Im Rahmen meiner praktischen Arbeit in der Geflüchtetenhilfe begegnen mir sämtliche Abgründe, die die Menschheit zu bieten hat. Doch die Corona-Pandemie hat einmal mehr offenbart, dass »Krise« nicht gleich »Krise« ist. Als meine pensionierte Nachbarin am Gartenzaun ihres 1.000 Quadratmeter großen Grundstücks im Frühjahr darüber klagte, dass sie wegen des Corona-Lockdowns wochenlang nicht zum Friseur gehen konnte, saß Shirvan (Anm. d. Red.: Name geändert), der Bruder eines Klienten, zur gleichen Zeit wochenlang in den Bergen zwischen Mazedonien und Griechenland fest, innerhalb der Europäischen Union, nur mit ein paar Decken und Schlafsäcken, und versuchte zu überleben. Während ein Bekannter im März Dutzende Rollen Klopapier hortete, konnte Shirvan sich nicht erinnern, wann er zuletzt grundlegende Körperhygiene vornehmen konnte – seine Notdurft musste er ein Stück außerhalb seines Lagers im Wald vergraben. Während deutsche Medien im April ausführlich über den akuten Mangel an Hefe für die Zubereitung von Ostergebäck berichteten, können sich die Menschen im zerbombten Syrien nach fast einem Jahrzehnt Krieg nicht einmal mehr Grundnahrungsmittel leisten.
Meine Nachbarin war inzwischen wieder mehrfach bei ihrem Friseur, mein Bekannter bekommt wieder Klopapier in jedem Supermarkt, auch Hefe ist bei uns wieder problemlos erhältlich. Shirvan versucht noch immer zu überleben, in den Bergen zwischen Mazedonien und Griechenland. Wenn ich höre, wie Menschen darüber klagen, dass sie 2020 wohl nicht den jährlichen Sommerurlaub am Strand verbringen können, dann denke ich an die Tausenden von Menschen, die vor den Urlaubsküsten im Mittelmeer ertrunken sind, weil Europas Flüchtlingspolitik durch Ignoranz und aggressive Push-Back-Aktionen diese Fluchtroute nun noch gefährlicher und tödlicher gemacht hat für die verzweifelten Menschen, die diesen Schritt wagen müssen.
Geschlossene Grenzen bedeuten für uns, dass möglicherweise die Amazon-Prime-Lieferung verzögert wird. Für viele meiner Klient*innen bedeutet dies, dass sie jahrelang ihre Eltern, minderjährigen Kinder oder Geschwister nicht in die Arme schließen können, im Wissen, dass diese unter meist unmenschlichen Bedingungen in einer Krisenregion festsitzen.
Sicher, die Corona-Situation ist für viele Menschen – auch in Deutschland – eine ernsthafte Belastung, finanziell, emotional und natürlich auch gesundheitlich. Das legitimiert uns, unsere Medien und die Politik aber nicht dazu, die Augen vor den unzähligen Krisen zu verschließen, die durch das Corona-Geschehen wie unter einem Brennglas weiter verschärft werden. Und bestehende Notlagen verschwinden ja nicht, nur weil es eine neue Krise gibt, die auch wir zu spüren bekommen. Wir dürfen die Krisen der vermeintlich »Anderen« nicht vergessen. Insbesondere dann, wenn unsere Art zu leben dazu beiträgt, dass diese Krisen überhaupt erst entstehen.
Solidarität wird ausgebremst
Natürlich gibt es Solidarität. Im Rahmen von Demonstrationen, Protestaktionen oder verschiedener Initiativen. Auch hatten diverse Gemeinden und Städte in Deutschland bereits sämtliche Voraussetzungen dafür geschaffen, besonders schutzbedürftige Menschen aus den völlig überfüllten Horrorlagern in Griechenland aufzunehmen. Doch auch wenn dies – gerade wegen der sich immer weiter ausbreitenden Pandemie – nie dringlicher war, wird die Pandemie letztlich vorgeschoben, wegen angeblich höherer Risiken und eines höheren Aufwandes. Die Bundesregierung verhindert hier seit Monaten, was unter Aspekten von Menschenwürde, Menschenrechten und den sogenannten europäischen Werten das Richtige wäre. So wurden im Monat Mai zum Beispiel gerade mal acht Kinder nach Berlin geholt. Noch im Vormonat wurden hingegen – »Corona« zum Trotz – 20.000 schlecht bezahlte Erntehelfer*innen aus Osteuropa dank einer Sonderregelung der Bundesregierung nach Deutschland eingeflogen. 20.000, das entspricht etwa der Zahl der Geflüchteten, die im Lager Moria unter katastrophalen, menschenunwürdigen Bedingungen leben müssen und so gut wie keine medizinische, soziale oder humanitäre Hilfe erfahren.
Es ist menschlich, nur natürlich, dass wir einen Maßstab anlegen, der für uns alltäglich ist. Denn natürlich treffen die Auswirkungen der Corona-Pandemie auch uns, in einem grundsätzlich gut funktionierenden Sozialstaat, hart. Dennoch ist es dringend notwendig, die eigene Blase zu verlassen und den Blick zu weiten, auch für Dinge, die vermeintlich weit entfernt von uns stattfinden, mit denen wir uns womöglich nur ungern konfrontieren wollen.
Damit wir das können, müssen Journalist*innen und Medienvertreter*innen ihrer Verantwortung gerecht werden, solchen Themen ausreichend Raum zu geben und Diskurse mitzugestalten. Hier ist nicht nur der bzw. die Einzelne gefragt, sondern die gesamte Zivilgesellschaft und ganz besonders die politischen Entscheidungsträger*innen. Letztlich geht es hier auch um die Frage: In welcher Welt wollen wir leben? Es ist unsere gesellschaftliche Verantwortung, nicht die Augen vor Krisen zu verschließen, ob sie uns nun direkt oder indirekt betreffen. Und zwar ganz besonders dann nicht, wenn eine Krise die globalen Ungerechtigkeiten um ein Vielfaches intensiviert.