„Religion ist eine Beleidigung der Menschenwürde. Mit oder ohne sie gäbe es gute Menschen, die Gutes tun, und böse Menschen, die Böses tun. Damit aber gute Menschen Böses tun, dazu bedarf es der Religion.“ Diese Aussage stammt von dem Astrophysiker und Nobelpreisträger Steven Weinberg. Human Mirrafati zitiert ihn in seinem Buch Verlorene Sterne, in dem er unter Pseudonym auch die Geschichte seiner Flucht schildert. Diese Geschichte beginnt mit den politischen Ereignissen im Februar 1979. Damals hatte Ajatollah Khomeini im Iran die Islamische Revolution ausgerufen – eine gegenaufklärerische Bewegung, die als Emanzipation von der herrschenden Schah-Monarchie angepriesen wurde. Als Khomeini am 1. April die Islamische Republik Iran ausrief, zog dies vor allem jedoch die Abschaffung von Bürger- und Frauenrechten nach sich. Die Mitglieder der Schah-Regierung wurden hingerichtet. Statt eines Monarchen herrschte nun die islamische Geistlichkeit mit Khomeini als charismatisch-religiösem Führer. Es galt das Gesetz der Scharia und die Eroberung aller nicht-muslimischen Länder im Namen des Dschihad.
Im Streit um Öl und Grenzverläufe versuchte Khomeini seine Islamische Revolution auch in den Irak zu tragen. Er forderte die im Irak lebenden Anhänger des schiitischen Islam dazu auf, sich gegen die dortigen Sunniten zu erheben. Der Irak unter Saddam Hussein (ein Sunnit) antwortete im September 1980 mit Luftschlägen und mit einem Truppeneinmarsch in den Iran. Der erste Golfkrieg begann. Zwar waren die Iraker waffentechnisch überlegen; sie rechneten mit einem schnellen Sieg, doch der islamisierte Iran schickte zehntausende Jugendliche ins Feld. Sie stammten meist aus bildungsfernen und armen Familien, was es dem religiösen Regime leicht machte, die Kinder zu indoktrinieren. Den Acht- bis Zehntklässlern wurden kleine Spielzeugschlüssel aus Plastik umgehängt, die man zu Hunderttausenden aus Taiwan importierte. Man sagte den Jungen, dass sich damit das Tor zum Paradies öffnen ließe. Derart im Glauben gerüstet, liefen sie dann als menschliche Wellen vor den iranischen Truppen in die Schlacht. Die Schuljungen fingen Geschosse mit ihren Leibern ab. Hauptsächlich sollten sie aber mit ihren Körpern Landminen zum Explodieren bringen. Dabei trugen sie Stirnbänder mit der Aufschrift „Allahu Akbar“ – Gott ist der Größte.
Auch aufgrund dieser Kriegsstrategie drängte der Iran die irakischen Angreifer immer weiter zurück. 1982 stellte sich aufgrund der Erfolge im Iran eine regelrechte Kriegsbegeisterung ein. Im Zuge dessen meldete sich auch der 21-jährige Mirrafati, der damals noch Asgar mit Vornamen hieß, zur Reservearmee. Weil er eine höhere Schulbildung genoss, stand er außerhalb jener Zielgruppe, die für den Märtyrertod infrage kam. Jungen, die das Gymnasium besuchten, blieben überhaupt bis zu ihrem Abitur von der zweijährigen Grundwehrpflicht befreit, die im aktuellen Kriegszustand noch um sechs Monate an der Front verlängert war. Vor dem unmittelbaren Abmarsch in die Kampfzone sorgten die Schrecken des Krieges jedoch bei vielen Soldaten für Ernüchterung. Human Mirrafati berichtet, wie sich Kameraden mit Waschmittel vergifteten oder sich in die Beine schossen, um dem drohenden Kampfeinsatz zu entgehen. Es war während dieser letzten Wochen seines Frontdienstes im Jahr 1985, als Human Mirrafatis Einheit vernichtend geschlagen wurde. Verwundete Iraner wurden von den irakischen Soldaten an Ort und Stelle erschossen. Er selbst geriet in Kriegsgefangenschaft.
Fünf Jahre brachte Human Mirrafati daraufhin in irakischen Gefangenenlagern zu. Er wurde mit Elektroschocks gefoltert. In seinem Gefängnisblock gab es neun Toiletten für 500 Gefangene. Das Brot, das es zu essen gab, schmeckte nach Diesel. Gerade in den Anfangsmonaten der Gefangenschaft gehörten Folterexzesse der Wärter zum Alltag. Mit Kabeln und Eisenstangen wurde Mirrafati einmal bis zur Bewusstlosigkeit geprügelt. Er war wie alle seine Kameraden islamisch sozialisiert, kehrte aber während seiner Gefangenschaft allen religiösen Glaubensvorstellungen den Rücken und änderte seinen Vornamen in den persischen Namen Human. Diesen kannte er aus einer altpersischen Märchengeschichte, wo er eine Pflanze bezeichnet, die Unsterblichkeit verspricht. Doch in der Kriegsgefangenensituation, in der sich Human Mirrafati befand, brachte ihm sein Namens- und Sinneswandel das genaue Gegenteil ein; denn durch sein Bekenntnis zum Atheismus geriet er nun auch bei streng religiösen Mitgefangenen in Verruf. Diese Islamisten unter den Gläubigen drohten damit, ihn nach der Freilassung bei den iranischen Behörden anzuzeigen. Auf Apostasie, was den Abfall vom Glauben meint, steht noch heute die Todesstrafe im Iran. So wurde Human Mirrafati erneut gefoltert, diesmal jedoch in seinem Heimatland, für das er als Soldat gekämpft und für das er insgesamt fünf Jahre in Kriegsgefangenschaft gelitten hatte. Human Mirrafati weigerte sich, zum Glauben zurückzukehren. Darauf drohte ihm der Tod durch Steinigung. Weil ein Freund in der zuständigen Behörde seine Akte auf dem Weg nach Teheran aufhielt, gelang ihm 1992 die Flucht.
