Joachim, wieso hast du dich damals für Theologie entschieden? Und wann und wodurch hast du den Glauben verloren? Ging das plötzlich oder gab es Zwischenstadien zweifelnder Gläubigkeit?
Ich wollte „den Menschen helfen“. Es war also ein naiver, aber redlicher philanthropischer Impuls – ich hatte auch überlegt, Lehrer zu werden. Während des Studiums verlor ich meinen Glauben dann peu à peu. Es war vor allem die historisch-kritische Bibelexegese, die ihre zersetzende Wirkung hatte: keine Wunder, alles oder das meiste „unecht“. Viele biblische Aussagen gehen nicht auf Jesus zurück, sondern sind nachträgliche Erfindungen von frühchristlichen Gemeinden, sogenannte „Gemeindebildung“. Ich suchte auch die Diskussion mit freigeistigen Studenten, die weiter waren als ich und denen meine letzten Versuche nichts mehr bieten konnten. Schließlich war mir klar: Meine Theologie war am Ende. Dennoch promovierte ich in Theologie, bereits als innerer Atheist, um später bessere Chancen beim geplanten Zweitstudium in Philosophie zu haben. Zwei externe Bücher übten eine hilfreiche Funktion aus: Bertrand Russell „Warum ich kein Christ bin“ und Gerhard Szczesny „Die Zukunft des Unglaubens“ von 1958, das damals eine avantgardistische Funktion hatte.
Was hat dann anschließend den Sozialismus für dich attraktiv gemacht? Und wodurch bist du letztlich auch davon wieder abgekommen?
Es war weniger der Sozialismus als der Marxismus, der mich faszinierte wie viele europäische Intellektuelle. Vor allem die geschlossene Form und der emanzipatorische Anspruch sprachen mich an. Der Marxismus hatte eine ersatzreligiöse Rolle für mich. Bis 1989/90 die entlarvende „Wende“ kam und der real existierende Sozialismus mitsamt seiner Ideologie zusammenbrach. Das aufklärerische Klima der liberalen Thomas-Dehler-Stiftung in Nürnberg, wo ich als Referent wirkte, tat ein Übriges.
Dein Buch „Elend des Christentums“, das du als damals 27-Jähriger geschrieben hast, hat über die Jahrzehnte drei Auflagen erlebt (1968, 1993, 2014). Siehst du heute wesentliche Aspekte des Christentums anders als 1968? Wie waren die damaligen Reaktionen auf dein Buch?
Die Reaktionen waren heftig, weil das Buch damals eine aufklärerische Bresche schlug, während es heute ja religionskritische Literatur im Überfluss gibt. Das „Elend“ gilt heute zu Recht als Klassiker, dessen wesentliche Aspekte ich nach wie vor bejahe.
„Das Elend des Christentums” von Joachim Kahl erschien zuerst 1968. Hier abgebildet ist die 1993 überarbeitete und erweiterte Neuausgabe als Rowohlt Taschenbuch.
In deiner Aufsatzsammlung „Weltlicher Humanismus“ von 2005, die aus vielfältiger Vortragstätigkeit hervorgegangen ist, wirkst du im Hinblick auf die Religionskritik deutlich gemäßigter. Bist du im Lauf der Jahre zahm geworden?
Ich bin nicht zahm, sondern differenzierter und reifer geworden. Im erwähnten Buch steht die positive humanistische Alternative im Mittelpunkt.
Deine Ausführungen zum „Gentleman-Ideal“ und zum Familienbild gelten als konservativ und haben vor 16 Jahren in humanistischen Kreisen teils heftige Kritik hervorgerufen (siehe „Humanismus aktuell“, Heft 17, 2005). Hast du seither umgedacht? Verstehst du die Vorbehalte?
Das Gentleman-Ideal in seiner von mir reformierten und modernisierten Gestalt ist ein wertkonservatives humanistisches Ideal, das ich noch immer vertrete. Alles Humanistische hat eine wertkonservative Dimension. In puncto gleichgeschlechtliche Ehe habe ich mich dem eingetretenen gesetzlichem Wandel angepasst.
Die mediale Welle des „Neuen Atheismus“ ist nun auch schon über zehn Jahre her. Du warst damals kritisch-distanziert. Wie fällt dein Urteil mit zeitlichem Abstand aus? War die neue Deutlichkeit der Tonlage im Rückblick nicht doch nützlich?
Der aggressive Ton war werbemäßig hilfreich, was ich damals schon eingeräumt habe, hat aber die theoretischen Mängel nicht wettmachen können.
Du hast immer wieder auch Kunstwerke interpretiert. Welche Rolle spielt Ästhetik in deinem Leben und im Humanismus?
Das menschliche Leben und seine reifste Deutung in Gestalt des Humanismus sind ohne Ästhetik ärmlich. Es geht seit Plato um den Dreiklang das Wahren, Guten und Schönen.
Welche kirchlichen Feiertage würdest du säkular (um-)interpretieren, um sie für Konfessionsfreie zu „retten“?
Weihnachten und Ostern, weil sie auf einem realen naturgeschichtlichen Fundament aufruhen und nicht, wie etwa Himmelfahrt oder Pfingsten, aus der christlichen Dogmatik heraus erfunden wurden. Goethes „Osterspaziergang“ im Faust gibt hier ein hilfreiches Beispiel.
Unterstützt du die Forderung nach „Ethik für alle“ an öffentlichen Schulen bundesweit oder sollten Religionen und Weltanschauungen ihre Sichtweisen authentisch in eigenen Fächern vermitteln?
Seit 1968 propagiere ich „Religionskunde und Ethik“ als ein gemeinsames Fach für alle. Gerne sollen dort autorisierte Repräsentanten von religiösen und weltlichen Organisationen eingeladen werden können.
Hast du Lieblingsphilosophen, etwa Feuerbach, Marx, Nietzsche für die Religionskritik oder Rousseau, Diderot, Voltaire für die Aufklärung?
Klar habe ich Lieblingsphilosophen! Namentlich sind das Epikur, Mark Aurel, Montaigne, Lessing – mit seiner Ringparabel im Nathan, Hans Blumenberg, Odo Marquard, Franz Josef Wetz.
Du schreibst in jüngster Zeit an einem Humanismus-Brevier. Welche Zielgruppe hast du dabei im Blick? Kannst du schon eine Kernthese dieser neuen Schrift verraten?
Ich stelle vier Persönlichkeiten mit humanistischem Profil vor: Bertha von Suttner, Olympe de Gouges, Fritz Bauer, Nelson Mandela. Und im Schlussteil heißt es „Freiheit im Leben, Freiheit zum Tode“. Ich wünsche mir eine suchend nachdenkliche Leserschaft beliebiger Herkunft zu erreichen, die einen feuilletonistisch-aphoristischen Stil zu schätzen weiß, der Leichtigkeit der Vermittlung und Tiefgang des Gedankens vereint.
Mehr Informationen zu Joachim Kahl, seiner philosophischen Arbeit und seinen Publikationen finden Sie auf seiner Webseite. Wenn Sie mehr zum weltanschaulichen Werdegang und dem Wirken von Joachim Kahl erfahren möchten, empfehlen wir Ihnen den Mitschnitt des ausführlichen Gesprächs von Helmut Fink mit Joachim Kahl für den Kortizes-Podcast „Freigeist” (Nr. 38).