Dass einmal Journalisten aus aller Welt vor seinem Büro Schlange stehen und etliche Amtskollegen um seinen Rat bitten würden, war Michael Unterguggenberger nicht in die Wiege gelegt. Im Jahr 1884 geboren, muss er mit nur zwölf Jahren die Schule abbrechen, um als Hilfsarbeiter im Sägewerk zum Unterhalt seiner Familie beizutragen. Nach drei Jahren hat er etwas gespart und kann es sich leisten, eine Mechanikerlehre zu beginnen. Ausgelernt geht er als Handwerksbursche auf Wanderschaft, kommt mit der Gewerkschaftsbewegung und der Sozialdemokratie in Kontakt, der er sich 1904 anschließt. Wie viele Sozialisten seiner Zeit treibt ihn ein enormer Bildungshunger an. Er ist auf der Suche nach Konzepten, um die Welt gerechter zu machen. Ab 1905 arbeitet er bei der österreichischen Bundesbahn als Lokführer. In seiner freien Zeit liest er viel und eignet sich ökonomisches Wissen an.
Während des 1. Weltkriegs fällt ihm zufällig eine Schrift des Ökonomen Silvio Gesell in die Hände. Gesell macht die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus daran fest, dass das Geld nicht mehr nur als Tauschmittel diene, sondern durch Zinsen und die damit verbundene Wertsteigerung ein Eigenleben entwickelt habe, das immer wieder zu Störungen in der Realwirtschaft führt. Er plädiert für die Abschaffung von Zinsen und die Einführung von Strafzinsen, sodass das Geld wie alle anderen Waren auch mit der Zeit an Wert verliert. Damit würden die Besitzer von Geld gezwungen, es schnell wieder auszugeben und die Wirtschaft bliebe in gleichmäßigem Schwung. Diese Theorie heißt Freiwirtschaftslehre.
Im Dezember 1931 wird Michael Unterguggenberger, der seit 1919 dem Gemeinderat angehört, Bürgermeister von Wörgl. Die Lage des kleinen Städtchens mit 4.200 Einwohnern ist desolat. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise ist das örtliche Wirtschaftsleben fast zusammengebrochen, die Arbeitslosigkeit liegt bei knapp 25 Prozent, sinkenden Steuereinnahmen stehen wachsende Ausgaben für Sozialfürsorge entgegen. Die offizielle Politik versucht der Krise durch Sparmaßnahmen Herr zu werden, verschlimmert die Situation damit aber weiter. Michael Unterguggenberger ist überzeugt, dass Sparen der falsche Weg ist.
Er schreibt: „Ich schränke mich ein und gehe barfuß (hilft das dem Schuster?). Ich schränke mich ein und reise nicht (hilft das der Bundesbahn?). Ich schränke mich ein und esse keine Butter (hilft das dem Bauern?).“ Entsprechend will er die Wirtschaft ankurbeln und die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes erhöhen. Er greift auf die Freiwirtschaftslehre von Silvio Gesell zurück. „Langsamer Geldumlauf ist die Hauptursache der bestehenden Wirtschaftslähmung. Jede Geldstauung bewirkt Warenstauung und Arbeitslosigkeit. Das träge umlaufende Geld der Nationalbank muss im Bereich der Gemeinde Wörgl durch ein Umlaufsmittel ersetzt werden, welches seiner Bestimmung als Tauschmittel besser nachkommen wird als das übliche Geld.“
Wenn es gelingt, die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes zu erhöhen, kann mit relativ geringen Mitteln viel erreicht werden. Da die Ausgabe von Geld der Nationalbank vorbehalten ist, soll die Gemeinde stattdessen „Arbeitswertscheine“ ausgeben, die eins zu eins an die österreichische Währung, den Schilling, gekoppelt sind. Diese Scheine verlieren nach einem Monat ein Prozent an Wert und müssen dann durch den Kauf von Wertmarken wieder auf den Nennwert gebracht werden. Der Umlauf der Arbeitswertscheine, nach Silvio Gesells Theorie auch Freigeld genannt, ist durch die gleiche Menge an realem Geld gedeckt, das die Gemeinde bei der örtlichen Raiffeisenkasse deponiert. Ein Umtausch ist zu einer Gebühr von zwei Prozent jederzeit möglich.
