Humanistische Vorbilder

Die Oldenburger Humanistin Käthe Nebel

Käthe Nebel, Deutscher Humanistentag Hamburg 2019.
Käthe Nebel, Deutscher Humanistentag Hamburg 2019.

Beitragsbild: Evelin Frerk

Wenn Humanist*innen an Vorbilder im Sinne der Entwicklung humanistischer Ideen denken, dann fallen ihnen Sokrates oder Epikur ein, aus der Zeit der Aufklärung Immanuel Kant („Sapere aude!“), die schottischen Moralphilosophen Locke, Hobbes und Hume und natürlich Charles Darwin, der die (göttliche) Sonderstellung des Menschen endgültig zu Fall brachte. Doch eigentlich ist die Praxis, der gelebte Humanismus, viel interessanter. Und dafür muss man nicht auf bekannte Vorbilder zurückgreifen. Unfehlbare Leitfiguren oder gar Heilige kennt der Humanismus ohnehin nicht. Viel wichtiger sind die Menschen, die uns im Alltag begegnen, die das Leben annehmen, Fehler machen, diese eingestehen und an ihren Erfahrungen wachsen. Dazu ist kein Studium der Philosophie oder der humanistischen Ideengeschichte nötig. Ein solches humanistisches Vorbild ist Käthe Nebel.

Käthe ist ein lang­jäh­ri­ges Mit­glied des HVD Nie­der­sach­sen, Orts­grup­pe Olden­burg, und nimmt dort regel­mä­ßig an Gesprächs­krei­sen und ande­ren Ver­an­stal­tun­gen teil. Ihre inzwi­schen 88 Jah­re Lebens­er­fah­rung bringt sie ger­ne in die Dis­kus­sio­nen und Gesprä­che ein. Sie ist wiss­be­gie­rig, was Ansich­ten, Hal­tun­gen und Emp­fin­dun­gen ande­rer betrifft, offen gegen­über neu­en Ideen, Erfah­run­gen und Erkennt­nis­sen. Ihr macht die Begeg­nung mit Men­schen Freu­de. Sie scheut sich nicht, ihre eige­ne Mei­nung kund­zu­tun, zu begrün­den und der Kri­tik durch ande­re aus­zu­set­zen. Dazu passt auch, dass ihre mei­nungs­star­ken Leser­brie­fe in Olden­burg legen­där sind. Sie setzt sich jedoch nicht nur inner­halb ver­meint­lich gleich­ge­sinn­ter Krei­se mit ande­ren Ideen und Hal­tun­gen aus­ein­an­der. Käthe orga­ni­sier­te kri­ti­sche Lese­krei­se, in denen bereits die Bibel, der Koran und Hit­lers „Mein Kampf“ gele­sen wur­den. Sie sucht den Aus­tausch mit Men­schen ande­rer Kul­tu­ren und Reli­gio­nen, mit denen sie zum Teil freund­schaft­lich ver­bun­den ist.

Sol­che Beschrei­bun­gen kön­nen aller­dings nicht viel mehr sein als ein „Schnapp­schuss“ eines Men­schen; sie erzäh­len wenig über ihn. Zu einem Vor­bild wird ein Mensch gera­de dann, wenn man eini­ge Sta­tio­nen auf sei­nem Lebens­weg betrach­tet, mit allen Brü­chen und Wider­sprü­chen.

Käthe wur­de seit ihrem vier­ten Lebens­jahr allein von ihrer Mut­ter, einer Köchin, in der Mark Bran­den­burg auf­ge­zo­gen. Gern erzählt sie, dass sie etwa in die­sem Alter einen „Got­tes­be­weis“ erleb­te, der sie eine Zeit lang sehr präg­te. Damals ent­deck­te sie ein Radies­chen in Nach­bars Gar­ten, dach­te sich nichts dabei, nahm es und wusch es sau­ber. Als ihre Mut­ter das bemerk­te, nahm sie Käthe zur Sei­te, und sag­te ihr, dass dies Dieb­stahl und damit ver­bo­ten sei: Gott sähe das alles und sei nun böse auf sie. Im glei­chen Moment blitz­te und don­ner­te es. Die Mut­ter nutz­te die Gunst des Augen­blicks und sag­te: „Siehst du, Käthe, das ist Gott, der ist nun sehr wütend!“ Als Käthe aber in der vier­ten Klas­se der Volks­schu­le von der Wis­sen­schaft der Astro­no­mie erfuhr, mit den Ster­nen und Pla­ne­ten am Him­mel, und von Gewit­ter­blit­zen als elek­tri­sche Ent­la­dun­gen, da erkann­te sie, dass das Reden von Gott und den Enge­lein nicht stim­men kön­ne.

