Suche
Sinnstiftung durch Erfühlen

Kurt Vonnegut: Poesie des Lebens

| von
Kurt Vonnegut Graffito Mural Schriftsteller Autor
Kurt Vonnegut Mural, Indianapolis, Indiana

Beitragsbild: Davitydave | CC BY 2.0 Generic

Humanistische Bildung meint vor allem Persönlichkeitsentwicklung. Kurt Vonnegut vermochte es, durch das Erfühlen schöner Augenblicke den Wunsch zu wecken, andere und sich selbst zu inspirieren, seelisch zu wachsen.

„Wie vie­le von Ihnen hat­ten einen Leh­rer, der Sie glück­li­cher machen konn­te, als Sie es zuvor gewe­sen sind, und stol­zer, am Leben zu sein?”, frag­te Kurt Von­ne­gut nach vie­len sei­ner Vor­trä­ge. Zuvor hat­te der US-ame­ri­ka­ni­sche Schrift­stel­ler meist von sei­nem Onkel Alex Von­ne­gut gespro­chen, der sich stets dar­um bemüh­te, beson­ders schö­ne Momen­te im All­tag her­vor­zu­he­ben. „Und wenn Sie jetzt bit­te jeman­dem, der neben Ihnen sitzt, von die­sem Leh­rer erzäh­len wür­den”, fuhr Von­ne­gut fort. Die Leu­te im Publi­kum began­gen dann, mit­ein­an­der zu spre­chen. Sie spra­chen dabei nicht über irgend­et­was, son­dern über einen erhe­ben­den Augen­blick, den sie bewusst aus­ge­wählt hat­ten, um gleich­sam wie­der ande­re Men­schen zu inspi­rie­ren. Nach­dem dies im Publi­kum eine Wei­le von­stat­ten­ge­gan­gen war, unter­brach Von­ne­gut die Sze­ne, um wie sein Onkel Alex dar­auf hin­zu­wei­sen: „Wenn das jetzt kein schö­ner Moment ist …!”

In sei­nem bekann­tes­ten Werk „Slaugh­ter­house-Five” (Schlacht­hof 5) greift Von­ne­gut die­sen Gedan­ken zu Beginn des fünf­ten Kapi­tels auf. Sein post­mo­der­ner Anti­kriegs­ro­man gehört vie­ler­orts in den USA für Schü­le­rin­nen und Schü­ler zur Pflicht­lek­tü­re. Das Buch han­delt unter ande­rem von dem Luft­an­griff auf Dres­den, den Von­ne­gut als Kriegs­ge­fan­ge­ner im Kel­ler eines Schlacht­hofs über­lebt hat. An ande­rer Stel­le lässt er sei­ne Haupt­fi­gur Bil­ly Pil­grim von Außer­ir­di­schen ent­füh­ren, denen sol­che Tief­punk­te der mensch­li­chen Exis­tenz völ­lig unbe­kannt sind, weil sie die Zeit ganz anders wahr­neh­men. Anders als die Men­schen erle­ben die Tral­fa­ma­do­ria­ner kei­ne linea­re Geschich­te. Zwar gibt es auch bei ihnen Beschrei­bun­gen von Augen­bli­cken, die sie als Bot­schaf­ten von Sze­nen und Situa­tio­nen ver­ste­hen. Sie erschei­nen aber nicht als Abfol­ge, son­dern gleich­zei­tig. Genau­so sieht es in der tral­fa­ma­do­ria­ni­schen Lite­ra­tur aus. Hier besteht die ein­zi­ge Bezie­hung zwi­schen all den Bot­schaf­ten dar­in, dass sie vom Autor sorg­fäl­tig aus­ge­wählt wur­den. So ent­steht ein „Gesamt­bild, das schön ist, über­ra­schend und tief.” – Das ist der Grund, war­um Kurt Von­ne­gut wie sein Onkel Alex dazu ermu­tigt hat, sich die schö­nen Momen­te des Lebens bewusst zu machen. In der Ver­dich­tung all die­ser schö­nen Augen­bli­cke wird dann jene Poe­sie des Lebens geschrie­ben, die uns glück­li­cher macht und stol­zer, am Leben zu sein.

