Käthe ist ein langjähriges Mitglied des HVD Niedersachsen, Ortsgruppe Oldenburg, und nimmt dort regelmäßig an Gesprächskreisen und anderen Veranstaltungen teil. Ihre inzwischen 88 Jahre Lebenserfahrung bringt sie gerne in die Diskussionen und Gespräche ein. Sie ist wissbegierig, was Ansichten, Haltungen und Empfindungen anderer betrifft, offen gegenüber neuen Ideen, Erfahrungen und Erkenntnissen. Ihr macht die Begegnung mit Menschen Freude. Sie scheut sich nicht, ihre eigene Meinung kundzutun, zu begründen und der Kritik durch andere auszusetzen. Dazu passt auch, dass ihre meinungsstarken Leserbriefe in Oldenburg legendär sind. Sie setzt sich jedoch nicht nur innerhalb vermeintlich gleichgesinnter Kreise mit anderen Ideen und Haltungen auseinander. Käthe organisierte kritische Lesekreise, in denen bereits die Bibel, der Koran und Hitlers „Mein Kampf“ gelesen wurden. Sie sucht den Austausch mit Menschen anderer Kulturen und Religionen, mit denen sie zum Teil freundschaftlich verbunden ist.
Solche Beschreibungen können allerdings nicht viel mehr sein als ein „Schnappschuss“ eines Menschen; sie erzählen wenig über ihn. Zu einem Vorbild wird ein Mensch gerade dann, wenn man einige Stationen auf seinem Lebensweg betrachtet, mit allen Brüchen und Widersprüchen.
Käthe wurde seit ihrem vierten Lebensjahr allein von ihrer Mutter, einer Köchin, in der Mark Brandenburg aufgezogen. Gern erzählt sie, dass sie etwa in diesem Alter einen „Gottesbeweis“ erlebte, der sie eine Zeit lang sehr prägte. Damals entdeckte sie ein Radieschen in Nachbars Garten, dachte sich nichts dabei, nahm es und wusch es sauber. Als ihre Mutter das bemerkte, nahm sie Käthe zur Seite, und sagte ihr, dass dies Diebstahl und damit verboten sei: Gott sähe das alles und sei nun böse auf sie. Im gleichen Moment blitzte und donnerte es. Die Mutter nutzte die Gunst des Augenblicks und sagte: „Siehst du, Käthe, das ist Gott, der ist nun sehr wütend!“ Als Käthe aber in der vierten Klasse der Volksschule von der Wissenschaft der Astronomie erfuhr, mit den Sternen und Planeten am Himmel, und von Gewitterblitzen als elektrische Entladungen, da erkannte sie, dass das Reden von Gott und den Engelein nicht stimmen könne.
Allerdings nahm sie andere Ideen von ihrer Mutter und aus der Schule umso unkritischer an: Juden und damals so bezeichnete „slawische Untermenschen“ seien den „Ariern“ – der „Rasse“, der sie anzugehören glaubte – unterlegen und weniger wert. Sie glaubte wie ihre Mutter, dass sie im Osten neuen Lebensraum und wirtschaftlichen Erfolg finden würden. Ihre Mutter nahm sie noch im November 1944 mit nach Osten über die Oder, um dort „gutes Geld“ zu verdienen und eine Zukunft aufzubauen. Doch es kam anders. Zu Käthes großer Überraschung waren die „slawischen Untermenschen“ siegreich, die Front kam näher und überrollte sie geradezu. Sie wurde unter Todesangst und ‑gewissheit Zeugin, wie die Männer im Dorf erschossen wurden, die Frauen vergewaltigt und ausgeraubt. Ihr Weltbild geriet ins Wanken.
Nach ihrer Vertreibung im Herbst 1945 in Oldenburg angekommen, las sie in der Nordwestzeitung den Fortsetzungsbericht „Das Lager von Treblinka“. Sie fiel nach ihren eigenen Worten „vom Olymp“ und war vom Glauben an die Naziideologie „geheilt“. Sie hatte gelernt, wie schlecht Menschen sein können – auch sie selbst.
Lehrerin, Mutter, Umweltaktivistin
Als junge Frau lernte und arbeitete sie zunächst in Oldenburg und ging dann als Volksschullehrerin ins Umland, nach Ahlhorn, wo sie mit ihrer Mutter wohnte. Als alleinstehende Frau adoptierte sie damals ein Baby. Dessen Mutter hatte es bereits vor der Geburt zur Adoption freigegeben – und da es von einem „afrikanischen“ Vater stammte, wollte es sonst niemand haben. Als es sich am Ende als nicht schwarz herausstellte, wie alle erwartet hatten, kümmerte sie das nicht weiter.