Nun galt es den Gemeinderat und die örtliche Wirtschaft von dieser Idee zu überzeugen. Hier geschieht nun das erste Wunder. Michael Unterguggenberger hält nichts von parteipolitischen Dogmen. Sein Handeln ist pragmatisch und daran orientiert, den Menschen Nutzen zu bringen. Er selbst ist bescheiden, es ist ihm nicht wichtig, im Rampenlicht zu stehen. Mit seiner Menschlichkeit und Überzeugungskraft gelingt es ihm, das Freiwirtschaftsexperiment über Lager- und Parteiinteressen hinweg durchzusetzen. Der Gemeinderat beschließt den Plan von Michael Unterguggenberger im Juli 1932 einstimmig. Mit dem Pfarrer und dem Apotheker gewinnt er zwei Bürgerlich-Konservative als Treuhänder für die Aktion. Die örtliche Raiffeisenkasse verzichtet auf Gebühren für die Verwaltung und die Geschäfte und Betriebe zeigen sich bereit, das Freigeld zu akzeptieren. Die Bürger können damit auch alle Gemeindesteuern und Gebühren begleichen sowie Mieten bezahlen.
Die Gemeindeangestellten erhalten einen Teil ihres Lohns in Arbeitswertscheinen, gleichzeitig legt die Gemeinde ein Arbeitsbeschaffungsprogramm auf, dessen Teilnehmer vollständig mit Freigeld entlohnt werden. Der Erfolg ist überwältigend. Um einen Wertverlust zu vermeiden, geben die Menschen das Freigeld sofort wieder aus. Es entwickelt eine hohe Umlaufgeschwindigkeit und fließt entsprechend schnell wieder in die Gemeindekasse zurück, weil nunmehr Steuerschulden getilgt und Abgaben pünktlich bezahlt werden. Mit den Notstandsarbeiten kann die Infrastruktur des Ortes verbessert, sogar eine Brücke gebaut werden. Die Arbeitslosigkeit in Wörgl reduziert sich um 16 Prozent, während sie im gleichen Zeitraum in Österreich durchschnittlich um 19 Prozent ansteigt. Dabei bleiben die Preise stabil. Das allseits so bezeichnete „Wunder von Wörgl“ nimmt seinen Lauf.
Einstellung des Experiments trotz großem Erfolg
Der offenkundige Erfolg des Experiments erregt weltweite Aufmerksamkeit, bei Journalisten, Politikern und Wissenschaftlern. Etliche Gemeinden wollen dem Beispiel folgen. Jedoch gibt es auch viele Anfeindungen. Selbst die österreichischen Sozialisten distanzieren sich von dem Experiment ihres Genossen, mit dem Argument, dass es keinerlei grundlegende Veränderungen bewirke und nicht mit der marxistischen Theorie vereinbar sei. Letztlich aber wird das Projekt von der Nationalbank und der Regierung blockiert. Beide bestehen auf dem geldpolitischen Privileg der Nationalbank und fürchten um die Geldwertstabilität. Die Gesetzeslage ist auf ihrer Seite. So scheitert im November 1933 der Einspruch der Gemeinde Wörgl gegen die erlassenen Verbotsverfügungen letztinstanzlich vor dem Verwaltungsgerichtshof. Das Experiment muss beendet werden.
Auch Michael Unterguggenbergers politisches Wirken endet bald. Im Februar 1934 zerschlagen die zunehmend autoritär regierenden österreichischen Christsozialen die Organisationen der Arbeiterbewegung und setzen die sozialdemokratischen Bürgermeister ab.
Hatten die örtlichen Kirchenvertreter sich noch wohlwollend an seinem Experiment beteiligt, bestehen sie nach seinem Tod im Dezember 1936 wieder auf den weltanschaulichen Differenzen. Michael Unterguggenberger war mit seiner Frau und den Kindern im Jahr 1929 aus der Kirche ausgetreten und lässt sich feuerbestatten. Da das im streng katholischen Tirol nicht möglich ist, muss sein Sarg zu diesem Zweck nach Salzburg überführt werden, wo sich das nächste Krematorium befindet. Seine Frau will seine Urne auf dem Wörgler Friedhof bestatten lassen, was ihr der Pfarrer jedoch verweigert. Der Freidenker soll nicht in geweihter Erde ruhen, nur die Ecke für die Selbstmörder bietet er der Witwe zur Bestattung an. Erst als sich Rosa Unterguggenberger nach einem Jahr des Streits bereit erklärt, mit ihren Kindern wieder in die Kirche einzutreten, kann die Urne am Wörgler Waldfriedhof beigesetzt werden. Dort ist sein Grab noch heute zu besichtigen.
Nach einer langen Phase des Vergessens gibt es mittlerweile in Wörgl eine vielfältige Erinnerungskultur, die sich dem Andenken Michael Unterguggenbergers widmet. Eine Straße ist nach ihm benannt, es gibt ein Denkmal und ein Institut trägt seinen Namen.