An diesem Freitag im Juli dachte sie: Wenn der jetzt noch kommt, bin ich fort.
An diesem Freitag im Juli arbeitete er an zwei Zeilen den ganzen Tag. Das Brot ist saurer verdient, als einer sich vorstellen kann, dachte er.
Sie dachte: Dann soll er zusehen.
Er dachte: Und heut wird’s nicht mehr besser.
Sie: Vielleicht ist die Schallplatte schon da.
Er: Bei den Ungarn soll es den Lukács geben.
Sie nahm Handtasche und Jacke und ging hinaus auf die Straße.
Er griff sein Jackett und die Zigaretten.
Sie überquerte die Brücke.
Er ging die Friedrichstraße hinauf.
Und sie, weil der Bus noch nicht in Sicht war, auf einen Sprung nur ins Antiquariat.
Er passierte die Französische Straße.
Sie kaufte ein Buch. Und der Preis für das Buch war 12 Mark.
Und als der Bus hielt, stieg er ein.
Das Geld hatte sie passend.
Und als der Bus eben die Türen schloss, kam sie aus dem Laden.
Und als sie den Bus noch warten sah, begann sie zu laufen.
Und der Busfahrer öffnete für sie, ausnahmsweise, noch einmal die hintere Tür.
Und sie stieg ein.
Auf Höhe des Operncafés verfinsterte sich der Himmel, beim Kronprinzenpalais brach das Gewitter los, ein Regenschauer wehte die Passagiere an, als der Bus am Marx-Engels-Platz hielt und die Türen auftat. Etliche Menschen drängten herein, um sich ins Trockne zu retten. Und so wurde sie, die zunächst dem Eingang stand, zur Mitte geschoben.
Die Türen schlossen sich wieder, der Bus fuhr an, sie suchte nach einem Haltegriff.
Und da sah sie ihn.
Und er sah sie.
Draußen ging eine wahre Sintflut hernieder, drinnen dampfte es von den feuchten Kleidern der Zugestiegenen.
Nun hielt der Bus am Alex. Die Haltestelle aber war unter der S‑Bahn-Brücke.
Nach dem Aussteigen blieb sie unter der Brücke stehen, um auf das Ende des Regens zu warten.
Und auch alle anderen, die ausgestiegen waren, blieben unter der Brücke stehen, um auf das Ende des Regens zu warten.
Und auch er war ausgestiegen und blieb stehen.
Und da sah sie ihn ein zweites Mal an.
Und er sah sie an.
Und weil sich durch den Regen die Luft abgekühlt hatte, zog sie nun ihre Jacke über.
Sie sah ihn lächeln, und lächelte auch.
Aber dann verstand sie, dass sie ihre Jacke über den Riemen ihrer Handtasche gezogen hatte. Da schämte sie sich vor seinem Lächeln. Sie ordnete alles richtig an und wartete weiter.
Dann hörte der Regen auf.
Bevor sie unter der Brücke hervortrat und losging, sah sie ihn ein drittes Mal an.
Er erwiderte ihren Blick und setzte sich in die gleiche Richtung wie sie in Bewegung.
Nach wenigen Schritten blieb sie mit ihrem Absatz im Pflaster stecken, da verlangsamte auch er seinen Schritt. Es
gelang ihr, den Schuh schnell herauszuziehen und weiterzugehen. Und er nahm das Tempo, in dem sie ging, sogleich wieder auf.
Nun lächelten beide im Gehen, den Blick zu Boden gerichtet.
So gingen sie – treppab, durch den langen Tunnel, dann wieder aufwärts, auf die andere Seite der Straße.
Das Ungarische Kulturzentrum schloss um 18 Uhr, und es war fünf Minuten über die Zeit.
Sie wendete sich zu ihm und sagte: Es ist schon geschlossen.
Und er antwortete ihr: Trinken wir einen Kaffee?
Und sie sagte: Ja.
Das war alles. Alles war so gekommen, wie es hatte kommen müssen.
An diesem 11. Juli im Jahr 86.
