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Zum 80. Geburtstag von Joachim Kahl

„Ich bin nicht zahm, sondern differenzierter und reifer geworden“

| von
Joachim Kahl

Beitragsbild: Evelin Frerk

Der Philosoph Joachim Kahl aus Marburg ist seit Jahrzehnten eine wichtige Stimme für die freigeistig-humanistische Bewegung. Mit seiner Bildungsarbeit, seinen Vorträgen und Publikationen erregte er Aufmerksamkeit über die Verbandslandschaft hinaus und blieb dabei stets dialogfähig bis ins theologische Lager hinein. Aus Anlass des 80. Geburtstages von Joachim Kahl am 12. Mai hat Helmut Fink aus Nürnberg, der den Philosophen seit den 1990er Jahren kennt, ein Gespräch mit ihm geführt, das im Folgenden komprimiert wiedergegeben wird.

Joachim, wieso hast du dich damals für Theologie entschieden? Und wann und wodurch hast du den Glauben verloren? Ging das plötzlich oder gab es Zwischenstadien zweifelnder Gläubigkeit?     

Ich woll­te „den Men­schen hel­fen“. Es war also ein nai­ver, aber red­li­cher phil­an­thro­pi­scher Impuls – ich hat­te auch über­legt, Leh­rer zu wer­den. Wäh­rend des Stu­di­ums ver­lor ich mei­nen Glau­ben dann peu à peu. Es war vor allem die his­to­risch-kri­ti­sche Bibel­ex­ege­se, die ihre zer­set­zen­de Wir­kung hat­te: kei­ne Wun­der, alles oder das meis­te „unecht“. Vie­le bibli­sche Aus­sa­gen gehen nicht auf Jesus zurück, son­dern sind nach­träg­li­che Erfin­dun­gen von früh­christ­li­chen Gemein­den, soge­nann­te „Gemein­de­bil­dung“. Ich such­te auch die Dis­kus­si­on mit frei­geis­ti­gen Stu­den­ten, die wei­ter waren als ich und denen mei­ne letz­ten Ver­su­che nichts mehr bie­ten konn­ten. Schließ­lich war mir klar: Mei­ne Theo­lo­gie war am Ende. Den­noch pro­mo­vier­te ich in Theo­lo­gie, bereits als inne­rer Athe­ist, um spä­ter bes­se­re Chan­cen beim geplan­ten Zweit­stu­di­um in Phi­lo­so­phie zu haben. Zwei exter­ne Bücher übten eine hilf­rei­che Funk­ti­on aus: Bert­rand Rus­sell „War­um ich kein Christ bin“ und Ger­hard Szc­zes­ny „Die Zukunft des Unglau­bens“ von 1958, das damals eine avant­gar­dis­ti­sche Funk­ti­on hat­te.

Was hat dann anschließend den Sozialismus für dich attraktiv gemacht? Und wodurch bist du letztlich auch davon wieder abgekommen?             

Es war weni­ger der Sozia­lis­mus als der Mar­xis­mus, der mich fas­zi­nier­te wie vie­le euro­päi­sche Intel­lek­tu­el­le. Vor allem die geschlos­se­ne Form und der eman­zi­pa­to­ri­sche Anspruch spra­chen mich an. Der Mar­xis­mus hat­te eine ersatz­re­li­giö­se Rol­le für mich. Bis 1989/90 die ent­lar­ven­de „Wen­de“ kam und der real exis­tie­ren­de Sozia­lis­mus mit­samt sei­ner Ideo­lo­gie zusam­men­brach. Das auf­klä­re­ri­sche Kli­ma der libe­ra­len Tho­mas-Deh­ler-Stif­tung in Nürn­berg, wo ich als Refe­rent wirk­te, tat ein Übri­ges.

Dein Buch „Elend des Christentums“, das du als damals 27-Jähriger geschrieben hast, hat über die Jahrzehnte drei Auflagen erlebt (1968, 1993, 2014). Siehst du heute wesentliche Aspekte des Christentums anders als 1968? Wie waren die damaligen Reaktionen auf dein Buch?

Die Reak­tio­nen waren hef­tig, weil das Buch damals eine auf­klä­re­ri­sche Bre­sche schlug, wäh­rend es heu­te ja reli­gi­ons­kri­ti­sche Lite­ra­tur im Über­fluss gibt. Das „Elend“ gilt heu­te zu Recht als Klas­si­ker, des­sen wesent­li­che Aspek­te ich nach wie vor beja­he.

Buchcover "Das Elend des Christentums" von Dr. Joachim Kahl

„Das Elend des Chris­ten­tums” von Joa­chim Kahl erschien zuerst 1968. Hier abge­bil­det ist die 1993 über­ar­bei­te­te und erwei­ter­te Neu­aus­ga­be als Rowohlt Taschen­buch.

In deiner Aufsatzsammlung „Weltlicher Humanismus“ von 2005, die aus vielfältiger Vortragstätigkeit hervorgegangen ist, wirkst du im Hinblick auf die Religionskritik deutlich gemäßigter. Bist du im Lauf der Jahre zahm geworden?    

