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Literaturwissenschaftler Carsten Gansel im Interview

Literatur in der Gesellschaft: Keine simple Widerspiegelung

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Bücherregal

Beitragsbild: cottonbro studio/ Pexels

Warum sind Kunstfreiheit und Autonomie der Kunst so wichtig? Gibt es eine Moral des Erzählens? Und welche Literatur zeichnet der Uwe-Johnson-Preis aus? Wir haben mit dem Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Carsten Gansel über die gesellschaftliche Rolle von Literatur gesprochen – und darüber, was uns Literatur zu den gegenwärtigen Krisen sagen kann.

Herr Professor Gansel, sprechen wir darüber, was Literatur ist, was sie kann und was sie vielleicht sogar soll. Hat Literatur eine gesellschaftliche Aufgabe?

Mit Kunst und Lite­ra­tur schaf­fen moder­ne Gesell­schaf­ten sich For­men der Selbst­be­ob­ach­tung. Lite­ra­ri­sche Tex­te prak­ti­zie­ren mit­hin das „Sicht­bar­ma­chen des Unsicht­ba­ren“, wie der gro­ße Sozio­lo­ge Niklas Luh­mann das gesagt hat. Kunst ins­ge­samt habe daher die Auf­ga­be, die jedem geläu­fi­ge Rea­li­tät „mit einer ande­ren Ver­si­on der­sel­ben Rea­li­tät“ zu kon­fron­tie­ren. Von daher hat Lite­ra­tur eben auch dort hin­zu­ge­hen, wo es weh tut. Inso­fern ist Lite­ra­tur durch kei­ne ande­re Form der Wirk­lich­keits­an­eig­nung zu erset­zen. Dabei ist die Auto­no­mie der Kunst Grund­la­ge dafür, dass Lite­ra­tur mit ihren Geschich­ten eine kri­ti­sche Refle­xi­on der Gesell­schaft betrei­ben kann. Alle Ver­su­che, die Kunst­frei­heit ein­zu­gren­zen, füh­ren zu einer Redu­zie­rung die­ser Auf­ga­be.

Was bedeutet es, wenn diese Idee einer autonomen Kunst nicht mehr von allen geteilt wird?

Es gibt Ten­den­zen, die for­mu­lie­ren, dass Auto­no­mie und Kunst­frei­heit mög­li­cher­wei­se über­holt sei­en. Wür­de eine sol­che Auf­fas­sung sich durch­set­zen, dann wür­de die kri­ti­sche Selbst­be­ob­ach­tung in Fra­ge gestellt. Es bestän­de die Gefahr, Kunst auf Affir­ma­ti­on zu redu­zie­ren. Bei den erzähl­ten Geschich­ten wür­de pein­lich genau dar­auf geach­tet, dass die jeweils gül­ti­gen Nor­men und Wer­te nicht ver­letzt wür­den. Wenn – von wem auch immer – ver­sucht wird, die Kunst­frei­heit zu beschnei­den oder Autorin­nen und Autoren dafür zu rügen, dass sie kri­tisch die Gesell­schaft reflek­tie­ren oder Geschich­ten erzäh­len, die sich quer zu dem befin­den, was die gera­de exis­tie­ren­de poli­tisch-kul­tu­rel­le Auf­fas­sung war oder ist, dann sind wir auf einem sehr pro­ble­ma­ti­schen Weg.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Den­ken wir an die Debat­ten um Gün­ter Grass‘ „Ein wei­tes Feld“ von 1995. In dem Roman fin­det sich eine kri­ti­sche Dar­stel­lung des Wie­der­ver­ei­ni­gungs­pro­zes­ses nach 1989, die als eine Art Kolo­nia­li­sie­rung durch den Wes­ten erzählt wird. Die Haupt­fi­gur Fon­ty spricht von der DDR als einer „kom­mo­den Dik­ta­tur“. Die ver­meint­lich nicht hin­rei­chen­de Ver­ur­tei­lung der DDR wie ein­zel­ne Posi­tio­nen der Figu­ren waren die Grund­la­ge für Abwehr und Ver­riss. Aller­dings hat ein Roman kei­ne Bestä­ti­gung gän­gi­ger poli­ti­scher Auf­fas­sun­gen zu lie­fern, und die Posi­tio­nen sei­ner lite­ra­ri­scher Figu­ren sind schon gar nicht mit dem Autor gleich­zu­set­zen. Ver­gleich­ba­res geschah mit Chris­ta Wolfs „Stadt der Engel“, aktu­ell betrifft dies Uwe Tell­kamp und sei­nen Roman „Der Schlaf in den Uhren“.

