Eduard Baltzer

Wie die Jugendweihe zu ihrem Namen kam

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Foto: HVD
Postkarte mit dem Baltzerbrunnen in Nordhausen am Harz als Motiv (1924)

Beitragsbild: Public Domain, via Wikimedia Commons

In die­sem Jahr (2022) wird man­cher­orts ein Jubi­lä­um began­gen: 170 Jah­re Jugend­wei­he. Hart­nä­ckig hält sich auch in der wis­sen­schaft­li­chen Lite­ra­tur die Behaup­tung, dass die ers­te Jugend­wei­he 1852 in Nord­hau­sen am süd­li­chen Rand des Har­zes statt­fand. Neu­gier­de ist ein Grund­mo­tiv his­to­ri­schen For­schens und so hoff­te ich, im dor­ti­gen Stadt­ar­chiv, wo die Bestän­de der Frei­en Gemein­de Nord­hau­sen lie­gen, Bele­ge für die Wie­ge der Jugend­wei­he zu fin­den.

Voraussetzungen für die Entstehung der Jugendweihen

In der Zeit vor der bür­ger­li­chen März­re­vo­lu­ti­on 1848 ent­steht als Abspal­tung von der katho­li­schen und evan­ge­li­schen Kir­che eine reli­giö­se Oppo­si­ti­ons­be­we­gung. Aus­ge­hend von einer Reli­gi­ons- und Bibel­kri­tik for­dern die frei­re­li­giö­sen Gemein­den eine wis­sen­schaft­li­che und ver­nunft­ge­mä­ße Begrün­dung des Glau­bens. Von Anfang an sind sie auch poli­ti­sche Geg­ner des kon­ser­va­tiv-feu­da­len Gesell­schafts­sys­tems. Mit dem könig­li­chen Reli­gi­ons­pa­tent von 1847 wird erst­mals der Kir­chen­aus­tritt in Preu­ßen gere­gelt, sodass die frei­en Gemein­den legal agie­ren kön­nen. Vor­wie­gend Män­ner (Hand­wer­ker, Kauf­leu­te, Aka­de­mi­ker, aber nur weni­ge Arbei­ter) gehö­ren den Ver­ei­nen an. Um 1850 bestehen in Deutsch­land etwa 400 dis­si­den­ti­sche Gemein­den mit rund 180.000 Mit­glie­dern. Nach der Nie­der­la­ge der Revo­lu­ti­on setzt eine Repres­si­ons­pe­ri­ode ein; die Gemein­den wer­den als staats­ge­fähr­den­de Umsturz­ver­ei­ne behan­delt und bru­tal unter­drückt. Erst Ende der 1850er ver­bes­sern sich die Exis­tenz­be­din­gun­gen der Gemein­den. Mit dem preu­ßi­schen „Gesetz, betref­fend den Aus­tritt aus der Kir­che“ von 1873 wird das Recht auf Kon­fes­si­ons­lo­sig­keit grund­sätz­lich gewährt. Zu die­sem Zeit­punkt sind die Frei­re­li­giö­sen mit noch etwa 100 Gemein­den und 20.000 Mit­glie­dern gesell­schafts­po­li­tisch bedeu­tungs­los gewor­den.

Die Freie Gemeinde Nordhausen

Der 31-jäh­ri­ge Dia­kon und Hos­pi­tal­pre­di­ger Edu­ard Balt­zer wird am 6. Okto­ber 1845 von der Gemein­de der Stadt­kir­che St. Nico­lai in Nord­hau­sen zum Pas­tor Pri­mus gewählt. Doch das König­li­che Kon­sis­to­ri­um ver­wei­gert die Aner­ken­nung. Am 28. März 1846 for­dern Kir­chen­vor­stand und zahl­rei­che Nordhäuser_innen des­halb die Bil­dung einer Frei­en deutsch­christ­li­chen Gemein­de. Elf Mona­te spä­ter, am 5. Janu­ar 1847, unter­zeich­nen 101 Mit­glie­der der bis­he­ri­gen Kir­chen­ge­mein­de in der Gast­stät­te Kol­ditz Grün­dungs­pro­to­koll und Grund­sät­ze der Frei­en Pro­tes­tan­ti­schen Gemein­de, die sich am 6. Dezem­ber des glei­chen Jah­res in Freie Gemein­de umbe­nennt. In den fol­gen­den drei Jah­ren wächst die Mit­glie­der­zahl auf ca. 1.580 an, dar­un­ter 360 Frau­en und 700 Jugend­li­che und Kin­der. Zehn Pro­zent der Nord­häu­ser Einwohner_innen gehö­ren damit zur Gemein­de.

