Verfasst in Zusammenarbeit mit Moritz Hopf
„Ich lese auf einmal E‑Mails und beantworte die sogar! Und das mehrmals in der Woche …!“, meinte Aaron, ein langjähriger Ehrenamtlicher bei JuHu Berlin, Mitte April auf die Frage, wie es ihm denn mit dem ganzen Corona-Mist und der Digitalisierung so gehe. Aaron ist Mitte 20, betreut seit vielen Jahren unsere Ferienreisen und hat sehr zum Leidwesen unserer hauptamtlichen Bildungsreferent*innen noch nie auch nur eine Mail beantwortet. Fragen wie „Kommst du zum Teamtreffen? Welches Camp willst du im Sommer leiten?“ oder „Wann können wir uns zum Auswertungsgespräch treffen?“ blieben entweder unbeantwortet oder wurden über Messenger, die Sozialen Medien und telefonisch geklärt. Da das aber ganz und gar nicht untypisch war, führen wir sogar eine extra Liste, welche Ehrenamtlichen wir über welchen Kanal erreichen: Franzi reagiert nur auf Facebook, Lisa nur bei WhatsApp, Karo erreicht man grundsätzlich nur über TikTok …
Aaron war, wie viele unserer ehrenamtlich engagierten jungen Leute im humanistischen Jugendverband, hauptsächlich in den Sozialen Medien oder persönlich anzutreffen. Das Medium E‑Mail hatte für ihn als Student bis dato keine Relevanz und war schlichtweg etwas für „Alte Leute“ oder „das Prüfungsamt“. Puh … doch alles änderte sich Anfang letzten Jahres. Die drastischen Veränderungen und Anpassungen, die wie ein Brandbeschleuniger die Digitalisierung vorangetrieben haben, betrafen und betreffen vor allem auch Schüler*innen, Auszubildende, Student*innen – also unsere JuHus.
Vor Corona bedeutete humanistische Jugendverbandsarbeit für uns alle vor allem einen selbstbestimmten, freiwilligen und kreativen Lernraum, um eigene Projektideen umzusetzen und mit dem Freundeskreis zusammen etwas für Kinder und Jugendliche in der Freizeit auf die Beine zu stellen. Selbstorganisation, Verantwortung, Gemeinschaft – das war die Motivation für Kinderferienlager, Kreativ-Wochenenden, Mädchentreffs und vieles mehr. Doch inzwischen leben wir seit über einem Jahr mit Homeschooling, Online-Uni, Zoom-Meetings, Spieleabenden über Discord und sogar ganzen digitalen Wochenenden. Und Aaron liest jetzt sogar Mails!
Dass in dieser Zeit aber auch die sogenannten Digital Natives irgendwann „mütend“ werden, hätte wohl niemand vermutet! Auch bei JuHu Berlin mussten wir im vergangenen Jahr viele Angebote absagen, umbuchen oder eben in neue, digitale Räume verlegen.
Während die meisten Bereiche der Gesellschaft wie Wirtschaft, Bildung oder Verwaltung teilweise mit starken Schwierigkeiten bei ihrer Verlagerung ins Digitale zu kämpfen hatten, sollte man meinen, dass es der Jugend(verbands)arbeit da leichter fiel? – „Die junge Generation sitzt doch eh den ganzen Tag vor Screens!“, so wird es immer gern behauptet. Während diese Annahme unter normalen Umständen nicht nur grob verallgemeinernd und falsch wäre, trägt sie in den aktuellen Zeiten leider einen wahren Kern in sich und ist für viele Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zur mittlerweile eher fremdbestimmten, traurigen und erzwungenen Realität geworden.
Nach einem ganzen Schul- oder Uni-Tag mit digitaler Bestrahlung fehlt im Anschluss einfach die Energie, auch noch die Freizeit mit digitalen Angeboten zu verbringen. Und wie soll denn eine digitale Ferienreise aussehen? Wie soll man ein Hoffest bei Lagerfeuer und Musik digitalisieren? Oder erlebnispädagogisch geprägte Formate wie Kletterparcours, Nachtwanderungen oder Kanu-Touren?
