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Rezension

Graphic Novel über Schwangerschaftsabbruch: Ein ganz normales Ereignis

| von
Buchcover und Auszug "Andere Umstände" von Julia Zejn

Beitragsbild: Julia Zejn, avant-verlag.

Keine Frau entscheidet sich leichtfertig für einen Schwangerschaftsabbruch. Doch wie sieht das Leben einer jungen Frau aus, die ungeplant schwanger wird? Die Comicautorin und Illustratorin Julia Zejn zeigt dies in ihrer sehr empfehlenswerten Graphic Novel „Andere Umstände“.

Anja ist Ende 20. Gera­de hat sie ihr Sozio­lo­gie­stu­di­um abge­schlos­sen. Zwar fin­det sie eine Stel­le an der Uni, aber sie fragt sich, ob es das Rich­ti­ge für sie ist. In die­ser Lebens­si­tua­ti­on lernt sie Olli ken­nen. Olli ist DJ und vom Typ ganz anders als Anja: Er zwei­felt kaum am Leben, ist weni­ger struk­tu­riert und lebt in den Tag hin­ein. Sie ver­lie­ben sich inein­an­der und zie­hen zusam­men.

Zunächst geht es gar nicht um die Ent­schei­dung für einen Schwan­ger­schafts­ab­bruch. Zwar beginnt die Geschich­te auf den ers­ten Sei­ten unver­mit­telt mit einem posi­ti­ven Schwan­ger­schafts­test, springt dann aber zwei Jah­re zurück. In lang­sa­mem Tem­po wird Anjas Lebens­welt erzählt, das Ver­lie­ben, die Höhen und Tie­fen in Part­ner­schaft und Zusam­men­le­ben – und das all­mäh­li­che Ent­lie­ben. Die Erzäh­lung kehrt erst im letz­ten Drit­tel des Buches zu Anjas Schwan­ger­schaft zurück.

Anja wird nicht durch ihren Schwan­ger­schafts­ab­bruch defi­niert. Ihre unge­plan­te Schwan­ger­schaft und spä­ter auch der Abbruch erschei­nen als ein ganz nor­ma­ler, fast all­täg­li­cher Teil des Lebens. Ein wich­ti­ges Ereig­nis: ja. Eine bedeut­sa­me Ent­schei­dung: selbst­ver­ständ­lich. Aber kei­ne, die Anjas wei­te­res Leben bestim­men wird.

Auch Anja nimmt sich viel Zeit. Vor ihrer Ent­schei­dung führt sie Gesprä­che mit ihrem Part­ner, Freun­din­nen und befreun­de­ten Paa­ren, Men­schen mit und ohne Kin­dern. Deren Ant­wor­ten sind nicht immer erwart­bar und neh­men unter­schied­li­che Per­spek­ti­ven ein. Hier zeigt sich die auf­wen­di­ge Recher­che der Autorin, die vie­le Gesprä­che mit Betrof­fe­nen geführt hat.

Bild: Julia Zejn, Ande­re Umstän­de, S. 151

Die gesell­schaft­li­che Ebe­ne wird nicht aus­ge­schlos­sen. Die Ent­schei­dung steht in einem sozia­len Kon­text und hat Fol­gen für die Part­ner­schaft. Dabei ist kein Grund der ein­zig aus­schlag­ge­ben­de. Wir kön­nen ver­su­chen, die Grün­de zu erkun­den, aber sie kön­nen und müs­sen gar nicht kon­kret benannt wer­den: „Es fühlt sich nicht rich­tig an“, sagt Anja.

Im Lau­fe der Erzäh­lung wird eines immer deut­li­cher: Es gibt den Wunsch, selbst ent­schei­den zu dür­fen, aber auch die Not­wen­dig­keit, selbst eine Ent­schei­dung tref­fen zu müs­sen. Anja macht es sich nicht leicht. Der lan­ge Ent­schei­dungs­pro­zess ver­an­schau­licht, dass nie­mand einen sol­chen Ent­schluss leicht­fer­tig trifft. Die Ent­schei­dung ist rich­tig, weil Anja sie selbst trifft. Nie­mand ande­res könn­te für sie ent­schei­den.