Ich bin nicht zahm, son­dern dif­fe­ren­zier­ter und rei­fer gewor­den. Im erwähn­ten Buch steht die posi­ti­ve huma­nis­ti­sche Alter­na­ti­ve im Mit­tel­punkt.

Deine Ausführungen zum „Gentleman-Ideal“ und zum Familienbild gelten als konservativ und haben vor 16 Jahren in humanistischen Kreisen teils heftige Kritik hervorgerufen (siehe „Humanismus aktuell“, Heft 17, 2005). Hast du seither umgedacht? Verstehst du die Vorbehalte?         

Das Gen­tle­man-Ide­al in sei­ner von mir refor­mier­ten und moder­ni­sier­ten Gestalt ist ein wert­kon­ser­va­ti­ves huma­nis­ti­sches Ide­al, das ich noch immer ver­tre­te. Alles Huma­nis­ti­sche hat eine wert­kon­ser­va­ti­ve Dimen­si­on. In punc­to gleich­ge­schlecht­li­che Ehe habe ich mich dem ein­ge­tre­te­nen gesetz­li­chem Wan­del ange­passt. 

Die mediale Welle des „Neuen Atheismus“ ist nun auch schon über zehn Jahre her. Du warst damals kritisch-distanziert. Wie fällt dein Urteil mit zeitlichem Abstand aus? War die neue Deutlichkeit der Tonlage im Rückblick nicht doch nützlich?     

Der aggres­si­ve Ton war wer­be­mä­ßig hilf­reich, was ich damals schon ein­ge­räumt habe, hat aber die theo­re­ti­schen Män­gel nicht wett­ma­chen kön­nen.

Du hast immer wieder auch Kunstwerke interpretiert. Welche Rolle spielt Ästhetik in deinem Leben und im Humanismus?      

Das mensch­li­che Leben und sei­ne reifs­te Deu­tung in Gestalt des Huma­nis­mus sind ohne Ästhe­tik ärm­lich. Es geht seit Pla­to um den Drei­klang das Wah­ren, Guten und Schö­nen.

Welche kirchlichen Feiertage würdest du säkular (um-)interpretieren, um sie für Konfessionsfreie zu „retten“?      

Weih­nach­ten und Ostern, weil sie auf einem rea­len natur­ge­schicht­li­chen Fun­da­ment auf­ru­hen und nicht, wie etwa Him­mel­fahrt oder Pfings­ten, aus der christ­li­chen Dog­ma­tik her­aus erfun­den wur­den. Goe­thes „Oster­spa­zier­gang“ im Faust gibt hier ein hilf­rei­ches Bei­spiel. 

Unterstützt du die Forderung nach „Ethik für alle“ an öffentlichen Schulen bundesweit oder sollten Religionen und Weltanschauungen ihre Sichtweisen authentisch in eigenen Fächern vermitteln?      

Seit 1968 pro­pa­gie­re ich „Reli­gi­ons­kun­de und Ethik“ als ein gemein­sa­mes Fach für alle. Ger­ne sol­len dort auto­ri­sier­te Reprä­sen­tan­ten von reli­giö­sen und welt­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen ein­ge­la­den wer­den kön­nen.  

Hast du Lieblingsphilosophen, etwa Feuerbach, Marx, Nietzsche für die Religionskritik oder Rousseau, Diderot, Voltaire für die Aufklärung?     

Klar habe ich Lieb­lings­phi­lo­so­phen! Nament­lich sind das Epi­kur, Mark Aurel, Mon­tai­gne, Les­sing – mit sei­ner Ring­pa­ra­bel im Nathan, Hans Blu­men­berg, Odo Mar­quard, Franz Josef Wetz.

Du schreibst in jüngster Zeit an einem Humanismus-Brevier. Welche Zielgruppe hast du dabei im Blick? Kannst du schon eine Kernthese dieser neuen Schrift verraten?       

Ich stel­le vier Per­sön­lich­kei­ten mit huma­nis­ti­schem Pro­fil vor: Ber­tha von Sutt­ner, Olym­pe de Gou­ges, Fritz Bau­er, Nel­son Man­de­la. Und im Schluss­teil heißt es „Frei­heit im Leben, Frei­heit zum Tode“. Ich wün­sche mir eine suchend nach­denk­li­che Leser­schaft belie­bi­ger Her­kunft zu errei­chen, die einen feuil­le­to­nis­tisch-apho­ris­ti­schen Stil zu schät­zen weiß, der Leich­tig­keit der Ver­mitt­lung und Tief­gang des Gedan­kens ver­eint.

Mehr Infor­ma­tio­nen zu Joa­chim Kahl, sei­ner phi­lo­so­phi­schen Arbeit und sei­nen Publi­ka­tio­nen fin­den Sie auf sei­ner Web­sei­te. Wenn Sie mehr zum welt­an­schau­li­chen Wer­de­gang und dem Wir­ken von Joa­chim Kahl erfah­ren möch­ten, emp­feh­len wir Ihnen den Mit­schnitt des aus­führ­li­chen Gesprächs von Hel­mut Fink mit Joa­chim Kahl für den Kor­ti­zes-Pod­cast „Frei­geist” (Nr. 38).

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