Anja ist Ende 20. Gerade hat sie ihr Soziologiestudium abgeschlossen. Zwar findet sie eine Stelle an der Uni, aber sie fragt sich, ob es das Richtige für sie ist. In dieser Lebenssituation lernt sie Olli kennen. Olli ist DJ und vom Typ ganz anders als Anja: Er zweifelt kaum am Leben, ist weniger strukturiert und lebt in den Tag hinein. Sie verlieben sich ineinander und ziehen zusammen.
Zunächst geht es gar nicht um die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch. Zwar beginnt die Geschichte auf den ersten Seiten unvermittelt mit einem positiven Schwangerschaftstest, springt dann aber zwei Jahre zurück. In langsamem Tempo wird Anjas Lebenswelt erzählt, das Verlieben, die Höhen und Tiefen in Partnerschaft und Zusammenleben – und das allmähliche Entlieben. Die Erzählung kehrt erst im letzten Drittel des Buches zu Anjas Schwangerschaft zurück.
Anja wird nicht durch ihren Schwangerschaftsabbruch definiert. Ihre ungeplante Schwangerschaft und später auch der Abbruch erscheinen als ein ganz normaler, fast alltäglicher Teil des Lebens. Ein wichtiges Ereignis: ja. Eine bedeutsame Entscheidung: selbstverständlich. Aber keine, die Anjas weiteres Leben bestimmen wird.
Auch Anja nimmt sich viel Zeit. Vor ihrer Entscheidung führt sie Gespräche mit ihrem Partner, Freundinnen und befreundeten Paaren, Menschen mit und ohne Kindern. Deren Antworten sind nicht immer erwartbar und nehmen unterschiedliche Perspektiven ein. Hier zeigt sich die aufwendige Recherche der Autorin, die viele Gespräche mit Betroffenen geführt hat.
Die gesellschaftliche Ebene wird nicht ausgeschlossen. Die Entscheidung steht in einem sozialen Kontext und hat Folgen für die Partnerschaft. Dabei ist kein Grund der einzig ausschlaggebende. Wir können versuchen, die Gründe zu erkunden, aber sie können und müssen gar nicht konkret benannt werden: „Es fühlt sich nicht richtig an“, sagt Anja.
Im Laufe der Erzählung wird eines immer deutlicher: Es gibt den Wunsch, selbst entscheiden zu dürfen, aber auch die Notwendigkeit, selbst eine Entscheidung treffen zu müssen. Anja macht es sich nicht leicht. Der lange Entscheidungsprozess veranschaulicht, dass niemand einen solchen Entschluss leichtfertig trifft. Die Entscheidung ist richtig, weil Anja sie selbst trifft. Niemand anderes könnte für sie entscheiden.
Es ist kein ideales Leben, das Julia Zejn darstellt, aber ein authentisches. Am Rande geht es um die Klimakrise, um unsichere Arbeitsbedingungen, um Pegida. Die Figuren verhalten sich nicht immer vorbildlich und moralisieren nicht. Auf diese Weise gelingt es, Empathie zu entwickeln und sich in sie hineinzuversetzen. Das Buch nimmt sowohl seine Leser*innen als auch seine Figuren ernst.
Am Schluss erzählt ein Epilog, wie es Anja fünf Jahre nach dem Schwangerschaftsabbruch geht. Weder Schuld noch Trauma werden ihr Leben bestimmen. Dies zeigt auch die Doppelbedeutung des Titels: Mit sogenannten anderen Umständen ist im alltäglichen Sprachgebrauch die Schwangerschaft gemeint, aber sie können auch einfach eine andere Lebenssituation bezeichnen. Unter anderen Umständen möchte Anja durchaus Kinder: „Nichts in mir sagt, dass ich gerade Mutter werden will.“
„Andere Umstände“ ist leise erzählt, fast zurückhaltend. Die matten Farbtöne unterstützen den unaufdringlichen Erzählstil. Es gibt viele Dialogszenen, aber auch Bilder, in denen niemand spricht. Es muss aber auch nicht gesprochen werden, um das zu erzählen, was wichtig ist. Diese sanfte und ruhige Erzählweise steht in beeindruckendem Kontrast zu den lautstarken Stimmen radikaler Gegner*innen von Schwangerschaftsabbrüchen.
Die reproduktiven Rechte von Frauen werden in Teilen der Welt durch Gesetzesverschärfungen weiter eingeschränkt. Auch in Deutschland sind Schwangerschaftsabbrüche immer noch grundsätzlich strafbar. Der Blick auf die aktuellen Entwicklungen macht das Besondere dieser Graphic Novel deutlich: Es gibt hier keine Tabuisierung oder moralische Verurteilung, sondern es wird Verständnis geschaffen für eine selbstbestimmte Entscheidung.
„Andere Umstände“ ist die zweite Graphic Novel der 1985 in Leipzig geborenen Autorin und Illustratorin Julia Zejn. Es ist kein Sachcomic, der etwa Fakten und Informationen zu den Methoden eines Schwangerschaftsabbruchs vermittelt. Der Abbruch, für den sich Anja entscheidet, wird in der Graphic Novel nicht gezeigt. Auch gibt es viel Unausgesprochenes und Leerstellen, was die Lektüre auch ästhetisch reizvoll macht. Ein im besten Sinne aufklärerisches Buch, dessen Vorzüge nicht in der Wissensvermittlung liegen. Das Aufklärerische sucht sich eine andere Form: die Form der Kunst.
Julia Zejn: Andere Umstände
Erschienen im avant-verlag, Berlin, 2021
200 Seiten, € 25
ISBN 978–3‑96445–064‑7