Die NS-Verbrechen in der Sowjetunion, der beschönigende Umgang damit von Seiten der Täter und der Gesellschaft der BRD sowie die mangelhafte Verfolgung durch die westdeutsche Justiz, sind mittlerweile weitgehend bekannt. Jedoch verdichten sich durch die von Jürgen Gückel recherchierten Details diese Ereignisse, werden sehr konkret und dabei bedrückend und unfassbar.
Artur Wilke wird 1910 in der Nähe von Posen geboren. Durch den Versailler Vertrag fällt das Gebiet an Polen, die Familie zieht nach Stolp in Pommern. Ursprünglich will er Pfarrer werden, studiert 15 Semester Theologie, dann auf Lehramt, kommt aber nicht wirklich voran. Als die Wehrmacht 1938 seinen Antrag ins Offizierskorps einzutreten ablehnt, bewirbt er sich beim SD (Sicherheitsdienst der SS). Zu diesem Zeitpunkt hat er schon eine Karriere in rechten und militärischen Organisationen hinter sich: Mit 17 geht er zum Grenzschutz, dann als Freiwilliger zur Wehrmacht. 1931 tritt er in die NSDAP ein, bleibt aber nur ein Jahr. 1933 wird er Mitglied der SA. Beim SD ist er zunächst Schulungsreferent für Sport und Geschichte.
Der NS-Verbrecher
Im Februar 1942 wird er nach Minsk zum KdS (Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD) versetzt. Dessen Hauptaufgabe bildet zunächst die Ermordung von Juden. Der SD geht dabei brutal und rücksichtslos vor. Bei den Erschießungen nicht tödlich verletzte Juden werden lebendig begraben, den Exekutierten werden vorher die Goldzähne entfernt und dann an die Männer des SD verteilt. Frauen aus dem Ghetto, die trotz Verbots schwanger werden, bestraft die SS mit Erschießung. Nachdem der für Weißrussland zuständige Generalkommissar, Wilhelm Kube einem Attentat sowjetischer Widerstandskämpfer zum Opfer gefallen ist, lässt der SD drei Personen, die er damit in Verbindung bringt, an Pfählen angebunden lebendig verbrennen.
Die Teilnahme an Erschießungen, durch Genickschüsse, mit der Pistole aus nächster Nähe, gehört schnell zu Wilkes Alltag. Auch beaufsichtigt er die Tötung mit Gaswagen und Ghettoräumungen. Ab Herbst 1942 wird Wilke zunehmend in der „Bandenbekämpfung“ eingesetzt. Als Führer eines Erkundungstrupps soll er entscheiden, welche Maßnahmen zu treffen sind. Das Wohl und Wehe ganzer Regionen hängt von seiner Beurteilung ab. Er wird zum Herrn über Leben und Tod. Als partisanenverdächtig angesehene Dörfer werden grundsätzlich zerstört, die meisten Einwohner ermordet, einige zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert. Insgesamt vernichten die deutschen Besatzer 5295 Dörfer in Weißrussland. Als Sicherheitsoffizier ist er auch an Folterungen von Partisanenverdächtigen beteiligt. Zudem ist er für die Umsetzung des Konzepts der Wehrdörfer im Raum Minsk zuständig. Wilke entwickelt sich zum Spezialisten im Partisanenkampf.
Neues Leben unter anderer Identität
Die kriminelle Energie, die er bei seinen Einsätzen gezeigt hat, hilft ihm auch nach Kriegsende. Er entkommt sowohl aus sowjetischer als auch aus amerikanischer Gefangenschaft. In der Uniform eines Feldwebels der Luftwaffe stellt er sich schließlich den Engländern, von denen er am wenigsten befürchtet und nimmt die Identität seines gefallenen Bruders an. Aus dem SS-Hauptsturmführer (vergleichbar einem Hauptmann bei der Wehrmacht) und Massenmörder Artur Wilke wird der harmlose Soldat und Lehrer Walter Wilke.
