„Wie viele von Ihnen hatten einen Lehrer, der Sie glücklicher machen konnte, als Sie es zuvor gewesen sind, und stolzer, am Leben zu sein?”, fragte Kurt Vonnegut nach vielen seiner Vorträge. Zuvor hatte der US-amerikanische Schriftsteller meist von seinem Onkel Alex Vonnegut gesprochen, der sich stets darum bemühte, besonders schöne Momente im Alltag hervorzuheben. „Und wenn Sie jetzt bitte jemandem, der neben Ihnen sitzt, von diesem Lehrer erzählen würden”, fuhr Vonnegut fort. Die Leute im Publikum begangen dann, miteinander zu sprechen. Sie sprachen dabei nicht über irgendetwas, sondern über einen erhebenden Augenblick, den sie bewusst ausgewählt hatten, um gleichsam wieder andere Menschen zu inspirieren. Nachdem dies im Publikum eine Weile vonstattengegangen war, unterbrach Vonnegut die Szene, um wie sein Onkel Alex darauf hinzuweisen: „Wenn das jetzt kein schöner Moment ist …!”
In seinem bekanntesten Werk „Slaughterhouse-Five” (Schlachthof 5) greift Vonnegut diesen Gedanken zu Beginn des fünften Kapitels auf. Sein postmoderner Antikriegsroman gehört vielerorts in den USA für Schülerinnen und Schüler zur Pflichtlektüre. Das Buch handelt unter anderem von dem Luftangriff auf Dresden, den Vonnegut als Kriegsgefangener im Keller eines Schlachthofs überlebt hat. An anderer Stelle lässt er seine Hauptfigur Billy Pilgrim von Außerirdischen entführen, denen solche Tiefpunkte der menschlichen Existenz völlig unbekannt sind, weil sie die Zeit ganz anders wahrnehmen. Anders als die Menschen erleben die Tralfamadorianer keine lineare Geschichte. Zwar gibt es auch bei ihnen Beschreibungen von Augenblicken, die sie als Botschaften von Szenen und Situationen verstehen. Sie erscheinen aber nicht als Abfolge, sondern gleichzeitig. Genauso sieht es in der tralfamadorianischen Literatur aus. Hier besteht die einzige Beziehung zwischen all den Botschaften darin, dass sie vom Autor sorgfältig ausgewählt wurden. So entsteht ein „Gesamtbild, das schön ist, überraschend und tief.” – Das ist der Grund, warum Kurt Vonnegut wie sein Onkel Alex dazu ermutigt hat, sich die schönen Momente des Lebens bewusst zu machen. In der Verdichtung all dieser schönen Augenblicke wird dann jene Poesie des Lebens geschrieben, die uns glücklicher macht und stolzer, am Leben zu sein.
Doch leider sieht es im Leben wie in der Literatur oft anders aus. Wir sind einem ständigen Auf und Ab unterworfen. Triviale Geschichten tragen uns durch den Tag wie in modernen Streaming-Serien oder Seifenopern, die wir staffelweise zu schauen gewohnt sind. Auch hier kann man erleben, wie die Figuren immer wieder aufsteigen und fallen. Dabei schleppen sie meist unaufgelöste Schlüsselereignisse aus ihrer Vergangenheit mit sich herum, die sie in einer bestimmten Weise zum Handeln treiben, oder sie verfolgen Pläne, um zukünftige Ziele zu erreichen, die dann von Schwierigkeiten bedroht werden. Innerhalb dieser Grenzen entsteht die Dimension für ihren Aufstieg und für ihren Fall. Es ist ein Leben im Erwartbaren, das sich zwischen Zukunftsangst und Nostalgie abspielt. Wirklich gegenwärtig sind sie nie. „Die meisten Menschen”, sagte Kurt Vonnegut, „verpassen die Augenblicke, in denen sie wirklich glücklich sind.” Stattdessen sind sie umhergeworfen zwischen den Hoch- und Tiefpunkten eines Lebens, das um seiner linearen Geschichte willen auch noch unglaublich fragil und zerbrechlich wird. – „So it goes”, kommentiert Kurt Vonnegut in seinem Buch das Sterben jedes einzelnen Soldaten, den Tod von Billys Frau und dann den Zweiten Weltkrieg mit einem Vogelgezwitscher: ‚Poo-tee-weet?’
Kurt Vonnegut (1922 – 2007) stammt aus Indianapolis. Nach dem Abbruch eines Biochemiestudiums meldete er sich zur Armee. Als 22-Jähriger machte er im Zweiten Weltkrieg existenzielle Erfahrungen. Mit seinem Roman „Slaughterhouse-Five” schuf er eines der wichtigsten Werke der englischsprachigen Literatur, das bis heute traumatisierten Kriegsteilnehmern aus der Seele spricht. 1992 wurde Vonnegut zum Ehrenpräsidenten der American Humanist Association ernannt. Er schuf 14 Romane, über 100 Kurzgeschichten und vor allem Briefe und Reden, von denen viele an die ganze Menschheit gerichtet waren.