Human Mirrafati schaffte es nach Berlin. Dort wurde er im Zentrum für Folteropfer betreut. Er lernte Deutsch, schloss eine Ausbildung zum Tischler ab und gründete eine Familie, mit der er einige Jahre nach der Jahrtausendwende an den Berliner Stadtrand zog. Als im Jahr 2013 verstärkt Geflüchtete nach Deutschland kamen, formierte sich in seiner Nachbarschaft die Bürgerinitiative Willkommen in Falkensee. Im Juni 2015 hatte man Unterkünfte für 67 Neufalkenseer bezugsfertig gemacht. Im Zuge dessen begann auch Human Mirrafati sich zu engagieren. Er betätigte sich zunächst als Dolmetscher, half den Neuankömmlingen bei Arztbesuchen und bei Behördengängen. Zusammen mit einigen Angekommenen beschloss er dann, den Menschen in seiner Heimatstadt etwas zurückzugeben. So machte sich die Gruppe daran, das Tschahar-Schanbe-Suri-Fest zu organisieren – ein über 3.000 Jahre alter Brauch, der im Rahmen der persischen Neujahrsfeierlichkeiten Nouruz begangen wird. Immer zu Frühlingsanfang, und zwar am Abend zu Mittwoch vor der Tag- und Nachtgleiche (um den 20. März herum) werden die Feuer des Tschahar-Schanbe-Suri entzündet, über die man springt. Das ist nicht gefährlich. Die vier bis fünf Feuerstellen, die Human Mirrafati mit seinen Mitorganisatoren anlegt, sind klein und im Abstand von ein paar Metern aufgereiht. Während des Sprungs gibt man symbolisch alles Schlechte in die gelbe Farbe der Flammen ab, während die rote Farbe des Feuers dem Menschen neue Kraft spendet. Die gesamte Zeremonie geht auf die zoroastrische Religion zurück, ist aber dieser Tage verweltlicht. Das zeigt sich daran, dass es heute weltweit circa 200.000 Zoroastrier gibt; das Fest wird aber von mehr als 300 Millionen Menschen gefeiert – von Westindien bis zum Balkan.
Der Nouruz ist ein Fest, das „eine wichtige Rolle dabei spielt, die Bindungen zwischen den Völkern auf der Grundlage der gegenseitigen Achtung und der Ideale des Friedens und der guten Nachbarschaft zu stärken.“ So heißt es in der Begründung der UNESCO, die das persische Neujahrsfest im Jahr 2009 in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes aufgenommen hat. Dem Nouruz liegen die „alten Kulturbräuche der Zivilisationen in Ost und West zugrunde, die diese Zivilisationen durch den Austausch menschlicher Werte geprägt haben.“
Die Festzeit des Nouruz beginnt schon zwei Wochen vor dem Entzünden der Mittwochsfeuer. Während dieser Tage werden Beziehungen gepflegt. Man besucht selbst weit entfernte Freunde und Bekannte, schafft alte Streitigkeiten aus der Welt und versammelt die Familie. Der Nouruz ist ein Fest der Erneuerung. Es ist eine Bejahung des Lebens im Geiste des Frühlings. Das Bewusstsein darüber, dass wir alle an dieselben Kreisläufe der Natur gebunden sind, fördert eine uns innewohnende soziale Bindung zutage, die es zu erhalten und zu pflegen gilt wie die Natur selbst. Beim Nouruz geht es um eine „fürsorgliche und respektvolle Haltung gegenüber den natürlichen Quellen des Lebens“, stellt die UNESCO fest. Dies trifft den Geist, in dem wir heute mehr denn je zusammenfinden müssen. In Falkensee glückt das jedes Jahr. Über 300 Menschen, Alt- und Neufalkenseer nahmen am ersten Feuerfest teil. „Dabei waren es überwiegend Deutsche, die über die Feuer gesprungen sind“, sagt Human Mirrafati. Heute ist das Tschahar-Schanbe-Suri im Kulturkalender des Ortes fest eingetragen. Es verbindet die Menschen in ihrem Menschsein angesichts einer Natur, die uns dieses Leben mit den besten Wünschen füreinander überhaupt erst leben lässt.
Human Mirrafati wurde in seinem Heimatland Iran wegen „Abkehr vom Glauben” verfolgt. 1992 floh er nach Deutschland.