Bild: Kon­stan­tin Bör­ner

Prof. Dr. Cars­ten Gan­sel (*1955) ist Pro­fes­sor für Neue­re deut­sche Lite­ra­tur und Ger­ma­nis­ti­sche Lite­ra­tur- und Medi­en­di­dak­tik an der Uni­ver­si­tät Gie­ßen. Er ist Vor­sit­zen­der der Jury zur Ver­lei­hung des Uwe-John­son-Lite­ra­tur­prei­ses sowie des Uwe-John­son-För­der­prei­ses.

Uwe Johnson hat einmal gesagt: „Das Erzählen fängt an, wenn die Geschichte zu Ende ist.“ Agiert Literatur also vor allem retrospektiv? Was kann uns Literatur zu den gegenwärtigen Krisen sagen?

In der Tat. Man braucht einen gewis­sen Abstand, um eine Geschich­te zu erzäh­len. Noch dazu, wenn es um his­to­ri­sche Ereig­nis­se geht. Neh­men wir die For­de­rung nach dem Wen­de­ro­man, der den Herbst 1989 ins Zen­trum stel­len soll­te. Es hat lan­ge gedau­ert, bis Tex­te erschie­nen sind, in denen man die­se Hoff­nung erfüllt sah. Erst 2008 erschien Uwe Tell­kamps „Der Turm“, also um die 20 Jah­re spä­ter, und 2014 Lutz Sei­lers „Kru­so“. Übri­gens zwei Roman, die vor der Aus­zeich­nung mit dem Deut­schen Buch­preis den Uwe-John­son-Preis erhiel­ten. Weil Lite­ra­tur eben kein blo­ßes „Abbild“ und kei­ne simp­le „Wider­spie­ge­lung“ von Gegen­wär­ti­gem ist, braucht es Zeit, bis die Geschichte(n) erzählt wer­den. Weil das so ist, äußern sich vie­le Autorin­nen und Autoren essay­is­tisch oder mit poe­to­lo­gi­schen State­ments. Das kann zum Pro­blem wer­den, weil sie dann in eine ande­re Hand­lungs­rol­le wech­seln, mit­un­ter in jene von poli­ti­schen Hand­lungs­trä­gern. Autorin­nen und Autoren sind kei­ne Pres­se­spre­cher einer Frau Mer­kel oder eines Herrn Scholz – da sind wir wie­der bei der kri­ti­schen Refle­xi­on und Selbst­be­ob­ach­tung von Gesell­schaft –, son­dern genau das Gegen­teil.

Wie stehen Literatur und Erinnerung zueinander?

In Gesell­schaf­ten ste­hen ver­schie­de­ne Grup­pen- und Kol­lek­tiv­ge­dächt­nis­se mit­ein­an­der in Kon­kur­renz, von daher exis­tiert eine Art Streit um die Deu­tungs­ho­heit von Erin­ne­run­gen. Inso­fern ist der „Kampf“ um die Erin­ne­rung ein „Kampf“ um die jewei­li­ge Bewer­tung von Ver­gan­gen­heit, Gegen­wart und Zukunft. In die­sem Aus­hand­lungs­pro­zess erlan­gen spe­zi­fi­sche Erin­ne­rungs­kon­zep­te letzt­lich Hege­mo­nie, kul­tu­rel­le Majo­ri­tät und Macht. Ande­re wer­den als mino­ri­tär ein­ge­stuft und an den Rand gedrängt. Erfah­run­gen und Erin­ne­run­gen, die im domi­nan­ten Kol­lek­tiv­ge­dächt­nis aus­ge­schlos­sen oder ver­drängt wer­den, kön­nen nun gera­de in der Lite­ra­tur Gegen­stand von alter­na­ti­ven Ver­gan­gen­heits­ver­sio­nen sein und auf die­se Wei­se eine Art Gegen­ge­dächt­nis eta­blie­ren. In plu­ra­len Gesell­schaf­ten, die über eine funk­tio­nie­ren­de Öffent­lich­keit ver­fü­gen, besteht somit die Chan­ce, das hege­mo­nia­le Kol­lek­tiv­ge­dächt­nis suk­zes­si­ve durch mino­ri­tä­re Kon­zep­te zu erwei­tern. Von daher darf Lite­ra­tur sich nicht kor­rum­pie­ren las­sen von den jewei­li­gen Mehr­heits­mei­nun­gen.

