Professor Wulf, Sie sind Erziehungswissenschaftler und Anthropologe. Gehört das zusammen? Brauchen Bildungsprozesse Menschenbilder?
Wenn man jemanden nach den Gründen für sein pädagogisches Handeln fragt, wird er nicht umhinkommen, mit Bezugnahmen auf sein Menschenbild zu antworten. Menschenbilder dienen zur Erzeugung und zur Begründung von Erziehungs- und Bildungsprozessen. Sie bilden den normativen Hintergrund für pädagogisches Handeln. Doch es ist kaum möglich, konkrete Handlungen aus Menschenbildern „abzuleiten“. Menschenbilder sind so allgemein, dass sich mit ihnen unterschiedliche und sogar widersprüchliche pädagogische Handlungen und Bildungsprozesse begründen lassen. Eine wichtige Funktion von Menschenbildern besteht darin, dass mit ihrer Hilfe bestimmte gegen sie verstoßende Handlungen und Prozesse ausgeschlossen werden können. In den modernen Demokratien spielen die Menschenrechte und das ihnen zugrunde liegende Menschenbild eine zentrale Rolle. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ ist ein Satz, der das unserer Verfassung zugrundeliegende Menschenbild in verdichteter Form ausdrückt. Dieser Satz unterbindet viele gegen seine Norm verstoßende Handlungen, erlaubt aber dennoch auch unterschiedliche, z.T. konfligierende Interpretationen und Verhaltensweisen. Um Bildungsprozesse zu entwerfen und zu begründen, bedarf es der Interpretation von Menschenbildern im Hinblick auf pädagogisches Handeln. So wichtig sie sind, sie allein reichen meistens nicht aus zur Entscheidung für oder gegen konkrete Bildungsmaßnahmen.
Menschenbilder sind oftmals normativ und verallgemeinernd. Sie haben dann die Tendenz, Anderes und Besonderes auszuschließen. Wie geht moderne Anthropologie mit diesem Problem um?
Anthropologie und Pädagogische Anthropologie bemühen sich in ihren Forschungen darum, das Allgemeine und das Besondere aufeinander zu beziehen und nach Möglichkeit miteinander zu verbinden. In der Anthropologie sind es heute vor allem vier Richtungen, von denen zwei eher das Allgemeine und zwei eher das Singuläre fokussieren, die miteinander zu verflechten sind. An eher allgemeinen Erkenntnissen sind die Forschungen zur Evolution des Menschen, zur Hominisation interessiert. Ihnen geht es um die Entstehung und die Entwicklung des Homo sapiens und darum zu zeigen, was für ihn charakteristisch ist, unabhängig davon, wo und in welcher Kultur er lebt. Auch die im letzten Jahrhundert entwickelten Philosophischen Anthropologien Max Schelers, Helmuth Plessners und Arnold Gehlens zielen mit Hilfe eines Vergleichs zwischen dem Menschen und dem Tier eher auf allgemeine Merkmale, die den Menschen vom Tier unterscheiden. Zu diesen gehören unter anderen die Frühgeburt des Menschen, die mit einer residualen Instinktausstattung verbunden ist, und die „Exzentrizität“, die es dem Menschen erlaubt, sich aus dem Zentrum seines Körpers mit Hilfe der Phantasie und der Sprache herauszubewegen – in die Vergangenheit, die Zukunft, in die Befindlichkeit anderer Menschen usw.
Im Unterschied zu diesen beiden Richtungen betont die zunächst in Frankreich entwickelte Historische Anthropologie die Bedeutung der Geschichtlichkeit des menschlichen Lebens und Erlebens. So macht es einen großen Unterschied, ob wir im Mittelalter leben, in der Zeit der Aufklärung oder heute im Anthropozän, im Zeitalter des Menschen, in dem der Mensch weitgehend die Geschicke des Planeten bestimmt. Hier interessiert mit dem Blick zurück in die Geschichte das Besondere, das Singuläre der jeweiligen Zeit. Auch die Kulturanthropologie ist eher an den Unterschieden zwischen den verschiedenen Kulturen interessiert. Was unterscheidet heute einen Inder von einem Chinesen, einem Europäer, einem Amerikaner? Hier ist es der Vergleich gegenwärtiger Kulturen, der deren Unterschiede und ihr Gemeinsames verstehen und erklären will.
Um zu einem besseren Verständnis des menschlichen Lebens und der Bildung zu kommen, verbindet die Anthropologie heute die Betrachtungsweisen der vier Richtungen.
Bekommt Anthropologie auf diese Weise auch globale Prozesse in den Blick?