In Ahlhorn sah sie Anfang der 1970er Jahre die Umwelt von den Abgasen einer Erdgasaufbereitungsanlage beeinträchtigt und wollte etwas dagegen unternehmen. Sie gründete einen Verein, bildete sich fort, damit sie die chemischen Prozesse besser verstehen konnte, um bei den Anhörungen gute Sachargumente vorbringen zu können. Sie musste gegen große Widerstände und persönliche Angriffe kämpfen, doch am Ende sorgten sie und ihre Vereinskamerad*innen schließlich dafür, dass dieser Betrieb durch den Einsatz einer Entschwefelungsanlage zu einem weltweiten Vorbild wurde, der sogar Ingenieure und Politiker aus Japan in die Oldenburger Provinz reisen ließ. In den 80er und 90er Jahren setzte sie sich dann ebenso beherzt in der Antiatomkraftbewegung ein, einschließlich durch Blockierung von Bahnschienen, was mehrfach zu Verhaftungen führte. Vom Richter nach ihrer Motivation gefragt, erwiderte sie, dass sie sich in der Nazizeit für dumm hatte verkaufen lassen, damals alles guthieß und mitmachte. Nun sei sie aber aufgewacht, wolle genau hinschauen, auf ihr Gewissen hören und sich einmischen.
In ihrer Tätigkeit als Volksschullehrerin bemerkte sie schon in den 1960er Jahren, dass einige ihrer Schüler*innen keine angemessene Kleidung oder Schulzeug hatten. Sie organisierte, dass man ihnen etwas schenkte – denn Überfluss an guter, gebrauchter Kleidung und anderen Dingen gab es eben auch. Daraus entwickelte sich dann der „Tag des offenen Kellers“, an dem Käthe die von ihr gesammelten Dinge an alle verschenkte, die sie benötigen konnten. Als sie nach dem Tod ihrer Mutter, die sie bis zuletzt pflegte und beim Sterben begleitete, als Rentnerin schließlich wieder nach Oldenburg zog, eilte ihr der Ruf als Verschenke-Organisatorin voraus. Sie sammelte auch dort und verschenkte alles aus ihrem Fahrradanhänger heraus – zunächst auf Flohmärkten, später dann als Vereinsgründerin des vermutlich ersten Verschenkmarktes im Rahmen der „Agenda 21“.
Wieder einmal hatte sich aus praktischem, beherztem Tun etwas Vorbildliches entwickelt, das die Aufmerksamkeit von Presse und Fernsehen erweckte. Für dieses Engagement wurde ihr später, im Jahr 2008, das Bundesverdienstkreuz verliehen.
Ende der 1990er Jahre wurde Käthe auf ein Fortbildungsangebot der evangelischen Kirche in Oldenburg aufmerksam, welches sich mit der Begleitung von Sterbenden beschäftigte. Da sie ihre Mutter gepflegt und begleitet hatte, wollte sie nun lernen, wie es „richtig geht“. Es war eine gute und lehrreiche Erfahrung. Am Ende wurde auch sie als Absolventin des Kurses gefragt, ob sie sich vorstellen könne, im ambulanten Hospizdienst ehrenamtlich tätig zu sein. Sie tat es gerne und mit Freude. Die Tatsache, dass sie als bekennende Atheistin nicht mit den Menschen beten könnte, störte niemanden.
Einige Jahre später berichtete sie in einem öffentlichen Vortrag der Oldenburger Humanisten von ihrer Erfahrung, wie sie ihre Freundin Eva in die Schweiz zur Sterbehilfeorganisation Dignitas nach Zürich begleitete, wo diese dann ihr Leben beendete. Der Vortrag stieß auf ein großes öffentliches Interesse, sorgte aber auch dafür, dass sie nicht weiter ehrenamtlich für den Hospizdienst arbeiten durfte. Für Käthe war die Begleitung ihrer Freundin jedoch kein Widerspruch zu ihrem ehrenamtlichen Einsatz, sondern nur eine konsequente Begleitung eines Menschen, der von seinem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch machte.
Heute setzt sie sich vehement für die Abschaffung des Paragraphen 217 ein, der die sogenannte geschäftsmäßige Sterbehilfe unter Strafe stellt und damit Hilfe und Beratung leidender Menschen am Lebensende erschwert. Für Käthe Nebel ist dies ein unzumutbarer und grundgesetzwidriger Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Menschen. Sie will selbst entscheiden dürfen, wann sie geht.
Doch noch ist es nicht so weit. Trotz erheblicher Einschränkung ihres Sehvermögens und dem Angewiesensein auf die Hilfe anderer versprüht sie Lebensfreude. Die bewusste Art, wie sie ihr Leben führt und zu schätzen weiß, inspiriert weiter alle, die mit ihr diskutieren, staunen und lachen.
Die ursprüngliche Version dieses Textes von Lutz Renken wurde im „Loccumer Pelikan“ veröffentlicht, der Zeitschrift des Religionspädagogischen Instituts (RPI) der evangelischen Landeskirche Hannovers. Die Ausgabe 3/2019 behandelt den Schwerpunkt „Biografien entdecken – Vorbildern begegnen“. Um auch eine ausdrücklich nichtreligiöse Perspektive darzustellen, wurde der Humanistische Verband Niedersachsen um einen eigenen Textbeitrag gebeten. Für diesseits wurde dieser Text geringfügig gekürzt und angepasst. Wir bedanken uns für die Möglichkeit der Veröffentlichung.