu töten. Dabei hat die jüdische Religion überhaupt keinen Zugang zu diesen ganzen Blutthemen. Dahinter standen oft handfeste materielle Interessen. Solche Anschuldigungen sind in Umlauf gebracht worden, um jüdische Geldverleiher oder Juden, die eine starke wirtschaftlicher Position innehatten, zu diskreditieren und zu vertreiben, damit man seine Schulden loswurde. Sie sind auch entstanden, weil die Mehrheitsgesellschaft einen Sündenbock für die Erklärung von Krisen brauchte. Ähnlich verhält es sich mit dem Vorwurf des Brunnenvergiftens, der zurzeit der Pest aufkam. Wenn man darüber nachdenkt, ist es völlig absurd; denn die Juden mussten ja aus denselben Brunnen ihr Wasser holen.
Konstitutiv für den Antisemitismus ist das Konstrukthafte. Es ist die Vorstellung und sind die Bilder, die sich Antisemiten von angeblichen Jüdinnen und Juden bis heute machen. Mit real lebenden jüdischen Menschen hat dieses Bild nichts zu tun. Charakteristisch für den Antisemitismus ist zudem, dass er in krisenhaften Zeiten auflebt, wenn Erklärungen für komplexe, schwer verständliche Erscheinungen gesucht werden. Wir haben das auch während der Corona-Zeit erlebt. Wir waren durch Covid mit einer undurchsichtigen, beängstigenden Situation konfrontiert. Und auf der Suche nach Erklärung benötigt man einen Sündenbock, ist anfällig für Irrationales und greift auf das lang tradierte antisemitische Ressentiment zurück.
Dass diese Muster und Feindbilder in unser aller Denken so eingefräst sind und ungefragt übernommen werden, egal wie absurd und abstrus sie sind, macht den Kampf gegen Antisemitismus so schwierig.
Was kann man dagegen tun?
Wenn ich das wüsste, hätten wir ein großes Problem weniger. Es ist eben ein Charakteristikum von Vorurteilen, dass die sich so beharrlich in den Köpfen halten. Ich denke, außer Aufklärung und Bildungsarbeit kann man nicht viel tun. Man muss reagieren auf antisemitische Vorurteile und nicht einfach schweigen, wenn die im privaten Kreis oder anderswo geäußert werden, indem man einfach nur fragt: Woher hast du das denn? – Wenn man dem dann nachgeht, wird sich zeigen, dass es keine reale Grundlage für derartige Behauptungen gibt. Antisemitismus ist ein Konstrukt.
Wenn es nun durch Bildungsarbeit gelingt, den konstrukthaften Charakter des Antisemitismus zu verdeutlichen, seine Funktion zu hinterfragen und deutlich zu machen, dass Antisemitismus immer auch ein Angriff auf uns alle, auf unsere Demokratie, unseren Lebensstil, unsere Freiheit ist, dann wäre schon viel gewonnen.