Die Gemein­de ver­steht sich nach Balt­zers Grund­sät­zen als eine christ­li­che Reli­gi­ons­ge­mein­schaft, die nach „Wahr­heit“ und „Lie­be“ strebt. Balt­zer defi­niert Reli­gi­on als „das Geis­tes­le­ben der Men­schen“. Die Reli­gi­on sei kei­ne abschlie­ßen­de Vor­stel­lung über Gott und die Welt, son­dern „die wach­sen­de Erkennt­nis, in wel­cher der Mensch dann die Fül­le sei­nes eige­nen Lebens, je nach dem Maße sei­ner Kraft, offen­bart… Wir könn­ten auch sagen: das Leben Got­tes in uns ist unse­re Reli­gi­on.“ Tau­fe, Kon­fir­ma­ti­on, Trau­ung und Abend­mahl wer­den zunächst noch in ihrer tra­di­tio­nel­len Form „im frei­en Gebrauch“ fort­ge­führt.

Durch das preu­ßi­sche Ver­eins­ge­setz vom 11. März 1850 wer­den die frei­re­li­giö­sen Gemein­den nicht mehr als Reli­gi­ons­ge­sell­schaf­ten, son­dern als Ver­ei­ne ein­ge­stuft. Das Gesetz bie­tet staat­li­chen Orga­nen die Hand­ha­be für Repres­sa­li­en: Ver­samm­lun­gen fin­den unter Poli­zei­auf­sicht statt, Mit­glie­der­lis­ten müs­sen ein­ge­reicht wer­den und Frau­en und Kin­der sind vom Gemein­de­le­ben aus­ge­schlos­sen. Die Mit­glied­schaft von Frau­en, die weit­ge­hend gleich­be­rech­tigt in der Gemein­de mit­ar­bei­ten, wird schließ­lich zum Anlass genom­men, die Freie Gemein­de am 2. Febru­ar 1852 poli­zei­lich zu schlie­ßen. Beschäf­tig­te und Mit­glie­der sind von Berufs­ver­bo­ten betrof­fen. Erst im Juli 1853 wird das Ver­bot der Gemein­de auf­ge­ho­ben. Die Gemein­de, mitt­ler­wei­le auf 500 Mit­glie­der geschrumpft, erholt sich nicht mehr von den bis Ende der 1890er Jah­re andau­ern­den Unter­drü­ckung.

Von der Confirmation zur Jugendweihe

Bereits 1846, damals noch als evan­ge­li­scher Dia­kon, äußert sich Edu­ard Balt­zer kri­tisch zum „Glau­bens­zwang“ 14-jäh­ri­ger Kin­der und for­dert, „…die Kon­fir­ma­ti­on, sobald sie irgend­et­was Bin­den­des ent­hält, zu ver­schie­ben bis zu einer grö­ße­ren Rei­fe, als sie das 14. Jahr gewährt.“ Zwei Jah­re spä­ter schreibt er: „Eine Con­fir­ma­ti­on in kirch­li­chem Sin­ne, die zu Sakra­men­ten berech­tig­te oder poli­ti­sche Rech­te ver­lie­he, haben wir nicht. […] Wenn Kin­der unse­rer Gemein­de in die­sem Lebens­jah­re sich ver­ei­ni­gen, …so ver­pflich­ten wir gera­de zum Gegen­teil, zum fort­wäh­ren­den Wachs­tum in der Erkennt­nis und Aus­übung des Guten.“