Ja, denn sie erforscht auch hybride Phänomene und Prozesse, die ihren Ursprung in verschiedenen Kulturen und historischen Phasen haben. Im Zusammenhang mit Bildungsprozessen ist oft von „glokalen“ (global und lokal zugleich) Prozessen die Rede, die heute immer mehr Raum einnehmen. Mit der anthropologischen Betrachtungsweise wird die Komplexität heutiger Lebens- und Bildungsprozesse besser verständlich, für deren Gestaltung es wichtig ist, die Verflechtungen der globalen und der lokalen Prozesse zu begreifen. Der Klimawandel ist ein sichtbares Beispiel, das zeigt, wie wichtig es ist, eine eher universelle mit einer singulären Perspektive zu verbinden.
Prof. Dr. Christoph Wulf (*1944 in Berlin) lehrt Anthropologie und Erziehung an der Freien Universität Berlin. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf Fragen historischer und kultureller Anthropologie sowie der Pädagogischen Anthropologie. Er ist Vizepräsident der deutschen UNESCO-Kommission.
Ihr neues Buch heißt „Bildung als Wissen vom Menschen im Anthropozän“. Was ist das und braucht unser Erdzeitalter wirklich einen neuen Begriff?
Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Einsicht, dass Natur und Kultur das gemeinsame Erbe des Menschen ausmachen. Immer deutlicher sehen wir heute, dass wir mit dem Erbe „Natur“ nicht gut umgegangen sind. Unter Anthropozän, dem Zeitalter des Menschen, in dem dieser das Schicksal des Planeten bestimmt, werden meistens die ungewollten Wirkungen der Industrialisierung und Modernisierung verstanden. Dazu gehören vom Menschen verursacht: der Klimawandel, die Zerstörung der Biodiversität, die gestörten biogeochemischen Kreisläufe, die Versauerung der Ozeane und die Verschmutzung des Planeten mit der Gefahr der Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschen, Tiere und Pflanzen. Oft weniger deutlich gesehene Aspekte kommen hinzu: Welche Rolle spielen zum Beispiel in diesen Prozessen der Beherrschung und Zerstörung des Planeten die Maschinen? Ihre Entwicklung reicht von der Dampfmaschine über die Prothetik bis zur Robotik. Wichtige Motoren der Entwicklung sind dabei die digitale Kultur und die Künstliche Intelligenz. Welche Rolle können diese bei der Korrektur der negativen Entwicklungen des Anthropozäns spielen? Ohne die Digitalisierung wäre es nicht zu den Entwicklungen der Gentechnologie gekommen. Mit der Erfindung und Nutzung der CRISPR-Technologie, deren Protagonisten in diesem Jahr den Nobelpreis erhalten haben, werden Eingriffe in die Evolution möglich, die auch zur Intensivierung der Dynamik des Anthropozäns führen können. Gibt es Möglichkeiten, die Gefahren und negativen Auswirkungen dieser Entwicklungen zu vermeiden oder sie sogar zu kompensieren? Hier entstehen viele nur schwer beantwortbare anthropologische Fragen, die für ein historisch und kulturell reflexives (Selbst-) Verständnis des Menschen von zentraler Bedeutung sind.
Sie schreiben auch, aus dem Anthropozän ergeben sich neue Verantwortungen und Verpflichtungen zur Solidarität. Warum und welche?
Im Herbst 2015 verabschiedete die UN-Staatengemeinschaft in New York 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung. Die Ziele lassen sich fünf Bereichen zuordnen: „Menschen“ (Armut und Hunger, Leben in Würde, Gleichheit, gesunde Umwelt), „Planet“ (Schutz der Ökosysteme), „Frieden“ (Inklusion, Frieden, Gerechtigkeit), „Wohlstand“ (Wohlergehen aller Menschen durch wirtschaftliche und technische Entwicklung), „Kooperation“. Die Realisierung dieser Aufgaben soll sich an den Prinzipien Universalität, Unteilbarkeit, Inklusion, Rechenschaftspflicht, Partnerschaftlichkeit orientieren.
Die Entwicklung dieses Aktionsprogramms 2030 ist Ausdruck der weltweiten Sorge der Menschheit um ihre Zukunft. Zu den für die Realisierung dieses Aktionsprogramms wichtigsten Bereichen gehören Erziehung und Bildung. Ziel ist hier eine inklusive, gleichberechtigte, hochwertige und lebenslange Erziehung und Bildung. Das Programm basiert auf einer humanistischen Vision von Erziehung und Entwicklung, die auf den Menschenrechten und der Menschenwürde, auf sozialer Gerechtigkeit, Sicherung, kultureller Vielfalt und gemeinsamer Verantwortung beruht.