Der britische Geheimdienst entdeckt jedoch seine falsche Identität und zeigt großes Interesse an seinen Erfahrungen bei der Bekämpfung von Partisanen. Wilke verbringt einige Wochen in Großbritannien und gibt sein Wissen preis, das die Geheimdienstoffiziere offenkundig als sehr wertvoll betrachten. In der Tat bauten Briten und Franzosen in ihren Kolonialkriegen und die USA im Vietnamkrieg auf den Erfahrungen der Deutschen auf. Als Gegenleistung erhält Wilke vermutlich Hilfe zu Bewahrung seiner neuen Identität.
Bereits im September aus britischer Gefangenschaft entlassen, zieht er zu einer Tante nach Stedersdorf bei Peine. Er beginnt als Lehrer zu arbeiten, Schläge gehören selbstverständlich zu seinen Erziehungsmethoden. Der Autor Jürgen Gückel ist einer seiner Schüler. Wilke heiratet die Dorfärztin, obwohl seine legitime Frau noch in der DDR lebt. Als diese stirbt, übernimmt er als vermeintlicher Onkel das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder, die er allerdings schon bald zur Adoption freigibt.
Nicht nur die Familie weiß von dem Rollentausch, viele im Dorf kannten seinen Bruder, jedoch stellt niemand Fragen. Im Dorf wird die Angelegenheit einfach totgeschwiegen – auch dann noch, als Wilke verhaftet und verurteilt wird. Nicht einmal die Lokalzeitung berichtet darüber. Selbst während der Recherchen zu seinem Buch stößt Jürgen Gückel noch bei vielen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen auf eine Mauer des Schweigens.
Der Prozess
Gegen Ende der 1950er Jahre beginnen in der BRD erstmals systematische Ermittlungen zu den Verbrechen in Osteuropa. Bisher hatte sich die westdeutsche Justiz dafür als nicht zuständig betrachtet. Auch wenn selten mit Nachdruck ermittelt und verurteilt wird, gibt es doch erste Erfolge. Im Sommer 1959 wird Wilkes Vorgesetzter beim KdS Minsk, Georg Heuser, verhaftet. Heuser war es 1954 gelungen, wieder in den Polizeidienst einzutreten. Mittlerweile ist er Chef des LKA Rheinland-Pfalz. Weitere Ermittlungen führen zu Wilke, der im August 1961 festgenommen wird. Das Verfahren beschäftigt sich nur mit der Ermordung der weißrussischen Juden, die „Bandenbekämpfung“ spielt keine Rolle.
Der Roten Armee war bei der Einnahme von Minsk das Tagebuch von Wilke, das ihn und andere Beteiligte schwer belastet, in die Hände gefallen. Die Staatsanwaltschaft will das Tagebuch in den Prozess einführen, jedoch versuchen das Auswärtige Amt und andere Behörden das zu verhindern. Grund dafür ist, dass es auch Belastendes gegen Friedrich Karl Vialon, Staatssekretär im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, enthält. Als Leiter der Finanzabteilung im „Reichskommissariat Ostland“ war Vialon für die Verwertung der jüdischen Vermögen zuständig. Als Zeuge im Prozess schwört er, nichts von der Ermordung der Juden gewusst zu haben. Er bleibt im Amt. Von einer Anklage wegen Meineids wird er 1971 freigesprochen.
Die damalige Praxis der Rechtsprechung klagt alle jene, die nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf Befehl gemordet haben, nur der Beihilfe zum Mord an. Wie auch die meisten anderen Täter beruft sich Wilke im Prozess auf Befehlsnotstand. Einige der Taten räumt er ein, aber keinerlei persönliche Schuld. Er sieht sich selbst als Opfer der Umstände, in die er geraten war. Verurteilt wird er wegen der Mitwirkung an 6.600 Tötungen zu zehn Jahren Haft.
