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Uwe-Johnson-Preis 2022: „Kairos” von Jenny Erpenbeck

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Schriftstellerin Jenny Erpenbeck
Schriftstellerin Jenny Erpenbeck

Beitragsbild: Katharina Behling

Für ihren Roman „Kairos“ erhielt die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck 2022 den Uwe-Johnson-Preis, der vom HVD Berlin-Brandenburg mitvergeben wird. Gedächtnis und Erinnerung sind die zentralen Achsen ihres vielgestaltigen Werkes, heißt es in der Begründung der Jury. Wir veröffentlichen mit freundlicher Genehmigung des Penguin Verlages einen Auszug aus dem ersten Kapitel des Romans: Nach dem Tod ihrer großen Liebe Hans erinnert sich die Protagonistin Katharina an das erste Zusammentreffen im Ostberlin der Achtzigerjahre.

An die­sem Frei­tag im Juli dach­te sie: Wenn der jetzt noch kommt, bin ich fort.
An die­sem Frei­tag im Juli arbei­te­te er an zwei Zei­len den gan­zen Tag. Das Brot ist sau­rer ver­dient, als einer sich vor­stel­len kann, dach­te er.
Sie dach­te: Dann soll er zuse­hen.
Er dach­te: Und heut wird’s nicht mehr bes­ser.
Sie: Viel­leicht ist die Schall­plat­te schon da.
Er: Bei den Ungarn soll es den Lukács geben.
Sie nahm Hand­ta­sche und Jacke und ging hin­aus auf die Stra­ße.
Er griff sein Jackett und die Ziga­ret­ten.
Sie über­quer­te die Brü­cke.
Er ging die Fried­rich­stra­ße hin­auf.
Und sie, weil der Bus noch nicht in Sicht war, auf einen Sprung nur ins Anti­qua­ri­at.
Er pas­sier­te die Fran­zö­si­sche Stra­ße.
Sie kauf­te ein Buch. Und der Preis für das Buch war 12 Mark.
Und als der Bus hielt, stieg er ein.
Das Geld hat­te sie pas­send.
Und als der Bus eben die Türen schloss, kam sie aus dem Laden.
Und als sie den Bus noch war­ten sah, begann sie zu lau­fen.
Und der Bus­fah­rer öff­ne­te für sie, aus­nahms­wei­se, noch ein­mal die hin­te­re Tür.
Und sie stieg ein.

Auf Höhe des Opern­ca­fés ver­fins­ter­te sich der Him­mel, beim Kron­prin­zen­pa­lais brach das Gewit­ter los, ein Regen­schau­er weh­te die Pas­sa­gie­re an, als der Bus am Marx-Engels-Platz hielt und die Türen auf­tat. Etli­che Men­schen dräng­ten her­ein, um sich ins Trock­ne zu ret­ten. Und so wur­de sie, die zunächst dem Ein­gang stand, zur Mit­te gescho­ben.
Die Türen schlos­sen sich wie­der, der Bus fuhr an, sie such­te nach einem Hal­te­griff.
Und da sah sie ihn.
Und er sah sie.
Drau­ßen ging eine wah­re Sint­flut her­nie­der, drin­nen dampf­te es von den feuch­ten Klei­dern der Zuge­stie­ge­nen.
Nun hielt der Bus am Alex. Die Hal­te­stel­le aber war unter der S‑Bahn-Brü­cke.