Die Bedeutung von Bildung würde vermutlich kaum jemand prinzipiell bestreiten. Aber kann man das auch überschätzen? Ist zum Beispiel beim Klima wirklich mangelndes Wissen das Problem? Die meisten Leute wissen das doch alles oder aber sie beziehen sich auf „alternatives Wissen“.
An dem Aktionsprogramm 2030 wird deutlich: Von den 17 Zielen künftiger Entwicklung richtet sich ein Ziel auf die Entwicklung von Bildung. Doch auch die anderen Ziele können nur erreicht werden, wenn sie Eingang in Bildung und Handlungshorizont der Menschen finden. Dennoch ist damit noch nicht die Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung erreicht. Skepsis ist geboten. Zwar hat Bildung die Entwicklung der Menschen zum Ziel. Doch heißt das noch lange nicht, dass das Bildungssystem die Kraft hat, gesellschaftliche Verhältnisse wirklich zu verbessern. Dennoch gibt es keine andere Möglichkeit als zu versuchen, das Potential der Bildung im Sinne ihres Beitrags zur nachhaltigen Entwicklung auszuschöpfen. Diese von der Weltgemeinschaft für die nächsten Jahre formulierten Ziele können nicht durch Bildung allein erreicht werden. Es bedarf alle gesellschaftlichen Bereiche umspannende Anstrengungen. Doch auch dann ist es keineswegs sicher, ob diese für das Überleben der Menschen und des Planeten so wichtigen Ziele nicht nur „große Erzählungen“ (Lyotard) sind, die uns darüber hinwegtäuschen, dass wir vieles von dem, was wir für richtig halten, nicht verwirklichen können.
Diese Zielvorstellungen erinnern an die großen Utopien der europäischen Geschichte: Platons Politeia, Tommasio Campanellas Sonnenstaat, Thomas Morus’ Utopia. Die Reihe ließe sich fortsetzen. Utopien und utopisches Denken üben im Bereich der Bildung eine Faszination aus, der sich kaum jemand entziehen kann. Sie zeigen, was möglich wäre, wenn die Menschen nicht so wären, wie sie sind, und wenn sich die Utopien verwirklichen ließen. Utopien haben die Tendenz, die Vielfalt und Widersprüchlichkeit menschlichen Lebens zugunsten festgelegter Ziele einzuschränken. Die angestrebte Entwicklung von Nachhaltigkeit ist vielgestaltiger als alle bisher entworfenen Utopien. Um ihre Ziele zu verwirklichen, bedarf es in vielen gesellschaftlichen Bereichen tiefgreifender Veränderungen, für deren mehr oder weniger gelingende Realisierung auch der Bildung Bedeutung zukommt.
„Be kind; everyone you meet is fighting a hard battle“ heißt es bei Ian Maclaren („Sei freundlich, denn jedes Wesen, das du triffst, kämpft eine schwere Schlacht“). Wie gelingt Bildung, damit sie nicht nur Wissen, sondern auch Humanität schafft?
Bildung ist nicht nur, wie es von vielen internationalen Untersuchungen implizit unterstellt wird, eine Frage der Vermittlung von Wissen. Bildung im Sinne der UNESCO umfasst die Entwicklung des „ganzen Menschen“. Das schließt die Bildung der Sinne und der Emotionen, des moralischen Verhaltens ein, in dem Mitgefühl, Empathie und Verantwortung für die Natur, Tier und Mensch eine Rolle spielen. Nach wie vor müssen Methoden der Bildung und des Lernens Anwendung finden, bei denen jungen Menschen Ziel und Verlauf ihres Lernens selbst festlegen. Dazu muss entdeckendes bzw. forschendes Lernen weiter an Bedeutung gewinnen. Jugendliche müssen die Möglichkeit bekommen, Teile ihre Aufgaben selbst zu bestimmen und selbständig zu lösen. Sie müssen lernen, die dazu erforderlichen Mittel selbst zu finden und in ihren Lernprozess zu integrieren. Ziel ist nicht allein, bereits fest etabliertes Wissen zu erwerben, sondern es geht mehr darum, einen Prozess zu entwickeln, in dem junge Menschen Antworten auf offene Fragen finden. Es gilt, die Eigentätigkeit und Eigenständigkeit zu fördern. Der Weg ist das Ziel und weniger das in einem Test abrufbare Wissen. Entdeckendes bzw. forschendes Lernen sind wichtige Formen eines schülerzentrierten Lernens, das es weiterzuentwickeln gilt.