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Eine deutsches Doppelleben

Die Biografie von Artur Wilke

Gruppe von als »Juden der Rasse nach« gekennzeichneten Menschen in Minsk 1941, während der deutschen Besatzung Weißrusslands.
Gruppe von als »Juden der Rasse nach« gekennzeichneten Menschen in Minsk 1941, während der deutschen Besatzung Weißrusslands.
Ein studierter Theologe, der sich der SS anschließt, zum Massenmörder wird, anschließend unter dem Namen seines gefallenen Bruders weiterlebt, keinerlei persönliche Schuld eingesteht und das theologisch begründet. Die Biographie von Artur Wilke, die der Journalist Jürgen Gückel in seinem Buch „Klassenfoto mit Massenmörder“ erforscht hat, wirft Licht auf ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte.

Die NS-Ver­bre­chen in der Sowjet­uni­on, der beschö­ni­gen­de Umgang damit von Sei­ten der Täter und der Gesell­schaft der BRD sowie die man­gel­haf­te Ver­fol­gung durch die west­deut­sche Jus­tiz, sind mitt­ler­wei­le weit­ge­hend bekannt. Jedoch ver­dich­ten sich durch die von Jür­gen Gückel recher­chier­ten Details die­se Ereig­nis­se, wer­den sehr kon­kret und dabei bedrü­ckend und unfass­bar.

Artur Wil­ke wird 1910 in der Nähe von Posen gebo­ren. Durch den Ver­sailler Ver­trag fällt das Gebiet an Polen, die Fami­lie zieht nach Stolp in Pom­mern. Ursprüng­lich will er Pfar­rer wer­den, stu­diert 15 Semes­ter Theo­lo­gie, dann auf Lehr­amt, kommt aber nicht wirk­lich vor­an. Als die Wehr­macht 1938 sei­nen Antrag ins Offi­ziers­korps ein­zu­tre­ten ablehnt, bewirbt er sich beim SD (Sicher­heits­dienst der SS). Zu die­sem Zeit­punkt hat er schon eine Kar­rie­re in rech­ten und mili­tä­ri­schen Orga­ni­sa­tio­nen hin­ter sich: Mit 17 geht er zum Grenz­schutz, dann als Frei­wil­li­ger zur Wehr­macht. 1931 tritt er in die NSDAP ein, bleibt aber nur ein Jahr. 1933 wird er Mit­glied der SA. Beim SD ist er zunächst Schu­lungs­re­fe­rent für Sport und Geschich­te.

Der NS-Verbrecher

Im Febru­ar 1942 wird er nach Minsk zum KdS (Kom­man­deur der Sicher­heits­po­li­zei und des SD) ver­setzt. Des­sen Haupt­auf­ga­be bil­det zunächst die Ermor­dung von Juden. Der SD geht dabei bru­tal und rück­sichts­los vor. Bei den Erschie­ßun­gen nicht töd­lich ver­letz­te Juden wer­den leben­dig begra­ben, den Exe­ku­tier­ten wer­den vor­her die Gold­zäh­ne ent­fernt und dann an die Män­ner des SD ver­teilt. Frau­en aus dem Ghet­to, die trotz Ver­bots schwan­ger wer­den, bestraft die SS mit Erschie­ßung. Nach­dem der für Weiß­russ­land zustän­di­ge Gene­ral­kom­mis­sar, Wil­helm Kube einem Atten­tat sowje­ti­scher Wider­stands­kämp­fer zum Opfer gefal­len ist, lässt der SD drei Per­so­nen, die er damit in Ver­bin­dung bringt, an Pfäh­len ange­bun­den leben­dig ver­bren­nen.