Bild: Pen­gu­in Ver­lag

Den Uwe-John­son-Preis 2022 erhielt Jen­ny Erpen­beck für ihren Roman „Kai­ros“. Wir haben mit freund­li­cher Geneh­mi­gung der Autorin und des Ver­lags einen Aus­zug dar­aus ver­öf­fent­licht.

Aus­zug lesen.

Wie wird die Diskussion um das Erzählen gegenwärtig geführt?

In der Gegen­wart sind wir bei sehr dif­fi­zi­len Fra­gen, die sich immer wei­ter zuge­spitzt haben. Stich­wort „kul­tu­rel­le Aneig­nung“: Soll es Autorin­nen und Autoren ver­sagt sein, sich des his­to­ri­schen Mate­ri­als und der Geschich­te von Per­so­nen zu bemäch­ti­gen, zu deren „Grup­pe“ sie nicht gehö­ren? Dies hat vor fast 20 Jah­ren bereits Nor­bert Gst­rein pro­ble­ma­ti­siert, der für sei­nen Roman „Das Hand­werk des Tötens“ 2003 den Uwe-John­son-Preis erhal­ten hat. Ihm ist vor­ge­wor­fen wor­den, dass er sich einer frem­den Geschich­te bemäch­tigt hat. Einer Geschich­te, die nicht die sei­ne war. Gst­rein hat die­ses Den­ken in Zustän­dig­kei­ten, die sich aus der „Zuge­hö­rig­keit oder Nicht-Zuge­hö­rig­keit zu einer Grup­pe“ erge­ben, abge­lehnt. Lite­ra­tur ist eben nicht zuletzt Umver­tei­lung von Erfah­rung, und das ist etwas, was das Lesen so fas­zi­nie­rend macht. Wenn Leu­te den Anspruch auf eine Geschich­te erhe­ben wie auf einen Besitz, meint Gst­rein damals, dann wür­de man dem Nicht-Erzäh­len das Wort reden und ein mög­li­cher­wei­se flä­chen­de­cken­des Schwei­gen pro­vo­zie­ren. Ich glau­be, er hat Recht.

In seinen „Vorschlägen zur Prüfung eines Romans“ erwähnt Uwe Johnson den anderen, unterschiedlichen Blick eines Romans. Dazu haben Sie einmal geschrieben, dass es nicht nur darum geht, den unterschiedlichen Blick zu tolerieren, sondern dass jener die Grundlage moralischer und ästhetischer Existenz ist. Was haben Sie damit gemeint?

In dem Augen­blick, da ich davon aus­ge­he, dass mei­ne Posi­ti­on die rich­ti­ge ist, ver­lie­re ich die Fähig­keit, mich mit dem Gegen­über aus­zu­tau­schen. Inso­fern ist der Ansatz der Tole­ranz und das Tole­rie­ren einer ande­ren Posi­ti­on die Grund­la­ge von mensch­li­chem Zusam­men­sein. Ich erin­ne­re an Les­sings „Nathan der Wei­se“. Selbst­ver­ständ­lich gibt es Posi­tio­nen, über die wir nicht dis­ku­tie­ren müs­sen, etwa wenn es um faschis­to­ide Ten­den­zen im klas­si­schen Sin­ne geht. Aber ohne zu ver­su­chen, „die ande­re Sei­te mit ihren eige­nen Augen zu sehen“, wie das Uwe John­son gesagt hat, wird man kei­ne Gesprä­che füh­ren kön­nen, und in lite­ra­ri­schen Tex­ten erzeu­gen „ein­fa­che Wahr­hei­ten“ nichts ande­res denn Kli­schees. Dar­über hin­aus erscheint es mehr als pro­ble­ma­tisch, die eige­nen Wer­te – so gut sie gemeint sein kön­nen – gewis­ser­ma­ßen zu „expor­tie­ren“. Das ist – ich sage das mal poin­tiert – Hybris und das Gegen­teil von Dia­log. Die mora­li­sche Exis­tenz bezieht sich also auf den Autor oder die Autorin selbst, aber nicht auf den Text.

