In diesem Jahr (2022) wird mancherorts ein Jubiläum begangen: 170 Jahre Jugendweihe. Hartnäckig hält sich auch in der wissenschaftlichen Literatur die Behauptung, dass die erste Jugendweihe 1852 in Nordhausen am südlichen Rand des Harzes stattfand. Neugierde ist ein Grundmotiv historischen Forschens und so hoffte ich, im dortigen Stadtarchiv, wo die Bestände der Freien Gemeinde Nordhausen liegen, Belege für die Wiege der Jugendweihe zu finden.
Voraussetzungen für die Entstehung der Jugendweihen
In der Zeit vor der bürgerlichen Märzrevolution 1848 entsteht als Abspaltung von der katholischen und evangelischen Kirche eine religiöse Oppositionsbewegung. Ausgehend von einer Religions- und Bibelkritik fordern die freireligiösen Gemeinden eine wissenschaftliche und vernunftgemäße Begründung des Glaubens. Von Anfang an sind sie auch politische Gegner des konservativ-feudalen Gesellschaftssystems. Mit dem königlichen Religionspatent von 1847 wird erstmals der Kirchenaustritt in Preußen geregelt, sodass die freien Gemeinden legal agieren können. Vorwiegend Männer (Handwerker, Kaufleute, Akademiker, aber nur wenige Arbeiter) gehören den Vereinen an. Um 1850 bestehen in Deutschland etwa 400 dissidentische Gemeinden mit rund 180.000 Mitgliedern. Nach der Niederlage der Revolution setzt eine Repressionsperiode ein; die Gemeinden werden als staatsgefährdende Umsturzvereine behandelt und brutal unterdrückt. Erst Ende der 1850er verbessern sich die Existenzbedingungen der Gemeinden. Mit dem preußischen „Gesetz, betreffend den Austritt aus der Kirche“ von 1873 wird das Recht auf Konfessionslosigkeit grundsätzlich gewährt. Zu diesem Zeitpunkt sind die Freireligiösen mit noch etwa 100 Gemeinden und 20.000 Mitgliedern gesellschaftspolitisch bedeutungslos geworden.
Die Freie Gemeinde Nordhausen
Der 31-jährige Diakon und Hospitalprediger Eduard Baltzer wird am 6. Oktober 1845 von der Gemeinde der Stadtkirche St. Nicolai in Nordhausen zum Pastor Primus gewählt. Doch das Königliche Konsistorium verweigert die Anerkennung. Am 28. März 1846 fordern Kirchenvorstand und zahlreiche Nordhäuser_innen deshalb die Bildung einer Freien deutschchristlichen Gemeinde. Elf Monate später, am 5. Januar 1847, unterzeichnen 101 Mitglieder der bisherigen Kirchengemeinde in der Gaststätte Kolditz Gründungsprotokoll und Grundsätze der Freien Protestantischen Gemeinde, die sich am 6. Dezember des gleichen Jahres in Freie Gemeinde umbenennt. In den folgenden drei Jahren wächst die Mitgliederzahl auf ca. 1.580 an, darunter 360 Frauen und 700 Jugendliche und Kinder. Zehn Prozent der Nordhäuser Einwohner_innen gehören damit zur Gemeinde.
Die Gemeinde versteht sich nach Baltzers Grundsätzen als eine christliche Religionsgemeinschaft, die nach „Wahrheit“ und „Liebe“ strebt. Baltzer definiert Religion als „das Geistesleben der Menschen“. Die Religion sei keine abschließende Vorstellung über Gott und die Welt, sondern „die wachsende Erkenntnis, in welcher der Mensch dann die Fülle seines eigenen Lebens, je nach dem Maße seiner Kraft, offenbart… Wir könnten auch sagen: das Leben Gottes in uns ist unsere Religion.“ Taufe, Konfirmation, Trauung und Abendmahl werden zunächst noch in ihrer traditionellen Form „im freien Gebrauch“ fortgeführt.
