Suche
10 Jahre Kölner Beschneidungsurteil

Jungenbeschneidung: Elternrecht oder strafbare Körperverletzung?

| von
Skallpell Beschneidung Körperverletzung
Im Mai 2012 fällte das Landgericht Köln ein wegweisendes Urteil: Erstmals wurde die nicht-medizinisch indizierte Beschneidung von minderjährigen Jungen als strafbare Körperverletzung bewertet. Wie steht es zehn Jahre nach dem „Kölner Beschneidungsurteil“?

Zu mei­nen frü­hes­ten Kind­heits­er­in­ne­run­gen gehört mei­ne Beschnei­dung. Ich war etwa drei Jah­re alt, als bei mir eine Phi­mo­se, eine Vor­haut­ver­en­gung, dia­gnos­ti­ziert wur­de. Das hieß damals: Vor­haut ab. Seit­dem bin ich beschnit­ten. Eine Sache, die mich zeit­le­bens beschäf­tigt hat. Öffent­lich gere­det habe ich dar­über jedoch nie, obwohl ich nie­mals glück­lich mit die­sem unge­be­te­nen Ein­griff war. Dies war so, bis mich das „Köl­ner Beschnei­dungs­ur­teil“ auf­hor­chen ließ. War doch die Jun­gen­be­schnei­dung, anders als z.B. in den USA, hier­zu­lan­de kein gro­ßes The­ma. Sie galt als klei­ner, harm­lo­ser Ein­griff, der nicht im Ent­fern­tes­ten mit der im öffent­li­chen Bewusst­sein seit eini­gen Jah­ren (zu Recht) als grau­sa­mes Ritu­al geäch­te­ten Geni­tal­ver­stüm­me­lung von Mäd­chen ver­gli­chen wer­den kön­ne. Für Juden und Mus­li­me gilt sie zudem als zen­tra­les Ele­ment ihrer reli­giö­sen Pra­xis.

Nun hat­te ein deut­sches Gericht die Beschnei­dung erst­mals als das ein­ge­stuft, was sie mei­ner Ansicht nach ist: eine nicht zu recht­fer­ti­gen­de Kör­per­ver­let­zung. Auf das Urteil folg­te eine kur­ze, aber emo­tio­nal geführ­te Debat­te, denn gera­de jüdi­sche und mus­li­mi­sche Ver­bän­de sahen durch die Recht­spre­chung Reli­gi­ons­frei­heit und elter­li­ches Erzie­hungs­recht gefähr­det. Im Ergeb­nis wur­de ein Gesetz, § 1631d, ins Bür­ger­li­che Gesetz­buch ein­ge­fügt, der die nicht­me­di­zi­ni­sche Beschnei­dung von Jun­gen aus­drück­lich als elter­li­ches Erzie­hungs­recht defi­nier­te. Die­ses Gesetz sah sich aller­dings von Anfang an hef­ti­ger Kri­tik aus­ge­setzt. So steht es aus kin­der­recht­li­cher Per­spek­ti­ve in einem bemer­kens­wer­ten Gegen­satz zum gesetz­ge­be­ri­schen Trend der letz­ten Jahr­zehn­te, Kin­der als eigen­stän­di­ge Rechts­per­so­nen und nicht als de-fac­to-Eigen­tum der Eltern zu begrei­fen.

Ein wei­te­rer Kri­tik­punkt ist, dass im Rah­men des Gesetz­ge­bungs­ver­fah­rens die medi­zi­ni­schen und ethi­schen Aspek­te bei der Beur­tei­lung der Beschnei­dung deut­lich zu kurz kamen. Denn die Beschnei­dung ist auch bei Jun­gen kei­ne Baga­tel­le. Mit der Vor­haut wird hoch­emp­find­sa­mes, für die sexu­el­le Sti­mu­la­ti­on wich­ti­ges Gewe­be ent­fernt. Zudem wird die Eichel, eigent­lich ein inne­res Organ, dau­er­haft frei­ge­legt, was unwei­ger­lich zu deren Kera­ti­ni­sie­rung und Desen­si­bi­li­sie­rung führt. Vie­le Beschnit­te­ne berich­ten nicht zuletzt des­we­gen über mas­si­ve phy­si­sche und psy­chi­sche Pro­ble­me, die sich nega­tiv auf ihr Sexu­al­le­ben aus­wir­ken.