Der Uwe-John­son-Preis wür­digt deutsch­spra­chi­ge Autorin­nen und Autoren, in deren Schaf­fen sich Bezugs­punk­te zu John­sons Poe­tik fin­den und die die deut­sche Ver­gan­gen­heit, Gegen­wart und Zukunft reflek­tie­ren. Der Uwe-John­son-Preis wur­de 1994 erst­mals ver­lie­hen. Er wird von der Meck­len­bur­gi­schen Lite­ra­tur­ge­sell­schaft e.V. gemein­sam mit dem Huma­nis­ti­schen Ver­band Ber­lin-Bran­den­burg KdöR und der Kanz­lei Gentz und Part­ner gestif­tet und im jähr­li­chen Wech­sel mit dem Uwe-John­son-För­der­preis ver­ge­ben.

Worauf bezieht sich die ästhetische Existenz?

Ästhe­ti­sche Exis­tenz bedeu­tet nicht zuletzt, dass gerecht mit den Figu­ren umge­gan­gen wird. Es gibt in den „Mut­mas­sun­gen über Jakob“ von Uwe John­son einen Haupt­mann der Sta­si, Haupt­mann Roh­lfs. John­son bekennt, dass er zunächst einen aukt­oria­len, also einen über­schau­en­den und kom­men­tie­ren­den Erzäh­ler, ein­set­zen woll­te. Aber der hät­te die Sicht von Roh­lfs mög­li­cher­wei­se zu kri­tisch, zu iro­nisch, zu feind­lich wie­der­ge­ge­ben und eine mora­li­sche Bewer­tung gleich mit­ge­lie­fert. So etwas wür­de der Figur scha­den, und daher wur­de, sagt John­son, aus Herrn Roh­lfs ein inne­rer Mono­log. Die­se Gerech­tig­keit des Erzäh­lers gegen­über den Figu­ren ver­mis­se ich in der Gegen­warts­li­te­ra­tur oft­mals. Nicht sel­ten fin­den sich Figu­ren, denen von Anfang an ein Nega­tiv­mar­ker auf­ge­drückt wird und die der Erzäh­ler mora­lisch des­avou­iert. Das kön­nen Figu­ren sein, deren Hal­tun­gen dem Autor oder der Autorin nicht pas­sen oder von denen er glaubt, sie wür­den kei­ne – mei­net­we­gen – poli­tisch kor­rek­te Posi­ti­on ver­tre­ten. Uwe John­son war da ganz klar, und damit kom­men wir auf Ihre Ein­gangs­fra­gen zurück. Für John­son war die „Lie­fe­rung einer Moral“ der Bruch des Ver­tra­ges zwi­schen Autor und Leser.

Das setzen Sie auch mit dem Uwe-Johnson-Preis um?

Beim Uwe-John­son-Preis ist uns etwas immer ganz wich­tig gewe­sen: dass John­son ein Erzäh­len jen­seits der „ein­fa­chen Wahr­hei­ten“ prak­ti­ziert. Dass für ihn Erzäh­len so etwas ist wie ein „Pro­zess der Wahr­heits­fin­dung“. Mit dem Roman oder dem lite­ra­ri­schen Text ist ein Ange­bot gemacht. Die Leser wer­den im Sin­ne von Uwe John­son ein­ge­la­den, die im Roman ange­bo­te­ne „Ver­si­on der Wirk­lich­keit“ mit jener zu ver­glei­chen, die „Sie unter­hal­ten und pfle­gen“. Und dann kommt die­ser wich­ti­ge Satz über den wir schon spra­chen. „Viel­leicht“, fragt John­son zurück­hal­tend, „passt der ande­re, der unter­schied­li­che Blick in die Ihre hin­ein“. Die­se Posi­ti­on von John­son ist für die Gegen­wart unge­mein wich­tig, weil sie Ein­füh­lung, Per­spek­ti­ven­über­nah­me und Dia­log vor­aus­setzt. Die Lite­ra­tur­kri­tik und natür­lich die Lese­rin­nen und Leser soll­ten von daher das Ange­bot wenigs­tens erst ein­mal ernst­haft zur Kennt­nis neh­men. Lite­ra­ri­sche Tex­te, könn­te man mit John­son sagen, sind nicht ein „Spie­gel der Welt“ und auch nicht ihre „Wider­spie­ge­lung“. Nein und noch ein­mal: „es ist eine Welt, gegen die Welt zu hal­ten“. Die „Welt“, die auf die­se Wei­se ent­wor­fen wird, muss man nicht akzep­tie­ren, man kann eine ande­re dage­gen­stel­len. Genau das macht Lite­ra­tur aus.

Vielen Dank für das Gespräch!

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