Kurt Löwenstein (18. Mai 1885 – 8. Mai 1939)

„Die Revolutionierung der Köpfe geht der sozialen Revolution voran“

| von
Foto: Konstantin Börner
Kurt Löwenstein in der Kinderrepublik „Solidarität“ in Draveil bei Paris (1932)

Beitragsbild: Archiv der Arbeiterjugendbewegung (AAJB), Fotosammlung, PH-B 277

Vor 140 Jahren, am 18. Mai 1885, wurde Kurt Löwenstein geboren. Als jüdischer SPD-Schulpolitiker und Pädagoge der Weimarer Republik kämpfte er für weltliche, demokratische Bildung und die Rechte von Kindern. Er etablierte die erste integrierte Gesamtschule Deutschlands und gründete die „Kinderrepubliken“, in denen Kinder demokratische Werte lebten und erfuhren.

Als Kurt Löwen­stein, der vor 140 Jah­ren im nie­der­säch­si­schen Ble­cke­de gebo­ren wur­de, in einer Ter­tia mit dem Tod eines Schü­lers kon­fron­tiert war, wich er von sei­nem ursprüng­li­chen Vor­ha­ben ab, eini­ge Wor­te der Erin­ne­rung zu spre­chen – statt­des­sen erleb­ten alle „gemein­schaft­lich die Tat­sa­che des Todes in engs­ter mensch­li­cher Ver­bun­den­heit. Nicht der Ver­lust, nicht die Trau­er beherrsch­te die­se fei­er­li­chen Minu­ten […]. Ich habe die­ses Erleb­nis nie ver­ges­sen […].“ Den Schü­lern ging es nicht anders, und noch nach vie­len Jah­ren gab es man­chen, der „die Erin­ne­rung an die­se Minu­ten […] zu den schöns­ten Erin­ne­run­gen sei­nes Lebens zählt[e].“ Den Wunsch, als Päd­ago­ge zu wir­ken und Kin­dern und Jugend­li­chen das geis­ti­ge Rüst­zeug fürs Leben mit­zu­ge­ben, hat der Sohn jüdi­scher Eltern schon früh ver­spürt. Anfangs gera­de­zu ein reli­giö­ser „Eife­rer“, ver­ließ er 1906 die staat­li­che Schu­le, um ortho­do­xer Rab­bi­ner zu wer­den. Doch all­mäh­lich wuch­sen – auf­grund wel­cher genau­en Umstän­de, ist nicht bekannt – sei­ne reli­giö­sen Zwei­fel, und er wur­de Mit­glied der Deut­schen Gesell­schaft für ethi­sche Kul­tur. Für die­se ver­fass­te er Arti­kel und hielt Vor­trä­ge, Letz­te­res auch für die frei­re­li­giö­se Gemein­de in Han­no­ver. Dort lern­te er 1910 Mara Ker­wel (1891–1962) ken­nen und hei­ra­te­te sie ein Jahr spä­ter. Im Wunsch nach abso­lu­ter Gleich­be­rech­ti­gung der bei­den Ehe­part­ner setz­ten sie einen ent­spre­chen­den Ehe­ver­trag auf und gaben sich – obschon dies von den Behör­den nicht akzep­tiert wur­de – den neu­en gemein­sa­men, aus den bis­he­ri­gen Nach­na­men zusam­men­ge­setz­ten Namen Ker­löw.

Wie­wohl als Reichs­tags­ab­ge­ord­ne­ter (zuerst der USPD, dann der SPD) unun­ter­bro­chen von 1920 bis 1933 auch in der ‚gro­ßen Poli­tik‘ aktiv, ent­fal­te­te sich sein Gestal­tungs­ver­mö­gen vor allem auf kom­mu­na­ler Ebe­ne. 1921 wur­de Löwen­stein mit der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen und kom­mu­nis­ti­schen Mehr­heit der Neu­köll­ner Bezirks­ver­ord­ne­ten zum Bezirks­stadt­rat für das Schul­we­sen gewählt. Gemein­sam mit dem Schul­re­for­mer Fritz Kar­sen (1895–1951) refor­mier­te, ja revo­lu­tio­nier­te Löwen­stein das ört­li­che Volks­bil­dungs­we­sen, setz­te sich etwa für die welt­li­che Schu­le ein, wei­te­te die Schul­spei­sun­gen aus, oder erreich­te eine Staf­fe­lung der Schul­gel­der. Krö­nung sei­ner und Kar­sens Bemü­hun­gen war die Umge­stal­tung des Kai­ser-Fried­rich-Real­gym­na­si­ums zur ers­ten inte­grier­ten Gesamt­schu­le in Deutsch­land (ab 1930 mit dem Namen Karl-Marx-Schu­le).