Nach dem Aus­stei­gen blieb sie unter der Brü­cke ste­hen, um auf das Ende des Regens zu war­ten.
Und auch alle ande­ren, die aus­ge­stie­gen waren, blie­ben unter der Brü­cke ste­hen, um auf das Ende des Regens zu war­ten.
Und auch er war aus­ge­stie­gen und blieb ste­hen.
Und da sah sie ihn ein zwei­tes Mal an.
Und er sah sie an.
Und weil sich durch den Regen die Luft abge­kühlt hat­te, zog sie nun ihre Jacke über.
Sie sah ihn lächeln, und lächel­te auch.
Aber dann ver­stand sie, dass sie ihre Jacke über den Rie­men ihrer Hand­ta­sche gezo­gen hat­te. Da schäm­te sie sich vor sei­nem Lächeln. Sie ord­ne­te alles rich­tig an und war­te­te wei­ter.
Dann hör­te der Regen auf.
Bevor sie unter der Brü­cke her­vor­trat und los­ging, sah sie ihn ein drit­tes Mal an.
Er erwi­der­te ihren Blick und setz­te sich in die glei­che Rich­tung wie sie in Bewe­gung.
Nach weni­gen Schrit­ten blieb sie mit ihrem Absatz im Pflas­ter ste­cken, da ver­lang­sam­te auch er sei­nen Schritt. Es
gelang ihr, den Schuh schnell her­aus­zu­zie­hen und wei­ter­zu­ge­hen. Und er nahm das Tem­po, in dem sie ging, sogleich wie­der auf.
Nun lächel­ten bei­de im Gehen, den Blick zu Boden gerich­tet.
So gin­gen sie – trepp­ab, durch den lan­gen Tun­nel, dann wie­der auf­wärts, auf die ande­re Sei­te der Stra­ße.

Das Unga­ri­sche Kul­tur­zen­trum schloss um 18 Uhr, und es war fünf Minu­ten über die Zeit.
Sie wen­de­te sich zu ihm und sag­te: Es ist schon geschlos­sen.
Und er ant­wor­te­te ihr: Trin­ken wir einen Kaf­fee?
Und sie sag­te: Ja.
Das war alles. Alles war so gekom­men, wie es hat­te kom­men müs­sen.
An die­sem 11. Juli im Jahr 86.