In der im Dezem­ber 1849 beschlos­se­nen „Frei­en Gemein­de-Ord­nung“ Nord­hau­sens heißt es: „Die Gemein­de ver­wirft alle tren­nen­den Reli­gi­ons­ge­bräu­che: ihr gilt der Mensch als sol­cher.“ Es wird deut­lich, dass der bis­he­ri­ge christ­li­che Kul­tus abge­lehnt wird und ein welt­li­cher Cha­rak­ter der Kon­fir­ma­ti­on sich ent­wi­ckelt. Über die inhalt­li­che Aus­ge­stal­tung der Nord­häu­ser Con­fir­ma­ti­on bis Ende der 1850er Jah­re las­sen sich kei­ne Bele­ge fin­den. Ver­mut­lich bil­det, wie in ande­ren frei­re­li­giö­sen Gemein­den die­ser Zeit, die „Fest­an­spra­che“ des Pre­di­gers den Haupt­in­halt der Fei­er, musi­ka­lisch umrahmt und abge­schlos­sen mit einem „Gelöb­nis“ der Kin­der. In den Akten­be­stän­den der Gemein­de las­sen sich eini­ge Teil­neh­mer­zah­len an den Fei­ern nach­wei­sen: 1849: 15 Kna­ben und Mäd­chen, 1850: 30 Con­fir­man­den, 1853: 26 Kin­der, 1868: 16 Kin­der, 1874 und 1892 jeweils 6 Teil­neh­me­rin­nen und 1900 nur noch 4. Die­se Zah­len spie­geln den Bedeu­tungs­ver­lust der Gemein­de wider. In der Wei­ma­rer Repu­blik nimmt sich in Nord­hau­sen ins­be­son­de­re der Deut­sche Frei­den­ker-Ver­band erfolg­reich der Jugend­wei­he an.

Der Name „Con­fir­ma­ti­on“ bleibt noch über Jah­re in der Nord­häu­ser Gemein­de. In ande­ren frei­re­li­giö­sen Gemein­den fin­den sich Bezeich­nun­gen wie „Ein­füh­rung in die Gemein­de“, „fei­er­li­che Ein­seg­nung“ oder „Bestä­ti­gung des Glau­bens­be­kennt­nis­ses bei erlang­ter Ver­stands­rei­fe“. Der Name „Jugend­wei­he“ fin­det sich erst­mals als Über­schrift eines Gedich­tes von Ewald Balt­zer in der Aus­ga­be 7 der Nord­häu­ser Mit­tei­lun­gen „Freie-Gemein­de-Hal­le“ vom 20. Mai 1852 („Chris­ti Him­mel­fahrt“). Für die­ses Jahr – die Gemein­de ist ver­bo­ten – lässt sich zur Schul­ent­las­sung an Ostern kei­ne Con­fir­ma­ti­on nach­wei­sen. Balt­zer prägt zwar den heu­te noch übli­chen Begriff „Jugend­wei­he“, die­ser setzt sich aller­dings erst Ende der 1880er Jah­re in den frei­re­li­giö­sen Gemein­den durch.

Auf der Basis der mir bekann­ten Quel­len habe ich ver­sucht, ein mög­lichst leben­di­ges und kon­kre­tes Bild von den Ursprün­gen der Jugend­wei­he in Nord­hau­sen zu zeich­nen. Eine umfas­sen­de wis­sen­schaft­li­che Unter­su­chung der Anfän­ge des Phä­no­mens Jugend­wei­he bleibt Auf­ga­be der For­schung.

Aus Grün­den der Les­bar­keit wur­de auf die Nen­nung von Quel­len und Lite­ra­tur ver­zich­tet. Eine Lang­fas­sung die­ses Bei­tra­ges fin­det sich hier.

Der Bei­trag erschien zuerst im Maga­zin der Freund*innen des HUMANISMUS 8 | 2. Quar­tal 2022. Wir dan­ken dem HVD Ber­lin-Bran­den­burg für die freund­li­che Geneh­mi­gung zur Zweit­ver­öf­fent­li­chung.

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