Es ist kein idea­les Leben, das Julia Zejn dar­stellt, aber ein authen­ti­sches. Am Ran­de geht es um die Kli­ma­kri­se, um unsi­che­re Arbeits­be­din­gun­gen, um Pegi­da. Die Figu­ren ver­hal­ten sich nicht immer vor­bild­lich und mora­li­sie­ren nicht. Auf die­se Wei­se gelingt es, Empa­thie zu ent­wi­ckeln und sich in sie hin­ein­zu­ver­set­zen. Das Buch nimmt sowohl sei­ne Leser*innen als auch sei­ne Figu­ren ernst.

Am Schluss erzählt ein Epi­log, wie es Anja fünf Jah­re nach dem Schwan­ger­schafts­ab­bruch geht. Weder Schuld noch Trau­ma wer­den ihr Leben bestim­men. Dies zeigt auch die Dop­pel­be­deu­tung des Titels: Mit soge­nann­ten ande­ren Umstän­den ist im all­täg­li­chen Sprach­ge­brauch die Schwan­ger­schaft gemeint, aber sie kön­nen auch ein­fach eine ande­re Lebens­si­tua­ti­on bezeich­nen. Unter ande­ren Umstän­den möch­te Anja durch­aus Kin­der: „Nichts in mir sagt, dass ich gera­de Mut­ter wer­den will.“

Bild: Julia Zejn, Ande­re Umstän­de, S. 151

„Ande­re Umstän­de“ ist lei­se erzählt, fast zurück­hal­tend. Die mat­ten Farb­tö­ne unter­stüt­zen den unauf­dring­li­chen Erzähl­stil. Es gibt vie­le Dia­log­sze­nen, aber auch Bil­der, in denen nie­mand spricht. Es muss aber auch nicht gespro­chen wer­den, um das zu erzäh­len, was wich­tig ist. Die­se sanf­te und ruhi­ge Erzähl­wei­se steht in beein­dru­cken­dem Kon­trast zu den laut­star­ken Stim­men radi­ka­ler Gegner*innen von Schwan­ger­schafts­ab­brü­chen.

Die repro­duk­ti­ven Rech­te von Frau­en wer­den in Tei­len der Welt durch Geset­zes­ver­schär­fun­gen wei­ter ein­ge­schränkt. Auch in Deutsch­land sind Schwan­ger­schafts­ab­brü­che immer noch grund­sätz­lich straf­bar. Der Blick auf die aktu­el­len Ent­wick­lun­gen macht das Beson­de­re die­ser Gra­phic Novel deut­lich: Es gibt hier kei­ne Tabui­sie­rung oder mora­li­sche Ver­ur­tei­lung, son­dern es wird Ver­ständ­nis geschaf­fen für eine selbst­be­stimm­te Ent­schei­dung.

„Ande­re Umstän­de“ ist die zwei­te Gra­phic Novel der 1985 in Leip­zig gebo­re­nen Autorin und Illus­tra­to­rin Julia Zejn. Es ist kein Sach­co­mic, der etwa Fak­ten und Infor­ma­tio­nen zu den Metho­den eines Schwan­ger­schafts­ab­bruchs ver­mit­telt. Der Abbruch, für den sich Anja ent­schei­det, wird in der Gra­phic Novel nicht gezeigt. Auch gibt es viel Unaus­ge­spro­che­nes und Leer­stel­len, was die Lek­tü­re auch ästhe­tisch reiz­voll macht. Ein im bes­ten Sin­ne auf­klä­re­ri­sches Buch, des­sen Vor­zü­ge nicht in der Wis­sens­ver­mitt­lung lie­gen. Das Auf­klä­re­ri­sche sucht sich eine ande­re Form: die Form der Kunst.

Julia Zejn: Ande­re Umstän­de

Erschie­nen im avant-ver­lag, Ber­lin, 2021
200 Sei­ten, € 25
ISBN 978–3‑96445–064‑7

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