Sein fort­wäh­ren­der Kampf um die Welt­lich­keit des Schul­we­sens wur­de von sei­nen Geg­nern oft als anti­re­li­giö­ser Kampf auf­ge­fasst und schwer bekämpft. Nichts lag Löwen­stein fer­ner: „Wenn man Kir­chen beschmiert, ist das kein Kul­tur­mit­tel. Her­ab­set­zung ist es auch nicht. Außer­dem ist die­ses Ver­fah­ren dumm. Indif­fe­ren­te, die wir wer­ben wol­len, sto­ßen wir dadurch ab. Ich begrü­ße es, daß von den frei­geis­ti­gen Ver­bän­den ganz all­ge­mein die­se Ver­fah­ren abge­lehnt wer­den […]. Jeder von uns, wo er auch ste­he, sor­ge dafür, daß der Frei­den­ker in der Öffent­lich­keit Vor­bild ist. Wir haben dafür zu sor­gen, daß jeder erkennt, daß das Frei­den­ker­tum kei­ne geis­ti­ge Armut und Min­der­wer­tig­keit ist, son­dern ein star­ker Wil­le zum Idea­lis­mus. Wir müs­sen bes­se­re For­men haben“, führ­te er am 6. Juni 1931 in einer Rede aus.

Dane­ben ist Löwen­steins Name engs­tens mit der Kin­der­freun­de-Bewe­gung ver­bun­den. 1908 bereits in Öster­reich begrün­det, fand die­se erst Anfang der 1920er Jah­re ihren Weg nach Deutsch­land. Im Novem­ber 1923 kam es – als Glie­de­rung der SPD – zur Grün­dung der Reichs­ar­beits­ge­mein­schaft der Kin­der­freun­de (RAG), ein Jahr spä­ter wur­de Löwen­stein ihr Vor­sit­zen­der. Löwen­stein und die RAG orga­ni­sier­ten bzw. unter­stütz­ten in der Fol­ge „Kin­der­re­pu­bli­ken“ (die ers­te 1927 im hol­stei­ni­schen See­kamp), gro­ße Zelt­la­ger mit bis zu 10.000 teil­neh­men­den Kin­dern, die vier Wochen lang in demo­kra­ti­scher Orga­ni­sa­ti­on, ohne Geschlech­ter­tren­nung und in pazi­fis­ti­schem Geist zusam­men­leb­ten. 1932 fand in Dra­veil bei Paris die ers­te inter­na­tio­na­le Kin­der­re­pu­blik statt.

Als Jude und lin­ker Schul­po­li­ti­ker zog Löwen­stein den Hass der poli­ti­schen Rech­ten, ins­be­son­de­re der NSDAP, auf sich. Was ihm in einem von den Natio­nal­so­zia­lis­ten beherrsch­ten Staat in letz­ter Kon­se­quenz dro­hen konn­te, wur­de nicht zuletzt an einer Äuße­rung des Lei­ters des NS-Leh­rer­bun­des, Hans Schemm, aus dem Jah­re 1931 deut­lich, der mein­te, Leu­te wie Löwen­stein wür­den „im Drit­ten Reich erschos­sen oder gehenkt“. Und tat­säch­lich fand eini­ge Wochen nach der ‚Macht­er­grei­fung‘ ein Über­fall auf sei­ne Neu­köll­ner Woh­nung in der Gey­ger­stra­ße 3 statt. Am 27. Febru­ar 1933, nachts um 3:15 Uhr, dran­gen zwei SA-Leu­te ein, zer­schlu­gen die Ein­rich­tung und schos­sen zehn­mal durch die ver­bar­ri­ka­dier­te Schlaf­zim­mer­tür, hin­ter der sich die Fami­lie befand.

Spä­tes­tens damit war das Signal zur Flucht gege­ben. Löwen­stein wich zuerst nach Prag, spä­ter dann nach Frank­reich aus. Die Fami­lie ließ sich in Dra­veil nie­der, dem Ort der Kin­der­re­pu­blik von 1932. Hier blie­ben Löwen­stein nur weni­ge akti­ve Lebens­jah­re, am 8. Mai 1939 starb er infol­ge eines auf offe­ner Stra­ße erlit­te­nen Herz­in­farkts.

Löwen­stein beschloss sein Leben als einer der ein­fluss­reichs­ten und wirk­mäch­tigs­ten SPD-Schul­po­li­ti­ker der Wei­ma­rer Zeit und als ein den Men­schen stets in den Mit­tel­punkt sei­nes Den­kens stel­len­der Frei­geist. Sein Sohn Dyno Löwen­stein fass­te es in einer bio­gra­phi­schen Skiz­ze so zusam­men: „Von frü­hes­ter Jugend an ent­wi­ckel­te Kurt einen prak­ti­schen Huma­nis­mus, der mit Güte und Ener­gie sich selbst, sei­ne unmit­tel­ba­re Umge­bung und die wei­te­re Umwelt der Unter­drück­ten ver­bes­sern woll­te.“

Lite­ra­tur:
Kurt Löwen­stein: Sozia­lis­mus und Erzie­hung. Eine Aus­wahl aus den Schrif­ten 1919–1933. Ber­lin / Bonn–Bad Godes­berg 1976.
Kay Schweig­mann-Gre­ve: Kurt Löwen­stein. Demo­kra­ti­sche Erzie­hung und Gegen­welt­erfah­rung. Ber­lin 2016.

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