Wie wur­de er das jun­ge Ding nun wie­der los? Was, wenn ihn jemand hier mit dem Mäd­chen sah? Wie alt moch­te sie sein? Ich trink den Kaf­fee schwarz, denkt sie, und ohne Zucker, dann nimmt er mich ernst. Kon­ver­sa­ti­on machen und dann schnell wie­der weg, denkt er. Wie heißt sie? Katha­ri­na. Und er? Hans. Zehn Sät­ze spä­ter weiß er, dass er sie schon ein­mal gese­hen hat. Bei einer Mai­de­mons­tra­ti­on vor vie­len Jah­ren war sie das schrei­en­de Kind an der Hand ihrer Mut­ter gewe­sen. Eri­ka Ambach, die Mut­ter. Sie erzählt etwas von »Zopf abge­schnit­ten« und nippt an ihrem schwar­zen Kaf­fee. Ihre Mut­ter hat­te damals als Dok­to­ran­din in dem­sel­ben Aka­de­mie­ge­bäu­de gear­bei­tet, in dem auch das ers­te For­schungs­la­bor sei­ner Frau unter­ge­bracht war. Sie sind ver­hei­ra­tet? Jaja. Er erin­nert sich tat­säch­lich an sie, das heißt an die kurz­ge­scho­re­ne Göre, die erst auf­hör­te mit dem Schrei­en, als die Mut­ter sie sich oben auf die Schul­tern setz­te. Der Wech­sel der Per­spek­ti­ve hat­te den Kum­mer des Kin­des gestillt. Den Trick hat­te er sich gemerkt und ihn spä­ter auch bei sei­nem eige­nen Sohn ange­wandt. Sie haben einen Sohn? Ja. Wie heißt er denn? Lud­wig. Der Lude­wig, der Lude­wig, das ist ein arger Wüte­rich, sagt sie und hofft, dass er lacht. Er lacht und sagt: Mei­ne Lieb­lings­stel­le ist die: Er schrie: Wer hat mich da ver­brannt? / Und hielt den Löf­fel in der Hand. Zur Illus­tra­ti­on hebt er sei­nen Kaf­fee­löf­fel an. Nur zehn Jah­re zurück, da saß die Mut­ter also bei ihr noch auf der Bett­kan­te und las ihr aus dem »Struw­wel­pe­ter« vor, bis sie in Schlaf fiel, er legt den Löf­fel wie­der ab und nimmt sich eine Ziga­ret­te. Rau­chen Sie? Nein. An den abge­schnit­te­nen Zopf erin­nert sie sich, auch an die Demons­tra­ti­on und an ihre Scham, so ent­stellt unter Leu­te zu gehen. Aber sie hat ver­ges­sen, dass die Mut­ter sie damals zum Trost auf die Schul­tern hob und an der Tri­bü­ne vor­bei­trug. Selt­sam, denkt sie, da hat in die­sem frem­den Kopf all die Jah­re ein klei­nes Stück aus mei­nem Leben gesteckt. Und jetzt gibt er es mir wie­der. Sind ihre Augen blau oder grün? Ich muss bald gehen, sagt er. Sieht sie ihm an, dass er lügt, dass heu­te weder Frau noch Sohn auf ihn war­ten? Der Sohn ist vier­zehn, sie muss dann wohl acht­zehn oder neun­zehn sein. Denn schon 70 hat sei­ne Frau das Insti­tut gewech­selt und ist im Jahr drauf schwan­ger gewor­den. Neun­zehn, sagt sie und ver­senkt nun doch ein Stück Wür­fel­zu­cker im schwar­zen Kaf­fee. Aber die Haa­re sind nach­ge­wach­sen inzwi­schen. Ja, gott­sei­dank. Aus­se­hen tut sie wie sech­zehn­ein­halb. Höchs­tens. Dann stu­die­ren Sie schon? Ich ler­ne Set­zer, bin im Staats­ver­lag, will dann Gebrauchs­gra­fik stu­die­ren in Hal­le. Kunst machen also. Naja, wenn ich die Eig­nungs­prü­fung bestehe. Und Sie? Ich schrei­be. Roma­ne? Ja. Rich­ti­ge Bücher, die es im Buch­la­den gibt? Aber ja, sagt er und denkt, dass sie ihn jetzt gleich nach sei­nem Nach­na­men fra­gen wird. Hans wie?, fragt sie nun auch, und er sagt ihr den Namen, sie nickt, aber kennt ihn offen­bar nicht. Das wird nichts für Sie sein, was ich schrei­be. Woher wol­len Sie das wis­sen, sagt sie, und greift nun doch nach der Sah­ne. Als sein ers­tes Buch erschien, war sie gera­de gebo­ren. Lau­fen gelernt hat er unter Hit­ler. War­um soll­te ein Mäd­chen wie sie ein Buch lesen, in dem es um Ster­ben und Tod geht? Sie denkt, dass er ihr das Lesen nicht zutraut. Und er denkt, dass er Angst davor hat, in die­sen jun­gen Augen ein alter Mann zu sein. Und was macht Ihre Mut­ter inzwi­schen? Die arbei­tet im Natur­kun­de­mu­se­um. Und Ihr Vater? Der ist seit fünf Jah­ren Pro­fes­sor in Leip­zig. Wofür? Kul­tur­ge­schich­te. So. Es fal­len noch eini­ge Namen, der Freun­des­kreis ihrer Eltern, ihr Freun­des­kreis und die Eltern dazu. Er kennt all die alten Geschich­ten, jeder hat mit jeder mal was gehabt, erst waren sie jung, dann haben sie über­kreuz Kin­der gezeugt, haben gehei­ra­tet und sich wie­der getrennt, waren ver­liebt, ver­fein­det, befreun­det, haben intri­giert oder sich raus­ge­hal­ten. Immer die­sel­ben Leu­te auf Feten, in Knei­pen, bei Aus­stel­lungs­er­öff­nun­gen oder Thea­ter­pre­mie­ren. In so einem klei­nen Land, aus dem man nicht ohne wei­te­res weg­kam, lief alles zwangs­läu­fig auf Inzucht hin­aus. Mit der Toch­ter von die­ser Ambach sitzt er jetzt also da im Café. Die Son­ne blinkt von den ver­spie­gel­ten Fens­tern des Palast­ho­tels her­über. Das sieht aus wie in New York, sagt er. Waren Sie schon mal da? Ja, für mei­ne Arbeit. Ich fah­re im August viel­leicht nach Köln, sagt sie, wenn es geneh­migt wird. West­ver­wandt­schaft? Mei­ne Groß­mutter wird sieb­zig. Köln ist ein scheuß­li­ches Nest, sagt er. Immer­hin steht da der Köl­ner Dom, sagt sie, und der ist sicher nicht scheuß­lich. Was ist der Köl­ner Dom, ver­gli­chen mit einer Kreml­kir­che in Mos­kau? Ich war noch nie in Mos­kau. Irgend­wann sind die Tas­sen leer und auch das klei­ne Wod­ka­glas, das vor Hans steht, er sieht sich um nach dem Kell­ner. Aber nun hat das Mäd­chen ihr Gesicht auf die Hän­de gestützt und schaut ihn wie­der an. Schaut so klar aus ihrem Gesicht her­aus. Lau­ter. Ein Wort, das aus der Mode gekom­men ist. Die Absicht ist edel, und lau­ter und rein. »Zau­ber­flö­te«, I. Akt. Ihre Arme sehen so glatt aus. Ob sie am gan­zen Kör­per so ist?