Wie wurde er das junge Ding nun wieder los? Was, wenn ihn jemand hier mit dem Mädchen sah? Wie alt mochte sie sein? Ich trink den Kaffee schwarz, denkt sie, und ohne Zucker, dann nimmt er mich ernst. Konversation machen und dann schnell wieder weg, denkt er. Wie heißt sie? Katharina. Und er? Hans. Zehn Sätze später weiß er, dass er sie schon einmal gesehen hat. Bei einer Maidemonstration vor vielen Jahren war sie das schreiende Kind an der Hand ihrer Mutter gewesen. Erika Ambach, die Mutter. Sie erzählt etwas von »Zopf abgeschnitten« und nippt an ihrem schwarzen Kaffee. Ihre Mutter hatte damals als Doktorandin in demselben Akademiegebäude gearbeitet, in dem auch das erste Forschungslabor seiner Frau untergebracht war. Sie sind verheiratet? Jaja. Er erinnert sich tatsächlich an sie, das heißt an die kurzgeschorene Göre, die erst aufhörte mit dem Schreien, als die Mutter sie sich oben auf die Schultern setzte. Der Wechsel der Perspektive hatte den Kummer des Kindes gestillt. Den Trick hatte er sich gemerkt und ihn später auch bei seinem eigenen Sohn angewandt. Sie haben einen Sohn? Ja. Wie heißt er denn? Ludwig. Der Ludewig, der Ludewig, das ist ein arger Wüterich, sagt sie und hofft, dass er lacht. Er lacht und sagt: Meine Lieblingsstelle ist die: Er schrie: Wer hat mich da verbrannt? / Und hielt den Löffel in der Hand. Zur Illustration hebt er seinen Kaffeelöffel an. Nur zehn Jahre zurück, da saß die Mutter also bei ihr noch auf der Bettkante und las ihr aus dem »Struwwelpeter« vor, bis sie in Schlaf fiel, er legt den Löffel wieder ab und nimmt sich eine Zigarette. Rauchen Sie? Nein. An den abgeschnittenen Zopf erinnert sie sich, auch an die Demonstration und an ihre Scham, so entstellt unter Leute zu gehen. Aber sie hat vergessen, dass die Mutter sie damals zum Trost auf die Schultern hob und an der Tribüne vorbeitrug. Seltsam, denkt sie, da hat in diesem fremden Kopf all die Jahre ein kleines Stück aus meinem Leben gesteckt. Und jetzt gibt er es mir wieder. Sind ihre Augen blau oder grün? Ich muss bald gehen, sagt er. Sieht sie ihm an, dass er lügt, dass heute weder Frau noch Sohn auf ihn warten? Der Sohn ist vierzehn, sie muss dann wohl achtzehn oder neunzehn sein. Denn schon 70 hat seine Frau das Institut gewechselt und ist im Jahr drauf schwanger geworden. Neunzehn, sagt sie und versenkt nun doch ein Stück Würfelzucker im schwarzen Kaffee. Aber die Haare sind nachgewachsen inzwischen. Ja, gottseidank. Aussehen tut sie wie sechzehneinhalb. Höchstens. Dann studieren Sie schon? Ich lerne Setzer, bin im Staatsverlag, will dann Gebrauchsgrafik studieren in Halle. Kunst machen also. Naja, wenn ich die Eignungsprüfung bestehe. Und Sie? Ich schreibe. Romane? Ja. Richtige Bücher, die es im Buchladen gibt? Aber ja, sagt er und denkt, dass sie ihn jetzt gleich nach seinem Nachnamen fragen wird. Hans wie?, fragt sie nun auch, und er sagt ihr den Namen, sie nickt, aber kennt ihn offenbar nicht. Das wird nichts für Sie sein, was ich schreibe. Woher wollen Sie das wissen, sagt sie, und greift nun doch nach der Sahne. Als sein erstes Buch erschien, war sie gerade geboren. Laufen gelernt hat er unter Hitler. Warum sollte ein Mädchen wie sie ein Buch lesen, in dem es um Sterben und Tod geht? Sie denkt, dass er ihr das Lesen nicht zutraut. Und er denkt, dass er Angst davor hat, in diesen jungen Augen ein alter Mann zu sein. Und was macht Ihre Mutter inzwischen? Die arbeitet im Naturkundemuseum. Und Ihr