Keine Reue
Am 19. Mai 1963 wird das Urteil rechtskräftig und Wilke beginnt sofort auf seine Begnadigung hinzuarbeiten. Er widmet sich intensivem Bibelstudium und korrespondiert mit verschiedenen Geistlichen. Auch diese können ihm kein Schuldbekenntnis entlocken. Wilke sieht sich als Opfer des Staates in doppelter Hinsicht: Erst hätte der Staat von ihm verlangt zu töten, dann verurteilte ihn der Staat dafür, dass er dies getan hatte. Diejenigen, die er ermordet hatte, spielten dagegen in seinen Überlegungen keine Rolle. Er bedauert nur sich selbst und sucht nach theologischen Rechtfertigungen. Dennoch unterstützt Hans Stempel, Präsident der evangelischen Kirche der Pfalz, Wilkes drittes Gnadengesuch vom April 1967. Dieses lehnt die Justiz jedoch wegen „Schwere der Schuld“ ab.
Stempel saß jahrelang im Präsidium der „Stillen Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte“, deren Hauptziel der Fürsorge für und Reinwaschung von NS-Tätern bildete. Zudem ist er „Beauftragter der EKD für die Seelsorge an deutschen Kriegsverurteilten in ausländischem Gewahrsam“. Ihm fehlt es offenkundig an Distanz zu seiner Klientel. Entsprechend befürwortet er auch im folgenden Jahr eine vorzeitige Entlassung Wilkes. Wider besseres Wissen behauptet er, Wilke habe seine Schuld schon bei der Gerichtsverhandlung eingestanden und seine Einsicht während der Haft vertieft. Er habe ein ausgesprochenes Sühnebedürfnis. Der vermutete eigentliche Grund seines Einsatzes für Wilke wird aus dem folgenden Zitat deutlich: „Er hat sich auch in bemerkenswerter Weise in eigener Arbeit um die Vermehrung seiner christlichen Glaubenserkenntnisse bemüht.“
Diese christlichen Glaubenserkenntnisse hatte Wilke jedoch 1938 beiseitegeschoben. Bei seiner Bewerbung für die SS bezeichnet er sich als „gottgläubig“. Das war in der NS-Zeit die Bezeichnung für alle jene, die nicht Mitglied einer christlichen Kirche waren. War Wilke also aus der evangelischen Kirche ausgetreten oder war dies eine weitere seiner falschen Behauptungen? Dieser Widerspruch war leider Jürgen Gückel nicht aufgefallen, der sich ansonsten bemüht hat, alle Verästelungen in Wilkes Leben aufzuzeigen. Fakt ist, dass die Mitgliedschaft in einer christlichen Kirche einer Karriere in der SS entgegensteht. Vermutlich zeigt sich hier schon Wilke als hemmungsloser Opportunist, der bereit ist, für seine Karriere auch seine christliche Überzeugung, auf die hinzuweisen er nach der NS-Zeit nicht müde wird, zu verleugnen.
Letztlich gibt aber gibt Wilkes Gesundheitszustand den Ausschlag für die Begnadigung, er leidet an Tuberkulose. Im April 1968 wird er aus der Haft entlassen. Danach lebt er nun wieder als Artur Wilke in Stedersdorf, als wäre nichts geschehen.
Erst 1970 wird ein weiteres Ermittlungsverfahren, das sich unter anderem mit Wilkes Rolle bei der „Bandenbekämpfung“ beschäftigt, eröffnet. Jedoch wird sehr nachlässig ermittelt. Das Verfahren wird verschleppt und schließlich 1996 eingestellt. Offenkundig hatten die Ermittler, wie auch in vielen anderen Fällen von NS-Verbrechen, wenig Interesse, die Täter zu überführen. Artur Wilke stirbt 1989, für den Großteil seiner Verbrechen wird er nicht zur Verantwortung gezogen.
Jürgen Gückel: Klassenfoto mit Massenmörder. Das Doppelleben des Artur Wilke. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage, Göttingen 2020, € 25,-