Doch lei­der sieht es im Leben wie in der Lite­ra­tur oft anders aus. Wir sind einem stän­di­gen Auf und Ab unter­wor­fen. Tri­via­le Geschich­ten tra­gen uns durch den Tag wie in moder­nen Strea­ming-Seri­en oder Sei­fen­opern, die wir staf­fel­wei­se zu schau­en gewohnt sind. Auch hier kann man erle­ben, wie die Figu­ren immer wie­der auf­stei­gen und fal­len. Dabei schlep­pen sie meist unauf­ge­lös­te Schlüs­sel­er­eig­nis­se aus ihrer Ver­gan­gen­heit mit sich her­um, die sie in einer bestimm­ten Wei­se zum Han­deln trei­ben, oder sie ver­fol­gen Plä­ne, um zukünf­ti­ge Zie­le zu errei­chen, die dann von Schwie­rig­kei­ten bedroht wer­den. Inner­halb die­ser Gren­zen ent­steht die Dimen­si­on für ihren Auf­stieg und für ihren Fall. Es ist ein Leben im Erwart­ba­ren, das sich zwi­schen Zukunfts­angst und Nost­al­gie abspielt. Wirk­lich gegen­wär­tig sind sie nie. „Die meis­ten Men­schen”, sag­te Kurt Von­ne­gut, „ver­pas­sen die Augen­bli­cke, in denen sie wirk­lich glück­lich sind.” Statt­des­sen sind sie umher­ge­wor­fen zwi­schen den Hoch- und Tief­punk­ten eines Lebens, das um sei­ner linea­ren Geschich­te wil­len auch noch unglaub­lich fra­gil und zer­brech­lich wird. „So it goes”, kom­men­tiert Kurt Von­ne­gut in sei­nem Buch das Ster­ben jedes ein­zel­nen Sol­da­ten, den Tod von Bil­lys Frau und dann den Zwei­ten Welt­krieg mit einem Vogel­ge­zwit­scher: ‚Poo-tee-weet?’

Bild: WNET-TV/ PBS | Public Domain Mark 1.0

Kurt Von­ne­gut (1922 – 2007) stammt aus India­na­po­lis. Nach dem Abbruch eines Bio­che­mie­stu­di­ums mel­de­te er sich zur Armee. Als 22-Jäh­ri­ger mach­te er im Zwei­ten Welt­krieg exis­ten­zi­el­le Erfah­run­gen. Mit sei­nem Roman „Slaugh­ter­house-Five” schuf er eines der wich­tigs­ten Wer­ke der eng­lisch­spra­chi­gen Lite­ra­tur, das bis heu­te trau­ma­ti­sier­ten Kriegs­teil­neh­mern aus der See­le spricht. 1992 wur­de Von­ne­gut zum Ehren­prä­si­den­ten der Ame­ri­can Huma­nist Asso­cia­ti­on ernannt. Er schuf 14 Roma­ne, über 100 Kurz­ge­schich­ten und vor allem Brie­fe und Reden, von denen vie­le an die gan­ze Mensch­heit gerich­tet waren.

Es gibt kein ‚Warum’

Nach­dem Kurt Von­ne­gut den Bom­ben­an­griff auf Dres­den im Kel­ler eines Schlacht­hau­ses über­lebt hat­te, wur­de er in einem Arbeits­kom­man­do ein­ge­setzt, das die Kör­per erstick­ter und ver­brann­ter Dres­de­ner zu Tau­sen­den aus ihren teils ein­ge­stürz­ten Kel­lern hol­te. „Corp­se mining” (Lei­chen schür­fen) nann­ten die ame­ri­ka­ni­schen und bri­ti­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen ihre Arbeit unter Tage. Im Roman wird die­se Tätig­keit von Bil­ly Pil­grim über­nom­men, der wenig spä­ter in die USA zurück­kehrt, wo er hei­ra­tet und ein ’nor­ma­les’ Leben zu füh­ren beginnt. Natür­lich könn­te der Kon­trast zwi­schen bei­den Erleb­nis­wel­ten kaum grö­ßer sein. Wo liegt da die Ver­bin­dung? Wo ist da der Sinn? 