Vater? Der ist seit fünf Jahren Professor in Leipzig. Wofür? Kulturgeschichte. So. Es fallen noch einige Namen, der Freundeskreis ihrer Eltern, ihr Freundeskreis und die Eltern dazu. Er kennt all die alten Geschichten, jeder hat mit jeder mal was gehabt, erst waren sie jung, dann haben sie überkreuz Kinder gezeugt, haben geheiratet und sich wieder getrennt, waren verliebt, verfeindet, befreundet, haben intrigiert oder sich rausgehalten. Immer dieselben Leute auf Feten, in Kneipen, bei Ausstellungseröffnungen oder Theaterpremieren. In so einem kleinen Land, aus dem man nicht ohne weiteres wegkam, lief alles zwangsläufig auf Inzucht hinaus. Mit der Tochter von dieser Ambach sitzt er jetzt also da im Café. Die Sonne blinkt von den verspiegelten Fenstern des Palasthotels herüber. Das sieht aus wie in New York, sagt er. Waren Sie schon mal da? Ja, für meine Arbeit. Ich fahre im August vielleicht nach Köln, sagt sie, wenn es genehmigt wird. Westverwandtschaft? Meine Großmutter wird siebzig. Köln ist ein scheußliches Nest, sagt er. Immerhin steht da der Kölner Dom, sagt sie, und der ist sicher nicht scheußlich. Was ist der Kölner Dom, verglichen mit einer Kremlkirche in Moskau? Ich war noch nie in Moskau. Irgendwann sind die Tassen leer und auch das kleine Wodkaglas, das vor Hans steht, er sieht sich um nach dem Kellner. Aber nun hat das Mädchen ihr Gesicht auf die Hände gestützt und schaut ihn wieder an. Schaut so klar aus ihrem Gesicht heraus. Lauter. Ein Wort, das aus der Mode gekommen ist. Die Absicht ist edel, und lauter und rein. »Zauberflöte«, I. Akt. Ihre Arme sehen so glatt aus. Ob sie am ganzen Körper so ist?
Jetzt muss er zusehen, dass die Rechnung schnell kommt.
Am Ausgang vermeidet er, ihr die Hand zu geben, und sagt nur: Man sieht sich.
Die drei Schritte bis hinaus auf die Straße gehen sie noch zusammen, dann nickt er ihr zu, dreht sich um und geht los. Sie geht auch los, in die andere Richtung, aber nur bis zur Ampel. Da bleibt sie stehen. Seinen Nachnamen weiß sie. Die Adresse bringt sie sicher leicht in Erfahrung. Einen Brief in den Briefkasten oder vor seinem Haus auf ihn warten. Die Straßenbahn klingelt, Autos fahren durch Pfützen, die Fußgängerampel wird grün, wird wieder rot. Bis in die Fingerspitzen hinein tut dieses Gefühl ihr weh. Sie steht immer noch da, die Fußgängerampel wird grün, wird wieder rot. Sie hört das Schmatzen der Autoreifen auf dem nassen Asphalt. Ohne ihn will sie nirgends mehr hingehen. Man sieht sich, hat er gesagt. Man sieht sich. Hat ihr nicht einmal die Hand gegeben. Hat sie sich so geirrt? Aber da sagt er plötzlich in ihren Rücken hinein: Oder wollen wir den Abend vielleicht doch zusammen verbringen? Frau und Sohn seien für eine Nacht auf dem Land bei einer Freundin.
Vom Alex fährt man mit der U‑Bahn bis Pankow, von dort mit der Straßenbahn noch drei Stationen, dann schräg über den Platz, unter dem Baum mit den abgeschnittenen Zweigen hindurch. Der hat eine seltsame Frisur, dieser Baum, sagt er, sie lächelt, aber weil sie die ganze Zeit über schon lächelt, sieht man den Unterschied nicht, dann ins Haus und hinauf in den vierten Stock.
Kairos steht für den entscheidenden günstigen Augenblick, den richtigen Moment. In unverwechselbarer Sprache erzählt die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck von Euphorie und Enttäuschung vor dem Hintergrund der untergehenden DDR.
Erschienen bei Penguin, München, 2021
384 Seiten, € 22,-, ISBN 978–328-60085–5