Die Teil­nah­me an Erschie­ßun­gen, durch Genick­schüs­se, mit der Pis­to­le aus nächs­ter Nähe, gehört schnell zu Wil­kes All­tag. Auch beauf­sich­tigt er die Tötung mit Gas­wa­gen und Ghet­to­räu­mun­gen. Ab Herbst 1942 wird Wil­ke zuneh­mend in der „Ban­den­be­kämp­fung“ ein­ge­setzt. Als Füh­rer eines Erkun­dungs­trupps soll er ent­schei­den, wel­che Maß­nah­men zu tref­fen sind. Das Wohl und Wehe gan­zer Regio­nen hängt von sei­ner Beur­tei­lung ab. Er wird zum Herrn über Leben und Tod. Als par­ti­sa­nen­ver­däch­tig ange­se­he­ne Dör­fer wer­den grund­sätz­lich zer­stört, die meis­ten Ein­woh­ner ermor­det, eini­ge zur Zwangs­ar­beit nach Deutsch­land depor­tiert. Ins­ge­samt ver­nich­ten die deut­schen Besat­zer 5295 Dör­fer in Weiß­russ­land. Als Sicher­heits­of­fi­zier ist er auch an Fol­te­run­gen von Par­ti­sa­nen­ver­däch­ti­gen betei­ligt. Zudem ist er für die Umset­zung des Kon­zepts der Wehr­dör­fer im Raum Minsk zustän­dig. Wil­ke ent­wi­ckelt sich zum Spe­zia­lis­ten im Par­ti­sa­nen­kampf.

Neues Leben unter anderer Identität

Die kri­mi­nel­le Ener­gie, die er bei sei­nen Ein­sät­zen gezeigt hat, hilft ihm auch nach Kriegs­en­de. Er ent­kommt sowohl aus sowje­ti­scher als auch aus ame­ri­ka­ni­scher Gefan­gen­schaft. In der Uni­form eines Feld­we­bels der Luft­waf­fe stellt er sich schließ­lich den Eng­län­dern, von denen er am wenigs­ten befürch­tet und nimmt die Iden­ti­tät sei­nes gefal­le­nen Bru­ders an. Aus dem SS-Haupt­sturm­füh­rer (ver­gleich­bar einem Haupt­mann bei der Wehr­macht) und Mas­sen­mör­der Artur Wil­ke wird der harm­lo­se Sol­dat und Leh­rer Wal­ter Wil­ke.

Der bri­ti­sche Geheim­dienst ent­deckt jedoch sei­ne fal­sche Iden­ti­tät und zeigt gro­ßes Inter­es­se an sei­nen Erfah­run­gen bei der Bekämp­fung von Par­ti­sa­nen. Wil­ke ver­bringt eini­ge Wochen in Groß­bri­tan­ni­en und gibt sein Wis­sen preis, das die Geheim­dienst­of­fi­zie­re offen­kun­dig als sehr wert­voll betrach­ten. In der Tat bau­ten Bri­ten und Fran­zo­sen in ihren Kolo­ni­al­krie­gen und die USA im Viet­nam­krieg auf den Erfah­run­gen der Deut­schen auf. Als Gegen­leis­tung erhält Wil­ke ver­mut­lich Hil­fe zu Bewah­rung sei­ner neu­en Iden­ti­tät.

Bereits im Sep­tem­ber aus bri­ti­scher Gefan­gen­schaft ent­las­sen, zieht er zu einer Tan­te nach Steders­dorf bei Pei­ne. Er beginnt als Leh­rer zu arbei­ten, Schlä­ge gehö­ren selbst­ver­ständ­lich zu sei­nen Erzie­hungs­me­tho­den. Der Autor Jür­gen Gückel ist einer sei­ner Schü­ler. Wil­ke hei­ra­tet die Dorf­ärz­tin, obwohl sei­ne legi­ti­me Frau noch in der DDR lebt. Als die­se stirbt, über­nimmt er als ver­meint­li­cher Onkel das Sor­ge­recht für die gemein­sa­men Kin­der, die er aller­dings schon bald zur Adop­ti­on frei­gibt.

Nicht nur die Fami­lie weiß von dem Rol­len­tausch, vie­le im Dorf kann­ten sei­nen Bru­der, jedoch stellt nie­mand Fra­gen. Im Dorf wird die Ange­le­gen­heit ein­fach tot­ge­schwie­gen – auch dann noch, als Wil­ke ver­haf­tet und ver­ur­teilt wird. Nicht ein­mal die Lokal­zei­tung berich­tet dar­über. Selbst wäh­rend der Recher­chen zu sei­nem Buch stößt Jür­gen Gückel noch bei vie­len Zeit­zeu­gin­nen und Zeit­zeu­gen auf eine Mau­er des Schwei­gens.