Wir sind es gewohnt, ein Kon­strukt aus Ursa­che und Wir­kung her­an­zu­zie­hen, um die Fra­ge nach dem War­um zu beant­wor­ten. Wahl­wei­se beru­fen wir uns auf Gott oder auf plau­si­ble­re Erklä­rungs­mo­del­le, um Grün­de dar­zu­le­gen. Dabei ist es der Auf­bau unse­rer Spra­che und ihr Ver­hält­nis zur Zeit, das uns in den Schran­ken einer linea­ren Wahr­neh­mungs­welt gefan­gen hält. Aus die­sem Grund legt Kurt Von­ne­gut den Tral­fa­ma­do­ria­nern eine Lite­ra­tur­theo­rie in den Mund, die jene Poe­sie des Lebens beschreibt, an deren Ver­wirk­li­chung ihm auch im All­tag gele­gen ist: „Da ist kein Anfang, kei­ne Mit­te, kein Ende, kei­ne Unge­wiss­heit, kei­ne Moral, kei­ne Ursa­che, kei­ne Wir­kung. Was wir in unse­ren Büchern lie­ben, ist die Tie­fe vie­ler her­aus­ra­gen­der Momen­te, die alle gleich­zei­tig betrach­tet wer­den.”

Was Kurt Von­ne­gut beschreibt, ist die geleb­te Poe­sie, die in den größ­ten Wer­ken der irdi­schen Lite­ra­tur zum Aus­druck kommt. Sie ist die Ant­wort auf unser Fest­ste­cken in der Zeit. Die lite­ra­ri­schen Cha­rak­te­re, die exis­ten­zi­el­le Kri­sen erle­ben, tra­gen mit uns das Trau­ma des Lebens, das dort beginnt, wo jenes ein­heit­li­che Bild gesprengt wird, das wir als fort­lau­fen­de Kon­ti­nui­tät zu zeich­nen gelernt haben. Statt­des­sen fal­ten sie die Zeit auf und sto­ßen gera­de des­halb zum Kern des Mensch­seins vor. Der Jahr­tau­send­schrift­stel­ler Shake­speare hat das in sei­nem Ham­let zum Aus­druck gebracht. Noch bevor Ham­let am Grab von Ophe­lia den Schä­del Yoricks hebt, sieht er dar­in das Schick­sal aller Men­schen und die Absur­di­tät einer schritt­wei­se fort­ge­führ­ten Kon­ti­nui­tät. So sieht er Alex­an­der den Gro­ßen, zer­mah­len zu Staub, der heu­te als Lehm viel­leicht irgend­wo ein Bier­fass stopft. Andern­orts ent­larvt Ham­let die Sinn­lo­sig­keit des Krie­ges, wenn Sol­da­ten ange­lei­tet von den ambi­tio­nier­tes­ten Befeh­len ihrer Füh­rer um Eier­scha­len kämp­fen. Es ist absurd. Genau­so haben 13,5 Mil­li­ar­den Jah­re von Ursa­che und Wir­kung zur Zer­stö­rung Dres­dens geführt. Der Ein­zi­ge, dem das genützt habe, sei er, Kurt Von­ne­gut, sag­te der Autor ein­mal von sich selbst, da er nun mit Büchern dar­über und mit Vor­trä­gen Geld ver­die­ne. ‚Poo-tee-weet?’ 

Anders als die lite­ra­ri­sche Poe­sie, in der sich alle außer­ge­wöhn­li­chen Momen­te zur ästhe­ti­schen Sinn­stif­tung ver­dich­tet las­sen, bedarf die Poe­sie des All­tags einer Aus­wahl, die sich auf die lebens­wer­ten Augen­bli­cke stützt. Ein sol­cher Moment lag für Kurt Von­ne­gut in einem Glas Limo­na­de, das er mit sei­nem Onkel Alex trank und das er zu der ein­gangs erwähn­ten Poe­sie eines erhe­ben­den Mit­ein­an­ders auf­zu­fal­ten ver­moch­te. – Alle Poe­sie öff­net uns die Sin­ne. Sie schafft Ver­bin­dun­gen zur Welt und zu den Men­schen, die uns in unse­rer linea­ren Exis­tenz viel zu leicht ver­lo­ren gehen. Erst aus die­ser Tie­fe des Seins her­aus stif­ten wir einen Sinn, der uns trotz aller Erschüt­te­run­gen hilft, etwas Lebens­wer­tes im Leben zu bewah­ren, um es mit ande­ren zu tei­len und gemein­sam dar­an zu wach­sen.

Inhalt teilen

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Ähnliche Beiträge

Ein persönlicher Nachruf

Die ehemalige Vorstandsvorsitzende der Humanisten Baden-Württemberg, ...

Nach oben scrollen