Aller­dings nahm sie ande­re Ideen von ihrer Mut­ter und aus der Schu­le umso unkri­ti­scher an: Juden und damals so bezeich­ne­te „sla­wi­sche Unter­men­schen“ sei­en den „Ari­ern“ – der „Ras­se“, der sie anzu­ge­hö­ren glaub­te – unter­le­gen und weni­ger wert. Sie glaub­te wie ihre Mut­ter, dass sie im Osten neu­en Lebens­raum und wirt­schaft­li­chen Erfolg fin­den wür­den. Ihre Mut­ter nahm sie noch im Novem­ber 1944 mit nach Osten über die Oder, um dort „gutes Geld“ zu ver­die­nen und eine Zukunft auf­zu­bau­en. Doch es kam anders. Zu Käthes gro­ßer Über­ra­schung waren die „sla­wi­schen Unter­men­schen“ sieg­reich, die Front kam näher und über­roll­te sie gera­de­zu. Sie wur­de unter Todes­angst und ‑gewiss­heit Zeu­gin, wie die Män­ner im Dorf erschos­sen wur­den, die Frau­en ver­ge­wal­tigt und aus­ge­raubt. Ihr Welt­bild geriet ins Wan­ken.

Nach ihrer Ver­trei­bung im Herbst 1945 in Olden­burg ange­kom­men, las sie in der Nord­west­zei­tung den Fort­set­zungs­be­richt „Das Lager von Treb­linka“. Sie fiel nach ihren eige­nen Wor­ten „vom Olymp“ und war vom Glau­ben an die Nazi­ideo­lo­gie „geheilt“. Sie hat­te gelernt, wie schlecht Men­schen sein kön­nen – auch sie selbst.

Lehrerin, Mutter, Umweltaktivistin

Als jun­ge Frau lern­te und arbei­te­te sie zunächst in Olden­burg und ging dann als Volks­schul­leh­re­rin ins Umland, nach Ahl­horn, wo sie mit ihrer Mut­ter wohn­te. Als allein­ste­hen­de Frau adop­tier­te sie damals ein Baby. Des­sen Mut­ter hat­te es bereits vor der Geburt zur Adop­ti­on frei­ge­ge­ben – und da es von einem „afri­ka­ni­schen“ Vater stamm­te, woll­te es sonst nie­mand haben. Als es sich am Ende als nicht schwarz her­aus­stell­te, wie alle erwar­tet hat­ten, küm­mer­te sie das nicht wei­ter.

In Ahl­horn sah sie Anfang der 1970er Jah­re die Umwelt von den Abga­sen einer Erd­gas­auf­be­rei­tungs­an­la­ge beein­träch­tigt und woll­te etwas dage­gen unter­neh­men. Sie grün­de­te einen Ver­ein, bil­de­te sich fort, damit sie die che­mi­schen Pro­zes­se bes­ser ver­ste­hen konn­te, um bei den Anhö­run­gen gute Sach­ar­gu­men­te vor­brin­gen zu kön­nen. Sie muss­te gegen gro­ße Wider­stän­de und per­sön­li­che Angrif­fe kämp­fen, doch am Ende sorg­ten sie und ihre Vereinskamerad*innen schließ­lich dafür, dass die­ser Betrieb durch den Ein­satz einer Ent­schwe­fe­lungs­an­la­ge zu einem welt­wei­ten Vor­bild wur­de, der sogar Inge­nieu­re und Poli­ti­ker aus Japan in die Olden­bur­ger Pro­vinz rei­sen ließ. In den 80er und 90er Jah­ren setz­te sie sich dann eben­so beherzt in der Anti­atom­kraft­be­we­gung ein, ein­schließ­lich durch Blo­ckie­rung von Bahn­schie­nen, was mehr­fach zu Ver­haf­tun­gen führ­te. Vom Rich­ter nach ihrer Moti­va­ti­on gefragt, erwi­der­te sie, dass sie sich in der Nazi­zeit für dumm hat­te ver­kau­fen las­sen, damals alles gut­hieß und mit­mach­te. Nun sei sie aber auf­ge­wacht, wol­le genau hin­schau­en, auf ihr Gewis­sen hören und sich ein­mi­schen.

In ihrer Tätig­keit als Volks­schul­leh­re­rin bemerk­te sie schon in den 1960er Jah­ren, dass eini­ge ihrer Schüler*innen kei­ne ange­mes­se­ne Klei­dung oder Schul­zeug hat­ten. Sie orga­ni­sier­te, dass man ihnen etwas schenk­te – denn Über­fluss an guter, gebrauch­ter Klei­dung und ande­ren Din­gen gab es eben auch. Dar­aus ent­wi­ckel­te sich dann der „Tag des offe­nen Kel­lers“, an dem Käthe die von ihr gesam­mel­ten Din­ge an alle ver­schenk­te, die sie benö­ti­gen konn­ten. Als sie nach dem Tod ihrer Mut­ter, die sie bis zuletzt pfleg­te und beim Ster­ben beglei­te­te, als Rent­ne­rin schließ­lich wie­der nach Olden­burg zog, eil­te ihr der Ruf als Ver­schen­ke-Orga­ni­sa­to­rin vor­aus. Sie sam­mel­te auch dort und ver­schenk­te alles aus ihrem Fahr­rad­an­hän­ger her­aus – zunächst auf Floh­märk­ten, spä­ter dann als Ver­eins­grün­de­rin des ver­mut­lich ers­ten Ver­schenk­mark­tes im Rah­men der „Agen­da 21“.