Aber immer­hin: Das „Beschnei­dungs­ur­teil“ und die dar­auf­fol­gen­de Debat­te ermu­tig­ten auch vie­le betrof­fe­ne Män­ner hier­zu­lan­de, erst­mals öffent­lich über die Fol­gen ihrer Beschnei­dung zu reden. Mehr und mehr gin­gen an die Öffent­lich­keit, unter Über­win­dung größ­ter Hem­mun­gen und Scham, um ihre Pro­ble­me damit zu the­ma­ti­sie­ren. Auch Medi­zi­ner, die sich inten­si­ver mit der Mate­rie befass­ten, mel­de­ten sich zuneh­mend zu Wort. Dabei drang auch zuneh­mend ins öffent­li­che Bewusst­sein, dass die Beschnei­dung, auch in Deutsch­land, kein Phä­no­men ist, dass in ers­ter Linie reli­giö­se Min­der­hei­ten wie Juden oder Mus­li­me betrifft. Gro­ben Schät­zun­gen zufol­ge sind etwa 10–15 Pro­zent aller in Deutsch­land leben­den Jun­gen und Män­ner beschnit­ten. Wenn man bedenkt, dass nur ca. 5 Pro­zent der deut­schen Bevöl­ke­rung Mus­li­me und etwa 0,15 Pro­zent jüdi­scher Her­kunft sind, wird deut­lich, dass die Mehr­heit der hier­zu­lan­de Beschnit­te­nen kei­nen reli­giö­sen Hin­ter­grund hat, son­dern aus „medi­zi­ni­schen Grün­den“ beschnit­ten wur­de.

Aller­dings ist auch eine Beschnei­dung aus medi­zi­ni­schen Grün­den nach heu­ti­gem medi­zi­ni­schen Stand nur in sel­te­nen Fäl­len wirk­lich not­wen­dig. Denn im Gegen­satz zu frü­her vor­herr­schen­den Auf­fas­sun­gen gilt eine Ver­en­gung der Vor­haut im Kin­des­al­ter nicht als patho­lo­gisch, son­dern als phy­sio­lo­gi­scher Nor­mal­zu­stand, der bis zum Ende der Puber­tät bei aus­blei­ben­den kon­kre­ten Beschwer­den nicht behand­lungs­be­dürf­tig ist. Die meis­ten „medi­zi­nisch“ beschnit­te­nen Jun­gen sind Opfer über­hol­ter medi­zi­ni­scher Ansich­ten und eines Gesund­heits­sys­tems, dass Ope­ra­tio­nen begüns­tigt und kon­ser­va­ti­ve Behand­lungs­me­tho­den ver­nach­läs­sigt.

Ande­rer­seits hat sich aber gera­de in die­sem Bereich in den letz­ten Jah­ren eini­ges bewegt. Die nicht nach­las­sen­de Debat­te hat ein all­mäh­li­ches Umden­ken ein­ge­lei­tet, das ers­te Früch­te trägt. So setzt sich die neue Leit­li­nie „Phi­mo­se und Para­phi­mo­se bei Kin­dern und Jugend­li­chen“ (2021) der Deut­schen Gesell­schaft für Kin­der­chir­ur­gie erst­mals aus­führ­lich mit der Funk­ti­on der Vor­haut für die Sexua­li­tät des Man­nes sowie den phy­si­schen und psy­chi­schen bzw. psy­cho­sexu­el­len Fol­gen der Beschnei­dung aus­ein­an­der und emp­fiehlt, wo immer mög­lich, eine vor­hau­ter­hal­ten­de Behand­lungs­me­tho­de. Ins­ge­samt sind hier ermu­ti­gen­de Fort­schrit­te zu ver­zeich­nen, und es bleibt zu hof­fen, dass die­ser Trend anhält und Eltern und Medi­zi­ner für die lang­fris­ti­gen Fol­gen und Pro­ble­me, die eine Beschnei­dung für den Betrof­fe­nen mit sich brin­gen kann, sen­si­bi­li­siert wer­den.

Inhalt teilen

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Meistgelesen

Ähnliche Beiträge

Freitagssalon_Humanismus-Naturalismus
Humanistischer Freitagssalon
Humanismus und Naturalismus am 27. September mit Julian Nida-Rümelin
Am Freitag, 27. September, um 18 Uhr spricht der Philosoph Julian Nida-Rümelin zum Thema Humanismus und Naturalismus. Der digitale Humanistische Freitagssalon steht allen Interessierten offen. Herzlich willkommen!
Beitrag lesen »
Menschenrechte
Zur deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik
Menschenrechte gelten nicht nur ab und zu!
Die bürgerlichen Parteien konnten einmal Demokratie. Jetzt laufen sie Gefahr, ihren Anspruch zu verlieren. Sie sollten die Menschenrechte noch einmal studieren. Menschenrechte gelten nicht nur ab und zu! Und die Menschenrechte gelten für alle! Man kann sich nicht aussuchen, für wen sie gelten sollen.
Beitrag lesen »
Jamel
Jamel rockt den Förster
Humanist*innen rocken gegen Rechts
Die diesjährige Ausgabe des Festivals „Jamel rockt den Förster“ hat am 30. und 31. August stattgefunden. Auch der Humanistische Verband Berlin-Brandenburg war mit einem Infostand dabei.
Beitrag lesen »
rasa-kasparaviciene-cASFKmMkJ6E-unsplash
Manfred Isemeyer im Gespräch
Das Gedächtnis der humanistischen Bewegung
Seit Oktober 2018 arbeitet der Historische Arbeitskreis (HAK), der auf Wunsch von Präsidium und Vorstand des Humanistischen Verbandes Berlin-Brandenburg ins Leben gerufen wurde. Manfred Isemeyer koordiniert den HAK und erläutert, warum die Frage nach den Wurzeln für ihn persönlich sowie für den Verband wichtig ist. 
Beitrag lesen »
Nach oben scrollen