Seit Beginn der Moderne leben wir in einer Fortschrittsgesellschaft und Traditionen brechen auf. Warum treibt Sie die historische Forschungsarbeit um?
Der Historische Arbeitskreis ist so etwas wie das Gedächtnis der humanistischen Bewegung. Er möchte die Erinnerung an das historische Erbe des organisierten Humanismus bewahren und wachhalten. Im Laufe von 150 Jahren hat die Freidenkerbewegung den politischen und sozialen Fortschritt in unserem Land maßgeblich mitgestaltet. Das Wissen um die 115-jährige Geschichte unseres Verbands, um die Vergangenheit von Freidenkern, Freireligiösen und humanistischen Organisationen, muss meiner Meinung nach Bestandteil unserer humanistischen Identität sein, auf die wir stolz sein können.
Viele Jahre haben Sie den Verband hauptamtlich als Vorstandsvorsitzender geleitet. 2014 sind Sie in den Ruhestand gegangen. Welche Zukunft hat ehrenamtliches Engagement und was macht ein Historischer Arbeitskreis konkret?
Organisationen wie unsere leben von der Beteiligung und dem Einsatz ihrer Mitglieder, Förder_innen und Freiwilligen. Sie sind das Rückgrat des Verbands. Unserem Arbeitskreis gehören zehn fachlich ausgewiesene Personen, Historiker_innen, Philosoph_innen und Politolog_innen an, die ehrenamtlich tätig sind und die Gremien des Verbands in der Geschichts- und Erinnerungspolitik beraten. Thematisch haben wir uns unter anderem mit der Erarbeitung einer Chronik, mit Vorlagen für Gedenk- und Jahrestage sowie der Konzeption für Stadtführungen und ‑rundfahrten „Humanismus in Berlin“ befasst. Wir haben Formate zu 100 Jahre weltliche Schule angeregt und eigene Veranstaltungen beispielsweise mit der Humanismus Stiftung Berlin durchgeführt.
Wie stehen Sie zu der These, die Hinwendung zur Vergangenheit und zu den Wurzeln als eine Reaktion auf oder gar Flucht vor der Beschleunigung der Moderne zu verstehen?
Mit derartigen Thesen einer Neuorientierung der Geschichtskultur kann ich nichts anfangen, eher beobachte ich wachsende Geschichtsvergessenheit und rechtskonservative Deutungsmuster. Wenn diese zudem von der AfD kommen, wird es brandgefährlich, führen sie doch zur Verharmlosung des Nationalsozialismus und befördern Ressentiments, Nationalismus und Rassismus. Die wechselvolle Geschichte der Freidenkerbewegung ernst zu nehmen heißt, das Gedenken daran lebendig zu halten. Die Relevanz unserer Erinnerungskultur gilt es immer wieder neu zu entdecken und neu zu definieren. „Die Geschichte kennt kein letztes Wort“ hat Willy Brandt einmal gesagt.
Manfred Isemeyer war bis 2014 Vorstandsvorsitzender des Humanistischen Verbandes Berlin-Brandenburg und ist ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Humanismus Stiftung Berlin. Seit 2018 koordiniert er ehrenamtlich den Historischen Arbeitskreis.
Der Beitrag erschien zuerst im Magazin der Freund*innen des HUMANISMUS 1 | 2020. Wir danken dem HVD Berlin-Brandenburg für die freundliche Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.