Zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen gehört meine Beschneidung. Ich war etwa drei Jahre alt, als bei mir eine Phimose, eine Vorhautverengung, diagnostiziert wurde. Das hieß damals: Vorhaut ab. Seitdem bin ich beschnitten. Eine Sache, die mich zeitlebens beschäftigt hat. Öffentlich geredet habe ich darüber jedoch nie, obwohl ich niemals glücklich mit diesem ungebetenen Eingriff war. Dies war so, bis mich das „Kölner Beschneidungsurteil“ aufhorchen ließ. War doch die Jungenbeschneidung, anders als z.B. in den USA, hierzulande kein großes Thema. Sie galt als kleiner, harmloser Eingriff, der nicht im Entferntesten mit der im öffentlichen Bewusstsein seit einigen Jahren (zu Recht) als grausames Ritual geächteten Genitalverstümmelung von Mädchen verglichen werden könne. Für Juden und Muslime gilt sie zudem als zentrales Element ihrer religiösen Praxis.
Nun hatte ein deutsches Gericht die Beschneidung erstmals als das eingestuft, was sie meiner Ansicht nach ist: eine nicht zu rechtfertigende Körperverletzung. Auf das Urteil folgte eine kurze, aber emotional geführte Debatte, denn gerade jüdische und muslimische Verbände sahen durch die Rechtsprechung Religionsfreiheit und elterliches Erziehungsrecht gefährdet. Im Ergebnis wurde ein Gesetz, § 1631d, ins Bürgerliche Gesetzbuch eingefügt, der die nichtmedizinische Beschneidung von Jungen ausdrücklich als elterliches Erziehungsrecht definierte. Dieses Gesetz sah sich allerdings von Anfang an heftiger Kritik ausgesetzt. So steht es aus kinderrechtlicher Perspektive in einem bemerkenswerten Gegensatz zum gesetzgeberischen Trend der letzten Jahrzehnte, Kinder als eigenständige Rechtspersonen und nicht als de-facto-Eigentum der Eltern zu begreifen.
Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens die medizinischen und ethischen Aspekte bei der Beurteilung der Beschneidung deutlich zu kurz kamen. Denn die Beschneidung ist auch bei Jungen keine Bagatelle. Mit der Vorhaut wird hochempfindsames, für die sexuelle Stimulation wichtiges Gewebe entfernt. Zudem wird die Eichel, eigentlich ein inneres Organ, dauerhaft freigelegt, was unweigerlich zu deren Keratinisierung und Desensibilisierung führt. Viele Beschnittene berichten nicht zuletzt deswegen über massive physische und psychische Probleme, die sich negativ auf ihr Sexualleben auswirken.
Aber immerhin: Das „Beschneidungsurteil“ und die darauffolgende Debatte ermutigten auch viele betroffene Männer hierzulande, erstmals öffentlich über die Folgen ihrer Beschneidung zu reden. Mehr und mehr gingen an die Öffentlichkeit, unter Überwindung größter Hemmungen und Scham, um ihre Probleme damit zu thematisieren. Auch Mediziner, die sich intensiver mit der Materie befassten, meldeten sich zunehmend zu Wort. Dabei drang auch zunehmend ins öffentliche Bewusstsein, dass die Beschneidung, auch in Deutschland, kein Phänomen ist, dass in erster Linie religiöse Minderheiten wie Juden oder Muslime betrifft. Groben Schätzungen zufolge sind etwa 10–15 Prozent aller in Deutschland lebenden Jungen und Männer beschnitten. Wenn man bedenkt, dass nur ca. 5 Prozent der deutschen Bevölkerung Muslime und etwa 0,15 Prozent jüdischer Herkunft sind, wird deutlich, dass die Mehrheit der hierzulande Beschnittenen keinen religiösen Hintergrund hat, sondern aus „medizinischen Gründen“ beschnitten wurde.
Allerdings ist auch eine Beschneidung aus medizinischen Gründen nach heutigem medizinischen Stand nur in seltenen Fällen wirklich notwendig. Denn im Gegensatz zu früher vorherrschenden Auffassungen gilt eine Verengung der Vorhaut im Kindesalter nicht als pathologisch, sondern als physiologischer Normalzustand, der bis zum Ende der Pubertät bei ausbleibenden konkreten Beschwerden nicht behandlungsbedürftig ist. Die meisten „medizinisch“ beschnittenen Jungen sind Opfer überholter medizinischer Ansichten und eines Gesundheitssystems, dass Operationen begünstigt und konservative Behandlungsmethoden vernachlässigt.
Andererseits hat sich aber gerade in diesem Bereich in den letzten Jahren einiges bewegt. Die nicht nachlassende Debatte hat ein allmähliches Umdenken eingeleitet, das erste Früchte trägt. So setzt sich die neue Leitlinie „Phimose und Paraphimose bei Kindern und Jugendlichen“ (2021) der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie erstmals ausführlich mit der Funktion der Vorhaut für die Sexualität des Mannes sowie den physischen und psychischen bzw. psychosexuellen Folgen der Beschneidung auseinander und empfiehlt, wo immer möglich, eine vorhauterhaltende Behandlungsmethode. Insgesamt sind hier ermutigende Fortschritte zu verzeichnen, und es bleibt zu hoffen, dass dieser Trend anhält und Eltern und Mediziner für die langfristigen Folgen und Probleme, die eine Beschneidung für den Betroffenen mit sich bringen kann, sensibilisiert werden.