Selbst als Freiwillige*r bei den Berliner JuHus ist nach einem langen Homeoffice-Tag die Lust auf ein „digitales Teamtreffen“ im Anschluss eher gering. Wenn das Freizeitangebot im gleichen Format wie die Büro-Meetings stattfindet, geht auch der Anspruch, den Jugendverband als Lernort und Freiraum jenseits von Uni, Elternhaus oder Schule zu gestalten, verloren. Seine pädagogische Grundorientierung als Ort für Peergroup-Erlebnisse und eine Wertevermittlung durch gemeinsame Erfahrungen wird somit drastisch eingeschränkt. Humanistische Bildung bedeutete für uns vor allem Lernen mit Kopf, Hand und Herz – in der Gruppe und zusammen, draußen in der Natur und im sozialen Miteinander. Das wird uns nun mehr denn je, durch das Fehlen eben dieser selbstbestimmten Räume, schmerzlich bewusst. Kontaktbeschränkungen und Reiseverbote haben unseren Verband und seine Mitglieder hart getroffen.
Doch wer wären wir, wenn wir nicht kreative Alternativen entwerfen und neue Wege gehen würden? Durch die kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen unseren engagierten Freiwilligen und unseren Bildungsreferent*innen ist es uns gelungen, nicht nur bereits bestehende Formate in digitale umzuwandeln, sondern sogar ganz neue Formate zu entwerfen. So konnten wir unser beliebtes Stop-Motion-Wochenende komplett digital durchführen, indem sich das Team den Umstand zunutze gemacht hat, dass nahezu alle Kinder und Jugendlichen mittlerweile über ein Smartphone oder Tablet verfügen. Über eine Stop-Motion-App, konnten jeweils individuelle Szenen, dann digital zu einem gemeinsamen Film zusammengebaut werden. Ohne, dass wir uns jemals live begegnet sind, haben wir mit zehn Jugendlichen zusammen einen Film gedreht: Eine Szene pro Jugendzimmer und am Ende stand der gemeinsame und kooperativ entwickelte Film.
Bei diesem Projekt haben wir erneut sehen können, wie anpassungsfähig junge Menschen auch im digitalen Raum sind. Hier herrscht zudem eine ganz andere Barrierefreiheit als im Analogen, da sich nun Jugendliche aus ganz Berlin sofort an einem Ort treffen können, ohne einen langen Fahrtweg in Kauf nehmen zu müssen. Auch wenn die analoge Arbeit natürlich noch immer die spaßigste und schönste Variante des sozialen Miteinanders ist, eröffnet der aktuelle digitale Kontext doch ganz neue und andere Arten, unseren Teilnehmenden eine angenehme Zeit zu ermöglichen.
Andererseits sind Teilnehmende ohne stabile Internetverbindung oder ein Smartphone von diesen Angeboten leider sofort komplett ausgeschlossen. Zwar kann Kindern und Jugendlichen hier außerschulische Bildungsarbeit dank Digitalisierung nahegebracht und digitale Kompetenzförderung ermöglicht werden, jedoch werden auf der anderen Seite soziale Kompetenzen oder sportliche/ körperliche Aktivitäten und Entwicklungen stark eingeschränkt. Gleichzeitig kommen mit der Digitalisierung der außerschulischen Bildung auch neue Gefahren der Ausgrenzung hinzu. Wenn wir eben jene Gefahren im Kopf behalten und uns damit auf die Möglichkeiten besinnen und die digitalen Tools reflektiert und kritisch zu nutzen, kann auch die Kinder- und Jugendarbeit in Zeiten der Digitalisierung ihre Rolle neu definieren.
Aaron liest nun ganz „oldschool“ E‑Mails – ein Schritt zu mehr intergenerationeller Verständigung, denn die Hauptamtlichen freut’s. Und auch die haben mittlerweile endlich (nach über einem Jahr der Pandemie) gelernt, was ein SharePic und wer ein Influencer ist und empfinden nicht mehr alles als „Verblödung“, was in den digitalen Medien so getrieben wird. Die „Alten“ können sich nun nicht mehr aus dem „Neuland“ der digitalen Welt heraushalten!
Schließlich aber, darauf verweist nicht zuletzt die humanistische Bildung, sind wir alle soziale Wesen und brauchen auch den direkten sozialen Kontakt, um unser gesamtes Potenzial gemeinsam entfalten zu können. Daher sollte uns allen klar sein, dass der gemeinsame Raum, unsere humanistischen Werte und unser gelebtes Miteinander der Kern unserer Jugendverbandsarbeit sind. Dieser kann auch digital ergänzt werden. Als Brücke oder als Verbindungsweg am Übergang zum realen Wiedersehen in der außerschulischen Bildung. Wirklich ganzheitlich jedoch, im Sinne der historischen Tradition der Jugendbewegungen, aus denen auch die freidenkerisch-humanistische Jugendverbandsarbeit entstanden ist, ist sie nur in live und zusammen, sowie draußen, in der Natur.
Humanistische Jugendverbandarbeit funktioniert auch digital. Richtig Spaß jedoch macht sie eben live.