Jetzt muss er zuse­hen, dass die Rech­nung schnell kommt.
Am Aus­gang ver­mei­det er, ihr die Hand zu geben, und sagt nur: Man sieht sich.

Die drei Schrit­te bis hin­aus auf die Stra­ße gehen sie noch zusam­men, dann nickt er ihr zu, dreht sich um und geht los. Sie geht auch los, in die ande­re Rich­tung, aber nur bis zur Ampel. Da bleibt sie ste­hen. Sei­nen Nach­na­men weiß sie. Die Adres­se bringt sie sicher leicht in Erfah­rung. Einen Brief in den Brief­kas­ten oder vor sei­nem Haus auf ihn war­ten. Die Stra­ßen­bahn klin­gelt, Autos fah­ren durch Pfüt­zen, die Fuß­gän­ger­am­pel wird grün, wird wie­der rot. Bis in die Fin­ger­spit­zen hin­ein tut die­ses Gefühl ihr weh. Sie steht immer noch da, die Fuß­gän­ger­am­pel wird grün, wird wie­der rot. Sie hört das Schmat­zen der Auto­rei­fen auf dem nas­sen Asphalt. Ohne ihn will sie nir­gends mehr hin­ge­hen. Man sieht sich, hat er gesagt. Man sieht sich. Hat ihr nicht ein­mal die Hand gege­ben. Hat sie sich so geirrt? Aber da sagt er plötz­lich in ihren Rücken hin­ein: Oder wol­len wir den Abend viel­leicht doch zusam­men ver­brin­gen? Frau und Sohn sei­en für eine Nacht auf dem Land bei einer Freun­din.

Vom Alex fährt man mit der U‑Bahn bis Pan­kow, von dort mit der Stra­ßen­bahn noch drei Sta­tio­nen, dann schräg über den Platz, unter dem Baum mit den abge­schnit­te­nen Zwei­gen hin­durch. Der hat eine selt­sa­me Fri­sur, die­ser Baum, sagt er, sie lächelt, aber weil sie die gan­ze Zeit über schon lächelt, sieht man den Unter­schied nicht, dann ins Haus und hin­auf in den vier­ten Stock.

Bild: Pen­gu­in Ver­lag

Kai­ros steht für den ent­schei­den­den güns­ti­gen Augen­blick, den rich­ti­gen Moment. In unver­wech­sel­ba­rer Spra­che erzählt die Schrift­stel­le­rin Jen­ny Erpen­beck von Eupho­rie und Ent­täu­schung vor dem Hin­ter­grund der unter­ge­hen­den DDR.

Erschie­nen bei Pen­gu­in, Mün­chen, 2021
384 Sei­ten, € 22,-, ISBN 978–328-60085–5

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