Wie­der ein­mal hat­te sich aus prak­ti­schem, beherz­tem Tun etwas Vor­bild­li­ches ent­wi­ckelt, das die Auf­merk­sam­keit von Pres­se und Fern­se­hen erweck­te. Für die­ses Enga­ge­ment wur­de ihr spä­ter, im Jahr 2008, das Bun­des­ver­dienst­kreuz ver­lie­hen.

Ende der 1990er Jah­re wur­de Käthe auf ein Fort­bil­dungs­an­ge­bot der evan­ge­li­schen Kir­che in Olden­burg auf­merk­sam, wel­ches sich mit der Beglei­tung von Ster­ben­den beschäf­tig­te. Da sie ihre Mut­ter gepflegt und beglei­tet hat­te, woll­te sie nun ler­nen, wie es „rich­tig geht“. Es war eine gute und lehr­rei­che Erfah­rung. Am Ende wur­de auch sie als Absol­ven­tin des Kur­ses gefragt, ob sie sich vor­stel­len kön­ne, im ambu­lan­ten Hos­piz­dienst ehren­amt­lich tätig zu sein. Sie tat es ger­ne und mit Freu­de. Die Tat­sa­che, dass sie als beken­nen­de Athe­is­tin nicht mit den Men­schen beten könn­te, stör­te nie­man­den.

Eini­ge Jah­re spä­ter berich­te­te sie in einem öffent­li­chen Vor­trag der Olden­bur­ger Huma­nis­ten von ihrer Erfah­rung, wie sie ihre Freun­din Eva in die Schweiz zur Ster­be­hil­fe­or­ga­ni­sa­ti­on Digni­tas nach Zürich beglei­te­te, wo die­se dann ihr Leben been­de­te. Der Vor­trag stieß auf ein gro­ßes öffent­li­ches Inter­es­se, sorg­te aber auch dafür, dass sie nicht wei­ter ehren­amt­lich für den Hos­piz­dienst arbei­ten durf­te. Für Käthe war die Beglei­tung ihrer Freun­din jedoch kein Wider­spruch zu ihrem ehren­amt­li­chen Ein­satz, son­dern nur eine kon­se­quen­te Beglei­tung eines Men­schen, der von sei­nem Selbst­be­stim­mungs­recht Gebrauch mach­te.

Heu­te setzt sie sich vehe­ment für die Abschaf­fung des Para­gra­phen 217 ein, der die soge­nann­te geschäfts­mä­ßi­ge Ster­be­hil­fe unter Stra­fe stellt und damit Hil­fe und Bera­tung lei­den­der Men­schen am Lebens­en­de erschwert. Für Käthe Nebel ist dies ein unzu­mut­ba­rer und grund­ge­setz­wid­ri­ger Ein­griff in das Selbst­be­stim­mungs­recht der Men­schen. Sie will selbst ent­schei­den dür­fen, wann sie geht.

Doch noch ist es nicht so weit. Trotz erheb­li­cher Ein­schrän­kung ihres Seh­ver­mö­gens und dem Ange­wie­sen­sein auf die Hil­fe ande­rer ver­sprüht sie Lebens­freu­de. Die bewuss­te Art, wie sie ihr Leben führt und zu schät­zen weiß, inspi­riert wei­ter alle, die mit ihr dis­ku­tie­ren, stau­nen und lachen.

Die ursprüng­li­che Ver­si­on die­ses Tex­tes von Lutz Ren­ken wur­de im „Loc­cu­mer Peli­kan“ ver­öf­fent­licht, der Zeit­schrift des Reli­gi­ons­päd­ago­gi­schen Insti­tuts (RPI) der evan­ge­li­schen Lan­des­kir­che Han­no­vers. Die Aus­ga­be 3/2019 behan­delt den Schwer­punkt „Bio­gra­fien ent­de­cken – Vor­bil­dern begeg­nen“. Um auch eine aus­drück­lich nicht­re­li­giö­se Per­spek­ti­ve dar­zu­stel­len, wur­de der Huma­nis­ti­sche Ver­band Nie­der­sach­sen um einen eige­nen Text­bei­trag gebe­ten. Für dies­seits wur­de die­ser Text gering­fü­gig gekürzt und ange­passt. Wir bedan­ken uns für die Mög­lich­keit der Ver­öf­fent­li­chung.

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