Der Prozess

Gegen Ende der 1950er Jah­re begin­nen in der BRD erst­mals sys­te­ma­ti­sche Ermitt­lun­gen zu den Ver­bre­chen in Ost­eu­ro­pa. Bis­her hat­te sich die west­deut­sche Jus­tiz dafür als nicht zustän­dig betrach­tet. Auch wenn sel­ten mit Nach­druck ermit­telt und ver­ur­teilt wird, gibt es doch ers­te Erfol­ge. Im Som­mer 1959 wird Wil­kes Vor­ge­setz­ter beim KdS Minsk, Georg Heu­ser, ver­haf­tet. Heu­ser war es 1954 gelun­gen, wie­der in den Poli­zei­dienst ein­zu­tre­ten. Mitt­ler­wei­le ist er Chef des LKA Rhein­land-Pfalz. Wei­te­re Ermitt­lun­gen füh­ren zu Wil­ke, der im August 1961 fest­ge­nom­men wird. Das Ver­fah­ren beschäf­tigt sich nur mit der Ermor­dung der weiß­rus­si­schen Juden, die „Ban­den­be­kämp­fung“ spielt kei­ne Rol­le.

Der Roten Armee war bei der Ein­nah­me von Minsk das Tage­buch von Wil­ke, das ihn und ande­re Betei­lig­te schwer belas­tet, in die Hän­de gefal­len. Die Staats­an­walt­schaft will das Tage­buch in den Pro­zess ein­füh­ren, jedoch ver­su­chen das Aus­wär­ti­ge Amt und ande­re Behör­den das zu ver­hin­dern. Grund dafür ist, dass es auch Belas­ten­des gegen Fried­rich Karl Vial­on, Staats­se­kre­tär im Minis­te­ri­um für wirt­schaft­li­che Zusam­men­ar­beit, ent­hält. Als Lei­ter der Finanz­ab­tei­lung im „Reichs­kom­mis­sa­ri­at Ost­land“ war Vial­on für die Ver­wer­tung der jüdi­schen Ver­mö­gen zustän­dig. Als Zeu­ge im Pro­zess schwört er, nichts von der Ermor­dung der Juden gewusst zu haben. Er bleibt im Amt. Von einer Ankla­ge wegen Mein­eids wird er 1971 frei­ge­spro­chen.

Die dama­li­ge Pra­xis der Recht­spre­chung klagt alle jene, die nicht aus eige­nem Antrieb, son­dern auf Befehl gemor­det haben, nur der Bei­hil­fe zum Mord an. Wie auch die meis­ten ande­ren Täter beruft sich Wil­ke im Pro­zess auf Befehls­not­stand. Eini­ge der Taten räumt er ein, aber kei­ner­lei per­sön­li­che Schuld. Er sieht sich selbst als Opfer der Umstän­de, in die er gera­ten war. Ver­ur­teilt wird er wegen der Mit­wir­kung an 6.600 Tötun­gen zu zehn Jah­ren Haft.

Keine Reue

Am 19. Mai 1963 wird das Urteil rechts­kräf­tig und Wil­ke beginnt sofort auf sei­ne Begna­di­gung hin­zu­ar­bei­ten. Er wid­met sich inten­si­vem Bibel­stu­di­um und kor­re­spon­diert mit ver­schie­de­nen Geist­li­chen. Auch die­se kön­nen ihm kein Schuld­be­kennt­nis ent­lo­cken. Wil­ke sieht sich als Opfer des Staa­tes in dop­pel­ter Hin­sicht: Erst hät­te der Staat von ihm ver­langt zu töten, dann ver­ur­teil­te ihn der Staat dafür, dass er dies getan hat­te. Die­je­ni­gen, die er ermor­det hat­te, spiel­ten dage­gen in sei­nen Über­le­gun­gen kei­ne Rol­le. Er bedau­ert nur sich selbst und sucht nach theo­lo­gi­schen Recht­fer­ti­gun­gen. Den­noch unter­stützt Hans Stem­pel, Prä­si­dent der evan­ge­li­schen Kir­che der Pfalz, Wil­kes drit­tes Gna­den­ge­such vom April 1967. Die­ses lehnt die Jus­tiz jedoch wegen „Schwe­re der Schuld“ ab.