Es gibt kein ‚Warum’
Nachdem Kurt Vonnegut den Bombenangriff auf Dresden im Keller eines Schlachthauses überlebt hatte, wurde er in einem Arbeitskommando eingesetzt, das die Körper erstickter und verbrannter Dresdener zu Tausenden aus ihren teils eingestürzten Kellern holte. „Corpse mining” (Leichen schürfen) nannten die amerikanischen und britischen Kriegsgefangenen ihre Arbeit unter Tage. Im Roman wird diese Tätigkeit von Billy Pilgrim übernommen, der wenig später in die USA zurückkehrt, wo er heiratet und ein ’normales’ Leben zu führen beginnt. Natürlich könnte der Kontrast zwischen beiden Erlebniswelten kaum größer sein. Wo liegt da die Verbindung? Wo ist da der Sinn?
Wir sind es gewohnt, ein Konstrukt aus Ursache und Wirkung heranzuziehen, um die Frage nach dem Warum zu beantworten. Wahlweise berufen wir uns auf Gott oder auf plausiblere Erklärungsmodelle, um Gründe darzulegen. Dabei ist es der Aufbau unserer Sprache und ihr Verhältnis zur Zeit, das uns in den Schranken einer linearen Wahrnehmungswelt gefangen hält. Aus diesem Grund legt Kurt Vonnegut den Tralfamadorianern eine Literaturtheorie in den Mund, die jene Poesie des Lebens beschreibt, an deren Verwirklichung ihm auch im Alltag gelegen ist: „Da ist kein Anfang, keine Mitte, kein Ende, keine Ungewissheit, keine Moral, keine Ursache, keine Wirkung. Was wir in unseren Büchern lieben, ist die Tiefe vieler herausragender Momente, die alle gleichzeitig betrachtet werden.”
Was Kurt Vonnegut beschreibt, ist die gelebte Poesie, die in den größten Werken der irdischen Literatur zum Ausdruck kommt. Sie ist die Antwort auf unser Feststecken in der Zeit. Die literarischen Charaktere, die existenzielle Krisen erleben, tragen mit uns das Trauma des Lebens, das dort beginnt, wo jenes einheitliche Bild gesprengt wird, das wir als fortlaufende Kontinuität zu zeichnen gelernt haben. Stattdessen falten sie die Zeit auf und stoßen gerade deshalb zum Kern des Menschseins vor. Der Jahrtausendschriftsteller Shakespeare hat das in seinem Hamlet zum Ausdruck gebracht. Noch bevor Hamlet am Grab von Ophelia den Schädel Yoricks hebt, sieht er darin das Schicksal aller Menschen und die Absurdität einer schrittweise fortgeführten Kontinuität. So sieht er Alexander den Großen, zermahlen zu Staub, der heute als Lehm vielleicht irgendwo ein Bierfass stopft. Andernorts entlarvt Hamlet die Sinnlosigkeit des Krieges, wenn Soldaten angeleitet von den ambitioniertesten Befehlen ihrer Führer um Eierschalen kämpfen. Es ist absurd. Genauso haben 13,5 Milliarden Jahre von Ursache und Wirkung zur Zerstörung Dresdens geführt. Der Einzige, dem das genützt habe, sei er, Kurt Vonnegut, sagte der Autor einmal von sich selbst, da er nun mit Büchern darüber und mit Vorträgen Geld verdiene. ‚Poo-tee-weet?’
Anders als die literarische Poesie, in der sich alle außergewöhnlichen Momente zur ästhetischen Sinnstiftung verdichtet lassen, bedarf die Poesie des Alltags einer Auswahl, die sich auf die lebenswerten Augenblicke stützt. Ein solcher Moment lag für Kurt Vonnegut in einem Glas Limonade, das er mit seinem Onkel Alex trank und das er zu der eingangs erwähnten Poesie eines erhebenden Miteinanders aufzufalten vermochte. – Alle Poesie öffnet uns die Sinne. Sie schafft Verbindungen zur Welt und zu den Menschen, die uns in unserer linearen Existenz viel zu leicht verloren gehen. Erst aus dieser Tiefe des Seins heraus stiften wir einen Sinn, der uns trotz aller Erschütterungen hilft, etwas Lebenswertes im Leben zu bewahren, um es mit anderen zu teilen und gemeinsam daran zu wachsen.