Durch das preußische Vereinsgesetz vom 11. März 1850 werden die freireligiösen Gemeinden nicht mehr als Religionsgesellschaften, sondern als Vereine eingestuft. Das Gesetz bietet staatlichen Organen die Handhabe für Repressalien: Versammlungen finden unter Polizeiaufsicht statt, Mitgliederlisten müssen eingereicht werden und Frauen und Kinder sind vom Gemeindeleben ausgeschlossen. Die Mitgliedschaft von Frauen, die weitgehend gleichberechtigt in der Gemeinde mitarbeiten, wird schließlich zum Anlass genommen, die Freie Gemeinde am 2. Februar 1852 polizeilich zu schließen. Beschäftigte und Mitglieder sind von Berufsverboten betroffen. Erst im Juli 1853 wird das Verbot der Gemeinde aufgehoben. Die Gemeinde, mittlerweile auf 500 Mitglieder geschrumpft, erholt sich nicht mehr von den bis Ende der 1890er Jahre andauernden Unterdrückung.
Von der Confirmation zur Jugendweihe
Bereits 1846, damals noch als evangelischer Diakon, äußert sich Eduard Baltzer kritisch zum „Glaubenszwang“ 14-jähriger Kinder und fordert, „…die Konfirmation, sobald sie irgendetwas Bindendes enthält, zu verschieben bis zu einer größeren Reife, als sie das 14. Jahr gewährt.“ Zwei Jahre später schreibt er: „Eine Confirmation in kirchlichem Sinne, die zu Sakramenten berechtigte oder politische Rechte verliehe, haben wir nicht. […] Wenn Kinder unserer Gemeinde in diesem Lebensjahre sich vereinigen, …so verpflichten wir gerade zum Gegenteil, zum fortwährenden Wachstum in der Erkenntnis und Ausübung des Guten.“
In der im Dezember 1849 beschlossenen „Freien Gemeinde-Ordnung“ Nordhausens heißt es: „Die Gemeinde verwirft alle trennenden Religionsgebräuche: ihr gilt der Mensch als solcher.“ Es wird deutlich, dass der bisherige christliche Kultus abgelehnt wird und ein weltlicher Charakter der Konfirmation sich entwickelt. Über die inhaltliche Ausgestaltung der Nordhäuser Confirmation bis Ende der 1850er Jahre lassen sich keine Belege finden. Vermutlich bildet, wie in anderen freireligiösen Gemeinden dieser Zeit, die „Festansprache“ des Predigers den Hauptinhalt der Feier, musikalisch umrahmt und abgeschlossen mit einem „Gelöbnis“ der Kinder. In den Aktenbeständen der Gemeinde lassen sich einige Teilnehmerzahlen an den Feiern nachweisen: 1849: 15 Knaben und Mädchen, 1850: 30 Confirmanden, 1853: 26 Kinder, 1868: 16 Kinder, 1874 und 1892 jeweils 6 Teilnehmerinnen und 1900 nur noch 4. Diese Zahlen spiegeln den Bedeutungsverlust der Gemeinde wider. In der Weimarer Republik nimmt sich in Nordhausen insbesondere der Deutsche Freidenker-Verband erfolgreich der Jugendweihe an.
Der Name „Confirmation“ bleibt noch über Jahre in der Nordhäuser Gemeinde. In anderen freireligiösen Gemeinden finden sich Bezeichnungen wie „Einführung in die Gemeinde“, „feierliche Einsegnung“ oder „Bestätigung des Glaubensbekenntnisses bei erlangter Verstandsreife“. Der Name „Jugendweihe“ findet sich erstmals als Überschrift eines Gedichtes von Ewald Baltzer in der Ausgabe 7 der Nordhäuser Mitteilungen „Freie-Gemeinde-Halle“ vom 20. Mai 1852 („Christi Himmelfahrt“). Für dieses Jahr – die Gemeinde ist verboten – lässt sich zur Schulentlassung an Ostern keine Confirmation nachweisen. Baltzer prägt zwar den heute noch üblichen Begriff „Jugendweihe“, dieser setzt sich allerdings erst Ende der 1880er Jahre in den freireligiösen Gemeinden durch.
Auf der Basis der mir bekannten Quellen habe ich versucht, ein möglichst lebendiges und konkretes Bild von den Ursprüngen der Jugendweihe in Nordhausen zu zeichnen. Eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung der Anfänge des Phänomens Jugendweihe bleibt Aufgabe der Forschung.
Aus Gründen der Lesbarkeit wurde auf die Nennung von Quellen und Literatur verzichtet. Eine Langfassung dieses Beitrages findet sich hier.
Der Beitrag erschien zuerst im Magazin der Freund*innen des HUMANISMUS 8 | 2. Quartal 2022. Wir danken dem HVD Berlin-Brandenburg für die freundliche Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.