Stem­pel saß jah­re­lang im Prä­si­di­um der „Stil­len Hil­fe für Kriegs­ge­fan­ge­ne und Inter­nier­te“, deren Haupt­ziel der Für­sor­ge für und Rein­wa­schung von NS-Tätern bil­de­te. Zudem ist er „Beauf­trag­ter der EKD für die Seel­sor­ge an deut­schen Kriegs­ver­ur­teil­ten in aus­län­di­schem Gewahr­sam“. Ihm fehlt es offen­kun­dig an Distanz zu sei­ner Kli­en­tel. Ent­spre­chend befür­wor­tet er auch im fol­gen­den Jahr eine vor­zei­ti­ge Ent­las­sung Wil­kes. Wider bes­se­res Wis­sen behaup­tet er, Wil­ke habe sei­ne Schuld schon bei der Gerichts­ver­hand­lung ein­ge­stan­den und sei­ne Ein­sicht wäh­rend der Haft ver­tieft. Er habe ein aus­ge­spro­che­nes Süh­ne­be­dürf­nis. Der ver­mu­te­te eigent­li­che Grund sei­nes Ein­sat­zes für Wil­ke wird aus dem fol­gen­den Zitat deut­lich: „Er hat sich auch in bemer­kens­wer­ter Wei­se in eige­ner Arbeit um die Ver­meh­rung sei­ner christ­li­chen Glau­bens­er­kennt­nis­se bemüht.“

Die­se christ­li­chen Glau­bens­er­kennt­nis­se hat­te Wil­ke jedoch 1938 bei­sei­te­ge­scho­ben. Bei sei­ner Bewer­bung für die SS bezeich­net er sich als „gott­gläu­big“. Das war in der NS-Zeit die Bezeich­nung für alle jene, die nicht Mit­glied einer christ­li­chen Kir­che waren. War Wil­ke also aus der evan­ge­li­schen Kir­che aus­ge­tre­ten oder war dies eine wei­te­re sei­ner fal­schen Behaup­tun­gen? Die­ser Wider­spruch war lei­der Jür­gen Gückel nicht auf­ge­fal­len, der sich ansons­ten bemüht hat, alle Ver­äs­te­lun­gen in Wil­kes Leben auf­zu­zei­gen. Fakt ist, dass die Mit­glied­schaft in einer christ­li­chen Kir­che einer Kar­rie­re in der SS ent­ge­gen­steht. Ver­mut­lich zeigt sich hier schon Wil­ke als hem­mungs­lo­ser Oppor­tu­nist, der bereit ist, für sei­ne Kar­rie­re auch sei­ne christ­li­che Über­zeu­gung, auf die hin­zu­wei­sen er nach der NS-Zeit nicht müde wird, zu ver­leug­nen.

Letzt­lich gibt aber gibt Wil­kes Gesund­heits­zu­stand den Aus­schlag für die Begna­di­gung, er lei­det an Tuber­ku­lo­se. Im April 1968 wird er aus der Haft ent­las­sen. Danach lebt er nun wie­der als Artur Wil­ke in Steders­dorf, als wäre nichts gesche­hen.

Erst 1970 wird ein wei­te­res Ermitt­lungs­ver­fah­ren, das sich unter ande­rem mit Wil­kes Rol­le bei der „Ban­den­be­kämp­fung“ beschäf­tigt, eröff­net. Jedoch wird sehr nach­läs­sig ermit­telt. Das Ver­fah­ren wird ver­schleppt und schließ­lich 1996 ein­ge­stellt. Offen­kun­dig hat­ten die Ermitt­ler, wie auch in vie­len ande­ren Fäl­len von NS-Ver­bre­chen, wenig Inter­es­se, die Täter zu über­füh­ren. Artur Wil­ke stirbt 1989, für den Groß­teil sei­ner Ver­bre­chen wird er nicht zur Ver­ant­wor­tung gezo­gen.

Cover Jürgen Gückel, Klassenfoto mit Massenmörder

Jür­gen Gückel: Klas­sen­fo­to mit Mas­sen­mör­der. Das Dop­pel­le­ben des Artur Wil­ke. Van­den­hoeck & Ruprecht Ver­la­ge, Göt­tin­gen 2020, € 25,-

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