Als Kurt Löwenstein, der vor 140 Jahren im niedersächsischen Bleckede geboren wurde, in einer Tertia mit dem Tod eines Schülers konfrontiert war, wich er von seinem ursprünglichen Vorhaben ab, einige Worte der Erinnerung zu sprechen – stattdessen erlebten alle „gemeinschaftlich die Tatsache des Todes in engster menschlicher Verbundenheit. Nicht der Verlust, nicht die Trauer beherrschte diese feierlichen Minuten […]. Ich habe dieses Erlebnis nie vergessen […].“ Den Schülern ging es nicht anders, und noch nach vielen Jahren gab es manchen, der „die Erinnerung an diese Minuten […] zu den schönsten Erinnerungen seines Lebens zählt[e].“ Den Wunsch, als Pädagoge zu wirken und Kindern und Jugendlichen das geistige Rüstzeug fürs Leben mitzugeben, hat der Sohn jüdischer Eltern schon früh verspürt. Anfangs geradezu ein religiöser „Eiferer“, verließ er 1906 die staatliche Schule, um orthodoxer Rabbiner zu werden. Doch allmählich wuchsen – aufgrund welcher genauen Umstände, ist nicht bekannt – seine religiösen Zweifel, und er wurde Mitglied der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur. Für diese verfasste er Artikel und hielt Vorträge, Letzteres auch für die freireligiöse Gemeinde in Hannover. Dort lernte er 1910 Mara Kerwel (1891–1962) kennen und heiratete sie ein Jahr später. Im Wunsch nach absoluter Gleichberechtigung der beiden Ehepartner setzten sie einen entsprechenden Ehevertrag auf und gaben sich – obschon dies von den Behörden nicht akzeptiert wurde – den neuen gemeinsamen, aus den bisherigen Nachnamen zusammengesetzten Namen Kerlöw.
Wiewohl als Reichstagsabgeordneter (zuerst der USPD, dann der SPD) ununterbrochen von 1920 bis 1933 auch in der ‚großen Politik‘ aktiv, entfaltete sich sein Gestaltungsvermögen vor allem auf kommunaler Ebene. 1921 wurde Löwenstein mit der sozialdemokratischen und kommunistischen Mehrheit der Neuköllner Bezirksverordneten zum Bezirksstadtrat für das Schulwesen gewählt. Gemeinsam mit dem Schulreformer Fritz Karsen (1895–1951) reformierte, ja revolutionierte Löwenstein das örtliche Volksbildungswesen, setzte sich etwa für die weltliche Schule ein, weitete die Schulspeisungen aus, oder erreichte eine Staffelung der Schulgelder. Krönung seiner und Karsens Bemühungen war die Umgestaltung des Kaiser-Friedrich-Realgymnasiums zur ersten integrierten Gesamtschule in Deutschland (ab 1930 mit dem Namen Karl-Marx-Schule).
Sein fortwährender Kampf um die Weltlichkeit des Schulwesens wurde von seinen Gegnern oft als antireligiöser Kampf aufgefasst und schwer bekämpft. Nichts lag Löwenstein ferner: „Wenn man Kirchen beschmiert, ist das kein Kulturmittel. Herabsetzung ist es auch nicht. Außerdem ist dieses Verfahren dumm. Indifferente, die wir werben wollen, stoßen wir dadurch ab. Ich begrüße es, daß von den freigeistigen Verbänden ganz allgemein diese Verfahren abgelehnt werden […]. Jeder von uns, wo er auch stehe, sorge dafür, daß der Freidenker in der Öffentlichkeit Vorbild ist. Wir haben dafür zu sorgen, daß jeder erkennt, daß das Freidenkertum keine geistige Armut und Minderwertigkeit ist, sondern ein starker Wille zum Idealismus. Wir müssen bessere Formen haben“, führte er am 6. Juni 1931 in einer Rede aus.
Daneben ist Löwensteins Name engstens mit der Kinderfreunde-Bewegung verbunden. 1908 bereits in Österreich begründet, fand diese erst Anfang der 1920er Jahre ihren Weg nach Deutschland. Im November 1923 kam es – als Gliederung der SPD – zur Gründung der Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde (RAG), ein Jahr später wurde Löwenstein ihr Vorsitzender. Löwenstein und die RAG organisierten bzw. unterstützten in der Folge „Kinderrepubliken“ (die erste 1927 im holsteinischen Seekamp), große Zeltlager mit bis zu 10.000 teilnehmenden Kindern, die vier Wochen lang in demokratischer Organisation, ohne Geschlechtertrennung und in pazifistischem Geist zusammenlebten. 1932 fand in Draveil bei Paris die erste internationale Kinderrepublik statt.
Als Jude und linker Schulpolitiker zog Löwenstein den Hass der politischen Rechten, insbesondere der NSDAP, auf sich. Was ihm in einem von den Nationalsozialisten beherrschten Staat in letzter Konsequenz drohen konnte, wurde nicht zuletzt an einer Äußerung des Leiters des NS-Lehrerbundes, Hans Schemm, aus dem Jahre 1931 deutlich, der meinte, Leute wie Löwenstein würden „im Dritten Reich erschossen oder gehenkt“. Und tatsächlich fand einige Wochen nach der ‚Machtergreifung‘ ein Überfall auf seine Neuköllner Wohnung in der Geygerstraße 3 statt. Am 27. Februar 1933, nachts um 3:15 Uhr, drangen zwei SA-Leute ein, zerschlugen die Einrichtung und schossen zehnmal durch die verbarrikadierte Schlafzimmertür, hinter der sich die Familie befand.
Spätestens damit war das Signal zur Flucht gegeben. Löwenstein wich zuerst nach Prag, später dann nach Frankreich aus. Die Familie ließ sich in Draveil nieder, dem Ort der Kinderrepublik von 1932. Hier blieben Löwenstein nur wenige aktive Lebensjahre, am 8. Mai 1939 starb er infolge eines auf offener Straße erlittenen Herzinfarkts.
Löwenstein beschloss sein Leben als einer der einflussreichsten und wirkmächtigsten SPD-Schulpolitiker der Weimarer Zeit und als ein den Menschen stets in den Mittelpunkt seines Denkens stellender Freigeist. Sein Sohn Dyno Löwenstein fasste es in einer biographischen Skizze so zusammen: „Von frühester Jugend an entwickelte Kurt einen praktischen Humanismus, der mit Güte und Energie sich selbst, seine unmittelbare Umgebung und die weitere Umwelt der Unterdrückten verbessern wollte.“
Literatur:
Kurt Löwenstein: Sozialismus und Erziehung. Eine Auswahl aus den Schriften 1919–1933. Berlin / Bonn–Bad Godesberg 1976.
Kay Schweigmann-Greve: Kurt Löwenstein. Demokratische Erziehung und Gegenwelterfahrung. Berlin 2016.